Er war ein Geschenk
Zum Tod von Christian Geissler
"Guten Abend, Klaus, ich rufe vom Krankenhaus an. Die Diagnose ist jetzt ein rasch wachsender bösartiger Tumor. Ich komm' morgen schon in die Chemo, das geht dann über Tage so weiter. Wenn man nichts macht, ist es in zwei bis sechs Monaten vorbei, wenn man was macht, kann es bis zu zwei Jahren gut gehen. Das wollte ich dir und der Gruppe noch sagen - ich komme vorbei, sobald ich kann. Und vielen Dank für die herzlichen Grüße von euch allen. Tschüß, lieber Klaus."
Ein Anruf von Christian Geissler vor knapp einem Jahr. Ich war nicht zu Hause, er hatte auf den Anrufbeantworter gesprochen. Bei der von ihm erwähnten "Gruppe" handelt es sich nicht, wie man wohl erwarten würde, um eine linke oder gar revolutionäre Gruppe, sondern um die Teilnehmenden an den von mir geleiteten Seminaren zum Thema "Jüdische Lebenswelten" in der Hamburger Volkshochschule (VHS). Christian nahm bald nach seiner Rückkehr aus dem Rheiderland seit dem Frühjahr 2005 und bis zum Sommer 2007 an diesen Seminaren teil. Obwohl meine KursteilnehmerInnen (im Schnitt rund 60 Jahre) nicht gerade Linksradikale sind, war Christian, der von vornherein klarstellte, dass er Kommunist sei, besonders angesehen, wurde sehr gemocht. Neben dem quasi Auftrag, an einem Kursabend aus seinem Buch "Die Anfrage" vorzulesen und über die Rezeption zu sprechen, hatte die "Gruppe" auch das Privileg, seine unveröffentlichen Arbeiten zu hören. Darunter ein dem Kurs gewidmeter Text "Gab es Antisemitismus in der Politik der KPD in den zwanziger Jahren?"
Er wolle also, sagte mir Christian, nochmal in den VHS-Kurs kommen. Das war am 14. November letzten Jahres. Christian nahm von uns Abschied in einer ganz besonderen Weise: Er habe bisher alles selbst geschafft, jetzt aber "eine ganz neue Erfahrung" gemacht. "Ich finde heute, dass ich die wichtigsten Sachen in meinem Leben gar nicht selbst gemacht habe, man hat sie mir geschenkt. Eine tolle Erfahrung. Denn ich war immer der, der gedacht hat, wir sind auf uns alleine angewiesen, auch als Kommunist ... Und merkwürdigerweise: Während ich sozusagen verschwinde, ist die Verbindung mit dem ganzen Leben noch viel liebevoller, vielseitiger. Es geht mir jetzt sehr gut, der wirkliche Schmerz kommt erst noch. Ich will mich nicht darauf konzentrieren. Ich habe einen Arzt, der mir bestimmt über die Hürde hilft." (Auszug aus einem Video-Mitschnitt)
Vom Katholizismus zum Kommunismus
Zu diesem letzten Treffen mit Christian als Kursmitglied waren auch J. und U. eingeladen, die 1971 mit mir zusammen die Initiatoren die "Stadtteilgruppe Karolinenviertel" waren. Eine Gruppe, die auf rund ein Dutzend anwuchs und sich später größtenteils dem Kommunistischen Bund (KB) anschloss. Der Einstieg war eine Hausbesetzung im Hamburger Karolinenviertel. Irgendwann 1971 bekamen wir in unserem "Stadtteilbüro Karolinenviertel", einer ehemaligen Schlachterei, Besuch von Christian Geissler und Lothar Janßen, Autoren und Regisseure des Dokumentarfilms "Hamburg 6 - Karolinenviertel". Thema des Films war, dass Jugendliche, die im Knast landeten, in besonders hoher Anzahl aus dem Karolinenviertel stammen. Diesen Jugendlichen blieb weitgehend das Wort selbst überlassen. Der im NDR ausgestrahlte Film löste dennoch heftige Proteste der AnwohnerInnen aus. Vom Stadtteilbüro aus und über unsere Karolinenviertel Zeitung (KVZ) organisierten wir zusammen mit Christian eine Bürgerversammlung im Lokal "Feldeck" mit rund 250 TeilnehmerInnen. Nach wütendem Protest, dass "die anständigen Leute aus dem Viertel überhaupt nicht zur Sprache" gekommen seien, kamen die Versammelten dann doch noch zu sich selbst und den tatsächlichen Problemen: verkommene Wohnungen, kein Kindergarten, kein Platz für Jugendliche.
