Aufgeblättert
Überwachungstechnologien
Der von dem Technikphilosophen Sandro Gaycken und der Informatikerin Constanze Kurz herausgegebene Sammelband vereint Beiträge, die sich auf ganz unterschiedliche Weise dem Phänomen der Überwachung und Kontrolle im beginnenden 21. Jahrhundert nähern. Die zum großen Teil sehr gut informierten AutorInnen versammeln Wissenswertes über die Vorratsdatenspeicherung bis hin zur Videoüberwachung. So stellt der Technikaktivist Frank Rieger den aktuellen Stand in Sachen Abhören und Lokalisieren von Telefonen dar und beschreibt die technischen Möglichkeiten von der Erstellung von Stimmprofilen, über den Einsatz von IMSI-Catchern bis hin zum passiven Abhören und der Möglichkeit des Einsatzes des Mobiltelefons als Wanze. Dirk Engling beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Überwachungspotenzial gespeicherter Telekommunikationsverbindungsdaten und argumentiert überzeugend, dass die Erfassung und Verknüpfung von Verkehrsdaten viel stärker in die informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen eingreifen kann als die Erhebung der Gesprächsinhalte. Der Strafverteidiger Martin Lemke beschreibt anhand von praktischen Beispielen, wie wirkungslos die in der Öffentlichkeit zur Beruhigung angeführten rechtlichen "Schutzmechanismen", wie der Richtervorbehalt, bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen tatsächlich sind. Für den Kriminologen Hans-Jörg Albrecht sind die neuen Maßnahmen - wie die Nutzung von Verkehrsdaten zur Rekonstruktion von sozialen Netzwerken - Beispiele für eine zunehmende aktive Rolle der Polizei in der Ausübung sozialer Kontrolle. Etwas verloren steht dagegen der Artikel von dem Polizeihauptkommissar Rainer Wendt, der in seinem Beitrag die - zu Recht angezweifelte - "Erfolgsgeschichte" der Videoüberwachung beschreibt. Insgesamt ein sehr lesenswertes Buch mit vielen wichtigen Informationen zum derzeitigen technischen Stand der Überwachung. Nicht überzeugend ist der technikwissenschaftliche Ansatz, nach dem zumindest einem Teil der Technologien objektiv ein Missbrauchspotenzial innewohne. Bei einer derartigen Technikkritik kommt die Bedeutung der gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse für die Entwicklung und den Einsatz von Kontrolltechnologien zu kurz.
Peer Stolle
Sandro Gayken, Constanze Kurz (Hrsg.): 1984.exe. Gesellschaftliche, politische und juristische Aspekte moderner Überwachungstechnologien. Transcript-Verlag, Bielefeld 2008, 310 Seiten, 29,80 EUR
Chilenisches Nachbeben
Anders als andere lateinamerikanische Länder steht Chile nicht mehr so sehr im Fokus linker Aufmerksamkeit. Nicht wohl zuletzt deshalb, weil der Militärputsch von 1973 und die nachfolgende, brachiale neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft das Land bis heute in spezieller Weise prägen. Zurückgeblieben ist eine zerschlagene, z.T. ausgelöschte oder traumatisierte chilenische Linke und eine äußerst fragmentierte Gesellschaft, in der der oft auf der Grundlage extremer Verschuldung praktizierte Konsumismus linke Kritik und Praxis sowie die Aufarbeitung der Vergangenheit an den Rand gedrängt haben. An diesen Bruchstellen zwischen Vergangenheit und Gegenwart setzt Boris Schöppner mit seinem Buch "Nachbeben. Chile zwischen Pinochet und Zukunft" an. In Interviews und Reportagen versammelt er Stimmen und Zeugnisse aus verschiedenen Organisationszusammenhängen der radikalen Linken Chiles. Ehemalige KämpferInnen gegen die Diktatur erzählen von der Zeit nach 1973, den strategischen Überlegungen und