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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 531 / 19.9.2008

Aller Anfang ist ästhetisch

Jacques Rancière zeigt das Widerstandspotenzial der Kunst

Jacques Rancière stellt hier eine der schwierigsten Fragen überhaupt: Wie kann Kunst Widerstand sein bzw. wie kann das kritische Potenzial der Kunst im Politischen wirken? Am besten lässt sich sein Versuch einer Antwort mit einem Beispiel von Rancière selbst illustrieren, welches die filigrane Verwobenheit des Ästhetischen und Politischen im Werk des französischen Philosophen recht anschaulich beschreibt.

Die Emanzipation der Arbeiter im 19. Jahrhundert ereignete sich für ihn durch eine, zunächst ästhetische, Veränderung ihrer Identität. Ist ihre Existenz zunächst nur qualitativ bestimmt, da der Tag zum Arbeiten und die Nacht zur Regeneration der Arbeitskraft vorgesehen ist, so beginnt ihre Emanzipation mit dem Bruch dieser Ordnung. Rancière nennt diesen Prozess "Entidentifizierung". Indem der Arbeiter Tätigkeiten nachgeht, die ihm nach den Regeln der bestehenden Ordnung nicht zusteht, beginnt sich seine Identität zu erweitern und er ist zum ersten Mal mehr als nur ein fremdbestimmter Arbeiter, der nur lebt, um seine Arbeitskraft zu verkaufen. Dieser Bruch kann beispielsweise durch abendliches/nächtliches Lesen, Schreiben und Diskutieren geschehen. Dieser neue Artikulationsraum bringt den Arbeiter in eine Sphäre, die ihm eigentlich verschlossen und nur für privilegierte Gruppen vorgesehen ist. Und selbst wenn der Bürger den Arbeiter wieder in die für ihn vorgesehen Ordnung von Identität, Zeit und Raum schicken will, so kann er dies nicht mehr mühelos tun, da der Arbeiter jetzt an diesem Streit teilnehmen kann. Durch sein neues Wissen und seiner veränderten Vorstellung seiner Identität ist er nicht mehr Befehlsempfänger, sondern Diskussionsteilnehmer auf gleicher Augenhöhe mit dem Bürger.

Ästhetische Erfahrung ordnet das Politische neu

Weil dieser Prozess seine Wurzeln nicht im Politischen, sondern im Ästhetischen hat, ist Kunst für Rancière widerständig. Der Arbeiter beschränkt in diesem Beispiel seinen Körper nicht auf die ihm zugewiesenen Plätze und Zeiten und überwindet so eine der grundlegendsten Aufteilungen des Sinnlichen in seinem Leben. Die strukturierte Ordnung, also das, was an den zugeteilten Orten sichtbar und sagbar sein soll, wird um ein ehemals Unsichtbares und Unsagbares in dieser rigiden Ordnung erweitert. Die Gesetzmäßigkeit des Sichtbaren und Sagbaren können durch diese mögliche Anteilnahme des Arbeiters verhandelt werden und er kann diese Ordnung nun als Gleicher mitbestimmen. Politik ist für Rancière demzufolge immer die Unterbrechung der bestehenden Ordnung durch die ästhetische Infragestellung der jeweiligen Aufteilung des Sinnlichen. Ästhetische Erfahrung ordnet das Politische neu, da sie es als ihr Fundament begründet.

Die Neudefinition des Politischen ist - so Rancière - zunächst nur durch das Ästhetische möglich, da letzteres mehr Freiheit besitzt. Moderne Kunst hat die politische Utopie von Freiheit und Gleichheit bereits verwirklicht: Hier herrscht seit Kant absolute Gleichheit, weil jeder für sich selbst bestimmen kann, was Kunst ist. Das Wesen der Kunst kann nicht definiert, sondern nur in einem subjektiven Prozess ermittelt werden. Dies wiederum führt dazu, dass man über die Frage "Was ist Kunst?" auch nicht streiten, sondern sich nur in einem gleichberechtigten Dialog auseinander setzen kann. Dadurch nimmt das Ästhetische virtuell die politische Gemeinschaft der Gleichen vorweg. Sie ist der radikale Einbruch der Gleichheit in eine ungleiche Welt und zeigt die nötigen neuen sinnlichen Aufteilungen.

Das im Merve-Verlag erschiene Büchlein "Ist Kunst Widerständig?" beinhaltet neben dem Aufsatz, der dem Band seinen Titel gab, auch ein langes Interview mit Rancière über Ästhetik und Politik im Hinblick auf sein Gesamtwerk und ein einführendes Nachwort in die gleiche Thematik. Hier werden die Thesen von Rancières knappem Essay - dem ein Vortrag auf einem Symposium zum Thema "Nietzsche und Deleuze: Kunst und Widerstand" zu Grunde liegt -, erläutert und diskutiert und es wird nochmals präziser deutlich, worin das Widerstandspotenzial der Kunst liegt. Sie kann nur dazu anregen, den Blick auf den Konsens zu verschieben und neue Möglichkeiten zu eröffnen. Diese neuen Möglichkeiten ergreifen und sie sofort in die Realität übertragen kann sie jedoch nicht.

Manuel Clemens

Jacques Rancière: Ist Kunst Widerständig? Mervé-Verlag, Berlin 2008, 8 EUR