Hier begann allmählich meine fast vier Jahrzehnte währende Freundschaft mit Christian, in der das Politische und das Persönliche eine untrennbare Einheit bildeten. Im Sommer 1999 führten Christian und ich ein langes Gespräch über seinen "Eintritt in das achte Lebensjahrzehnt", das zu seinem Achtzigsten hätte fortgeführt werden sollen. (Die im folgenden gekürzte Fassung enthält etwa ein Viertel dieses Gesprächs.)
Christian ist 1928 geboren, ich 1943. Ein Unterschied von nur 15 Jahren. Aber, betont Christian (CG), "so kann man das nicht rechnen. Es sind - speziell in Deutschland - Jahre von besonderer Zerstörungskraft; Jahre von besonderem Lernen für jeden, der in dieser Zeit gelebt hat. Ich war Kind, 1943 war ich im Ernteeinsatz. 1943 war das auch, als die Leute mit dem Totenkopf mich gemustert haben wegen der blonden Haare. Ich habe bis 1943, damals war ich 14, nichts begriffen von dem, wo ich gelebt habe. Ich bin den Befehlen gefolgt, die man mir gegeben hat. Ich bin ein kleines Kerlchen gewesen, das überall mitgesprungen ist oder mitgeschwommen wie alle anderen auch. Was habe ich denn gelernt in dieser Zeit? Ja, Widersprüche doch. Meine Mutter kam aus Polen, und in unserer Verwandtschaft waren Juden. Und in der ganzen Gegend wurde gesagt, das seien Verbrecher und Untermenschen. Das waren sie ja nun für mich nicht. Kurz: Das ist ja auch ein Stück Lernen aus Erfahrung - sie lügen, sie schreiben mir Scheiße ins Schulbuch."
Christian hatte das Studium der evangelischen Theologie aufgenommen, war dann aber zum Katholizismus übergetreten. CG: "Nach Zeiten der Widersprüche wollte ich Sicherheit und Wahrheit und Ordnung und Schutz. Schutz habe ich gefunden, ganz sicher, in der katholischen Kirche. Es war die Unantastbarkeit der Sakramente, die mir in dieser Phase der Angst und des Schutzsuchens ein Angebot gemacht haben. Ich habe es mit Lust aufgenommen: Es gibt Unveränderbares, es gibt Unverletzliches, darauf war ich scharf wie ein armer Sünder auf die Rettung. Ich wollte, dass es ein paar Sachen gibt im Leben, die nicht zu vernichten sind. Die Suche nach 'ner Hand, die einen nie entlässt, das finde ich heute so grausam. Was hat man mit Leuten wie mir gemacht?!"
Woher kam dann deine Kraft, dich aus dieser scheinbaren Sicherheit herauszureißen? CG: "Von mir habe ich immer beim Nachdenken mit anderen gesagt: in dem was ich selbst gearbeitet habe. Und das war ja mit der ,Anfrage` und ,Kalte Zeiten` dann wirklich gegeben, ich bin in diesem altmodischen Sinne selbstbewusst und selbstbewusster geworden. Wusste was von eigenen Kräften. Das ist die Freude im Leben. Aber das ging noch nicht kommunistisch, das ging erst mal nur von eigenen Kräften. Und dann auch das Einsehen von Materiellem oder das Lernen im Materialismus. Das habe ich nach und nach verstanden. Also materialistisches Wissen plus eigene Arbeit machen mutiger, sich gegen den Vater oder gegen die Herrschaft zu richten."
