Mit Gramsci arbeiten
Ein neuer Band zeigt den praktischen Nutzen seiner Schriften
Die Gefängnishefte Antonio Gramscis sind geprägt von fragmentarischen Aufzeichnungen, in denen er historische Entwicklungen und die Verhältnisse seiner Zeit beschrieb. Für viele LeserInnen sind sie deshalb schwer zugänglich. Ein neuer Sammelband liefert vielfältige Denkwerkzeuge, um seine Begriffe auf aktuelle Verhältnisse zu übertragen und zu einer eingreifenden Theoriebildung anzuregen.
Mit Gramscis Begriff der Hegemonie lässt sich das fragile Zusammenspiel zwischen dem Zwang, der aus prekarisierten Arbeitsverhältnissen erwächst, und dem gesellschaftlichen Konsens, der die staatlichen Selbstverantwortungsdiskurse und unternehmerischen Flexibilisierungsstrategien umgibt, gut beschreiben. Bernd Röttger zeigt dies anhand der aktuellen Krise der Gewerkschaften.
Er zeichnet zunächst nach, wie die fordistischen Gesellschaftsstrukturen Voraussetzung (und Folge) der Stärke der Stellvertreterpolitik waren, die Gewerkschaften jahrzehntelang verfolgten. Indem es zu einer Aufspaltung der kollektiven Interessensvertretung der Arbeiterklasse auf verschiedene Institutionen kam ("Gewerkschaften, Betriebsräte, Aufsichtsratsvertreter und ,sozialdemokratisierte` Parteien"), wurden ursprünglich revolutionäre Bewegungen in die fordistischen Verhältnisse inkorporiert. Dieser Konsens bröckelte ab Ende der 1960er Jahre aus vielfältigen Gründen.
Dialektik von Spontaneität und Organisation
Röttger greift als Beispiel für lokale Erneuerungsansätze, für neue Formen "autonomer Artikulation", den Konflikt um die Heidelberger Druckmaschinen AG in Kiel im Jahr 2003 auf. Er macht deutlich, dass sich dort etwas Neues bewegen kann, wo Betriebsräte und Gewerkschafter vor Ort die eingefahrenen Bahnen der Verhandlungen mit dem Management verlassen und statt dessen mit der Belegschaft arbeiten. Kiel ist zudem ein Beispiel für einen betrieblichen Konflikt, der außerbetriebliche Formen der Solidarität hervorruft.
Röttger plädiert für eine solche "Dialektik von Spontanität und Organisation" (S.66). Indem er diese aktuellen Erfahrungen anhand von Gramsci-Zitaten erläutert und analysiert, wird deutlich, dass das spannungsreiche Verhältnis zwischen spontaner Organisierung, Betriebsgruppen und Gewerkschaftern, innerhalb dessen sich neue Handlungsmöglichkeiten und Aktivitäten der Subalternen entwickeln müssen, zu einem konstituierenden Moment kapitalistischer Verhältnisse gehört. Ihre dauerhafte Entwicklung bezeichnet Röttger als offen.
Ingo Lauggas diskutiert die Bedeutung Gramscis für das Werk Raymond Williams, einem wesentlichen Akteur der frühen britischen Cultural Studies. Williams sei in seiner Analyse von "Empfindungsstrukturen" erst durch die Lektüre Gramscis an den Punkt gekommen, zwischen dominanten Kräften, residualen Kräften (deren Stärke aus der Vergangenheit erwächst) und emergenten (d.h. aufstrebenden) Kräften zu unterscheiden. Für Williams sind die emergenten Kräfte die wesentliche Quelle von Gegenhegemonie, und die Empfindungsstrukturen sind darin der Ort für kulturelle Formen, "die noch schwer beschreibbar, weil nicht ausartikuliert sind", und die die (potenzielle) Veränderung der Kultur eine Epoche vorwegnehmen.
Erst durch diese theoretische Entwicklung gelang es Williams, kulturelle Phänomene als Terrain gesellschaftlicher Konflikte zu lesen, in denen gesellschaftliche Kräfte um Hegemonie für ihre jeweiligen Auffassungen ringen. Ort dieser Kämpfe war damit nicht nur der Alltagsverstand. Vielmehr gingen sie davon aus, dass diese auch durch "aktives Leben und Fühlen von Meinungen und Werten" ausgetragen werden.
Mit Widersprüchen aktiv umgehen
Uwe Hirschfeld sieht Soziale Arbeit mit Gramsci als hegemonialen Kampfplatz verschiedener Klassen und gesellschaftlicher Gruppierungen. In aller Kürze beschreibt er den Widerspruch sozialarbeitenden Handelns: Diese vermittele vor allem die Fähigkeit zur Einpassung in existierende Verhältnisse, was für viele Betroffene einen Zuwachs an Handlungsfähigkeit bedeute und eine "keinesfalls zu unterschlagende Kompetenz" (S. 102). Gleichzeitig könne eine Bearbeitung der Probleme der Betroffenen darüber nicht erfolgreich gelingen, weil deren gesellschaftliche Ursachen nicht thematisiert und politisch handelnd einbezogen werden.
Aufbauend auf diese Beschränkungen entwickeln zahlreiche SozialarbeiterInnen ihre Professionalität. Allerdings werde hierüber auch das Verhältnis SozialarbeiterIn/KlientIn immer wieder brüchig. Hirschfeld bricht dies exemplarisch auf das Verhältnis zwischen Schule und sozialer Arbeit herunter: Einerseits könne eine stärkere Symbiose zwischen beiden, die heute angestrebt wird, eine Bereicherung schulischen Lernens bedeuten, andererseits komme es auch zu einer Kolonialisierung der Lebenswelt der SchülerInnen, indem das "Lebenslange Lernen" stärker in die informellen Formen des Lernen verankert wird.
Eine Perspektive sieht Hirschfeld in Versuchen, gemeinsam mit den SozialarbeiterInnen (schon in deren Studium) die vorgegebenen Denkformen kritisch zu überwinden und Kompetenzen zu vermitteln, die helfen, mit Widersprüchen aktiv umzugehen. Hierzu gehöre nicht bloß eine entsprechende Didaktik, sondern soziale Bewegungen, die kritisches Denken mit Alltagspraxis verknüpfen.
Die genannten Themen sind nur drei Beispiele dafür, wie die insgesamt 13 AutorInnen des Bandes mit Gramsci praktisch-politisch über die heutigen Verhältnisse nachdenken. Der Band ist äußerst anregend, gerade weil er ein weiteres Mal zeigt, dass bei Gramsci keine geschlossene Theoriebildung vorliegt. Gerade deshalb lässt sich von ihm lernen, wie wichtig es ist, das Wechselverhältnis zwischen hegemonialen Begrifflichkeiten und Geschichte (sowohl alltägliche als auch Gesellschaft im Großen) zu einem wichtigen Moment der Analyse zu machen.
Iris Nowak
Andreas Merkens, Victor Rego Diaz (Hg.): Mit Gramsci arbeiten. Texte zur politisch-praktischen Aneignung Antonio Gramscis. Argument-Verlag, Hamburg 2008. 221 Seiten, 16,50 EUR