Entscheidungen nach dem Putsch, den Niederlagen und Fehleinschätzungen, und ziehen sehr persönliche Resümees ihres Lebens und der Versuche des Widerstands. Dabei geben sie oft auch anschauliche Beschreibungen der heutigen mentalen Verfasstheit der chilenischen Gesellschaft. Großen Raum nehmen in dem Buch die 1980er Jahre ein, als die Angst durchbrochen wurde und Menschen wieder auf die Straße gingen, um die Diktatur herauszufordern. Ihren Höhepunkt fanden diese Mobilisierungen 1985/86; immer wieder analysieren die GesprächspartnerInnen, wie der Übergang zur "Demokratie" zwischen Teilen des nachfolgenden, 1989 an die Macht gelangten Regierungsbündnisses Concertación und dem alten Regime paktiert wurde. Das u.a. zog der radikalen Linken und ihren Forderungen nach einem grundsätzlichen Bruch mit den Strukturen und dem Personal der Militärdiktatur sowie dem Wirtschaftsmodell den Boden unter den Füßen weg und marginalisierte sie nachhaltig. Schöppners Buch verharrt jedoch nicht im Blick zurück, es nähert sich auch den heutigen Zuständen und Auseinandersetzungen im Land an. Seien es die Kämpfe der LeiharbeiterInnen in den Kupferminen des Nordens, die der Hafenarbeiter von Iquique oder der Mapuche, seien es Praxen der Gegenkultur, Aktionsformen, um Folterer der Diktatur zu outen, oder das Aufbegehren der SchülerInnen gegen das immer noch aus der Pinochet-Zeit stammende Bildungsgesetz - der Autor spürt den Bruchlinien der Gesellschaft nach und zeigt, dass in Chile trotz aller Resignation an vielen Orten weitergekämpft wird und die Unzufriedenheit wächst.
ev
Boris Schöppner: Nachbeben. Chile zwischen Pinochet und Zukunft. Reportagen und Interviews. Trotzdem Verlag, Frankfurt am Main 2008, 229 Seiten, 15 EUR
Frankreich nach 1945
"Sie gehen alle schlafen, die Leute. (...) Das ist der Augenblick, in dem die Menschheit sich auflöst, sich zersetzt, auseinanderfällt und den Schein von Zusammenhang, in den sie sich sechzehn Stunden am Tag fügt, nicht länger aufrechterhält. Die Stunde der Wahrheit. Alles, was man so zusammengehalten hatte, die echten Zähne und die falschen Zähne, die echten Herzen und die falschen Herzen (...), das alles macht sich selbstständig, löst sich voneinander, trennt sich. Ziemlich unterhaltsam, diese Vorstellung. Meine Landsleute in ihren Betten inmitten der Einzelteile ihres Anstandes und ihrer Wichtigkeit." Allen voran der Aufsteiger und Gönner des Erzählers, Bourladou. Zielbewusst strebt er nach einer angesehenen bürgerlichen Position, hat zu allem und jedem eine Meinung, selbstverständlich die richtige. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach Paris zurückgekehrt aus mehrjähriger Kriegsgefangenschaft, fragt der etwas verloren wirkende Ich-Erzähler nach der Wahrheit, nach Anstand und Moral. Fragen, die kaum interessieren, auch dort nicht, wo es z.B. um die Errichtung eines Denkmals zu Ehren der Résistance geht. Diskutiert werden die Anzahl der Toten und die Zugehörigkeit zur richtigen Gruppierung; Rivalitäten dauern fort, die Chance zu einer Aufarbeitung dieser Zeit und auch der begangenen Fehler wird vertan. Trotz Unterstützung durch Jean-Paul Sartre blieb Georges Hyvernauds Roman "Der Viehwaggon" bei seiner Veröffentlichung 1953 fast ohne Resonanz. Dabei gelingt es dem Autor, nicht ohne schwarzen Humor die Stimmung dieser besonderen Zeit des Neuanfangs und der Brüche einzufangen - und das auch für die heutige Zeit in lesenswerter Form.
Raphaela Kula
Georges Hyvernaud: Der Viehwaggon. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 196 Seiten, 13,80 EUR