Unbedingtes Vertrauen zur RAF
In den 1950er und 1960er Jahren gab es neben der Gruppe von Linkskatholiken, zu denen Christian gehörte, illegalisierte Kommunisten, auch Gewerkschafter und Sozialdemokraten, die im Unterschied zur großen Mehrheit der Bevölkerung das Lernen und Vorwärtsschreiten nicht aufgegeben hatten. CG: "Ich bin da selbst erstaunt, heute als alter Mann, wie guter Dinge wir waren. Es klingt so, wenn man das heute so sagt, als seien wir nicht ganz dicht gewesen. Wir hätten ja die Größenverhältnisse sehen müssen, in denen wir lebten. Aber wir waren der idealistischen Meinung, was genau gedacht und mitgeteilt wird, hat auch Wirkung in Richtung auf das Richtige."
Christians "Anfrage" war 1960 das erste in der BRD erschienene Buch, in dem die deutsche Schuld am Völkermord an den europäischen Juden thematisiert wurde. CG: "Es hat Lesungen gegeben, die waren erschütternd. Das wichtigste für mich war, dass es Kommunisten in Bewegung gesetzt hat, mich zu besuchen. Die wollten mir sagen, wie wichtig sie das Buch finden, und auch wie falsch. Nämlich hinsichtlich dieser moralischen Grundlinie in dem ganzen Buch. Und die Kommunisten haben Lust gehabt, mir was beizubringen: Du kannst es begreifen. Und dieses Zutrauen, dass wir unsere Lage begreifen, also auch ändern können. Da war ich gut versorgt mit den Typen."
Christian schloss sich der illegalen KPD an, obwohl er wusste, dass die Geschichte der KPD zum Teil auch eine Verbrechensgeschichte war. CG: "Nur war ich einer, der sagte, es gibt keine Wahl: Mit denen zusammen oder es geht nicht." 1968 ist Christian aus der Partei, damals schon DKP, ausgetreten. CG: "Die DKP war nur noch eine Auftragsorganisation, ein Planungsverein. Eine kämpfende Partei kommt von kämpfenden Menschen, aber nicht von irgendeiner Zentrale, die sagt, jetzt nennen wir uns mal anders und reden vorher mit dem Bonner Justizminister darüber, was wir nicht ins Programm schreiben."
Es gibt keine Befreiung ohne Bruch
Trennung von der katholischen Kirche, Mitglied der illegalen KPD, Parteiaustritt - die Suche nach Sicherheit blieb. CG: "Es ist dies aber auch die Suche nach Bestimmtheit. Und ich möchte genau hier die in meinem Leben wichtigste und entscheidendste Erfahrung, RAF nämlich, ranholen. Diese Ausdauer hat etwas damit zu tun, dass ich nicht loslassen wollte in Richtung auf Vereinzelung. Es droht in den Knästen die zerstörerische Vereinzelung. Und ich habe, das geht durch mein ganzes Leben hindurch, den erbärmlichen Wunsch gehabt, wir müssen zusammenhalten, sonst gehen wir unter, zerbricht unsere Arbeit gegen das Pack! Das muss auch mit dem Faschismus zu tun haben, denn wir waren ja so ohnmächtig damals als kleine Soldaten, weil wir Einzelne waren. Und ich glaube, diese elende Vereinzelung, diese Vereinzelung, die sich der Willkür aussetzt von Stärkeren oder von Bösen, könnte die Lernbedingung gewesen sein für mein - bis jetzt, bis zu meinem siebzigsten Jahr - unbedingtes Erpichtsein darauf, dass wir zusammenhalten. Mein Schreiben ist schon einzeln genug. Jeder politische Schritt, jede politische Hoffnung, unser politischer Kampf, das ist der kommunistische Kampf, das ist der Kampf um die Selbstaneignung des Menschen und das geht nur gemeinsam. Die Vereinzelung des Kommunisten ist die Vernichtung des Kommunisten."
Die Lernfähigkeit der RAF hatte Christian lange Zeit weitgehend falsch eingeschätzt. CG: "Ich war auch selber unter denen, die sogar noch das Frontpapier 1982 versucht haben zu verstehen und zu verteidigen. Das ist jetzt was ganz Subjektives. Ich habe zu der Zeit niemanden gehabt, denen ich so getraut habe wie den Genossinnen und den Genossen der RAF. Es war eine tiefe Sicherheit, ich wollte, dass die stimmt. Vertrauen, unbedingtes Vertrauen."
Seit Mitte der 1980er Jahre hatte Christian nicht mehr für das Fernsehen gearbeitet. CG: "Mir war das Bücherschreiben, die Prosaarbeit - Gedichte habe ich ja erst geschrieben, als ich fünfzig war - immer wichtiger als das Filmemachen, prinzipiell als mein Mittel. Nicht etwa als politisch wirksamer; es schien mir eigenartiger. Auch die Selbstständigkeit in der Prosa hat mir natürlich gefallen, denn alle Fernseharbeit war auch abhängig vom Absegnen höherer Stellen. Ich habe mich für Jahre verzogen für ,kamalatta'. Leben konnte ich davon nicht. Da habe ich mir aber gesagt, jetzt machst du nur noch, was du für richtig hältst, lebst von ganz, ganz wenig Geld - also sind wir (CG und seine Ehefrau, Sabine Peters, Romanautorin und Publizistin; Anm. KM) aufs Land gezogen - und verdiene nur so viel, wie unbedingt nötig neben der eigentlichen Romanarbeit oder Dichtung. Ich will meine gezählten Tage mit Arbeit nicht nur beenden, sondern vor allem auch füllen. "
Die Edition Nautilus publizierte Christians Arbeiten aus den Jahren 1989 bis 1992 unter dem Titel "Prozess im Bruch". CG: "Der Begriff des ,Bruchs` in meinem Leben ist sehr zentral, mir ist er auch problematisch. An diesem Begriff hängt eine ganz tiefe Qualität von Unglück geliebter Menschen. Ich glaube auch, dass meine Produktion gar nicht anders gegangen wäre, als immer wieder zu brechen. Man kann, gerade wenn wir hier als Revolutionäre sitzen, sagen: Ja, es gibt überhaupt keine Revolution, die nicht verletzt; es gibt keinen Schritt, der nicht anderes verlässt; es gibt keine Befreiung ohne Bruch. Aber wenn man sich die Gesichter vor Augen holt, kann man ziemlich bange werden. Woher nimmst du dieses Selbstzutrauen? Ich sage dann, ich nehme mir das daher, weil ich ohne vorwärts zu kommen und zu produzieren gar nicht leben kann. Also ist es für mein Leben getan, und wenn etwas für mein Leben getan ist und andere leiden daran. Ich habe jetzt oftmals das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen, kann aber nicht. Ich weiß nur genau, ich würde selber keinen Schritt meiner Produktion und auch keinen Bruch zurücknehmen wollen. Aber ich finde es sehr traurig, sehr, sehr traurig, dass der Prozess, der über Brüche geht und nicht anders gehen kann, lebendige Leute verletzt, die mir persönlich wichtig sind. Es bleiben Erfahrungen, die ich nicht lösen kann. Sagen muss man es mal: Wir sind wirklich keine Helden, nicht nur ich bin keiner."
Besuche bei Christian, von denen, wie ich fürchtete, jeder der letzte sein konnte. Im Juni aber das gewohnte Ritual mit Tee und Kluntjes im Innenhof und ein sehr sanfter und fast heiterer Christian. Der Lungentumor war besiegt, könne zwar wieder ausbrechen, aber ... im Herbst wolle er nochmals "die Gruppe" besuchen. Eine Woche später kam es nur noch zur Teilnahme an einer Lesung von Karl-Heinz Dellwos Buch "Das Projektil sind wir".
Mitte Juli die schockierende Nachricht, dass Metastasen Christians Gehirn angegriffen haben. Am 26. August entschied Christian, sein Leiden zu beenden.
Klaus Mellenthin
Die vollständige Fassung des Gesprächs erschien in ak 421und 422, Oktober/November 1999. Die Überschrift "Er war ein Geschenk" stammt aus dem Nachruf von Sabine Peters-Geissler.