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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 531 / 19.9.2008

Die Revolution ist jetzt

Der israelische Aktivist Uri Gordon über die Gegenwart des Anarchismus

Vor einem Jahr publizierte die Jerusalem Post eine Kritik an der israelischen Gruppe Anarchists against the Wall (AATW), die gemeinsam mit PalästinenserInnen gegen den Bau des Trennungsmauer kämpft: Via Unterstützung des "palästinensischen Kriegs gegen Israel" beförderten AATW ein faschistisches "Hamastan". Dem hielt der AATW-Aktivist Uri Gordon entgegen, es gehe der Gruppe um eine "Praxis des Desertierens, Verweigerns, der Sabotage und des Angriffs gegen jede gewalttätige Autorität, jede Machtausübung durch Zwang und jeden Staat". Anarchie eben, und dazu hat Gordon nun ein Buch publiziert: "Anarchy Alive! Anti-Authoritarian Politics from Practice to Theory".

Er selbst engagierte sich in den letzten Jahren u.a. bei Dissent! in Großbritannien sowie bei Peoples' Global Action und eben AATW. Seine Fragen zu einer zeitgemäßen anarchistischen Theoriebildung leitet er aus seiner politischen Praxis ab, wobei ihn vor allem Probleme und ideologische Dilemmata innerhalb der Bewegung interessieren. Er greift das Phänomen des "neuen Anarchismus" auf, dessen breites ideologisches Spektrum jüngst von Gabriel Kuhn in ",Neuer Anarchismus` in den USA. Seattle und die Folgen" dokumentiert wurde. Gordon geht jedoch noch einen Schritt weiter: Er will Anarchismus als "politische Kultur" der Gegenwart verstanden wissen.

Damit meint er nicht nur Gruppen mit explizit anarchistischer Ideologie, sondern einen Großteil der globalisierungskritischen Bewegung. Deren unorthodoxe Ideologie und heterogene Praxis bezeichnet er als "neue Schule" des Anarchismus, die sich weitgehend vom traditionellen Anarchismus gelöst habe. Vielmehr sei sie von radikalen sozialen Bewegungen seit den 1960er Jahren und einer postkolonialen Gegenwart geprägt. Gordon hält es für gerechtfertigt, von einer "anarchistischen Bewegung" zu sprechen, denn die gegenwärtige antiautoritäre Linke zeichne sich durch genuin anarchistische Elemente aus.

So betont er mit Blick auf Organisationsformen und Mobilisierung, dass man sich zwar in kooperierenden Netzwerken mit gemeinsamen Zielen koordiniere, die jeweiligen Inhalte jedoch autonom und dezentral umsetze. Gemäß dem anarchistischen Paradigma von einer "Propaganda der Tat" habe dabei die Praxis einen hohen Stellenwert - als "direkte Aktion" nach außen und mit der Schaffung von egalitären Strukturen nach innen. Durch selbst erkämpfte Freiräume und kreative Gegenkulturen setze man Kapitalismus und Herrschaft nicht nur Symbole entgegen, sondern auch eine konstruktive "präfigurative Politik" - die Revolution im Hier und Jetzt.

In vier Kapiteln diskutiert Gordon Probleme anarchistischer Praxis: Bestehende Machtstrukturen und mangelnde Transparenz innerhalb der eigenen Strukturen, die Gewaltfrage im politischen Kampf, anarchistische Technologiepolitik und - am Beispiel Palästina/Israel - die paradoxe Zusammenarbeit mit einer nationalen Befreiungsbewegung.

Der Anarchismus der GlobalisierungskritikerInnen

Interessant ist vor allem das Kapitel über Technologiepolitik. Gordon argumentiert, dass eine konsequent anarchistische Politik, der es um eine Dezentralisierung und Enthierarchisierung menschlicher Gesellschaften geht, sich teilweise von gegenwärtigen Technologien verabschieden müsse. Diese gelten ihm nicht nur als Produkt gegenwärtiger Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, sondern eben auch als Mittel zu deren Reproduktion.

Hier macht sich bemerkbar, dass Gordon ursprünglich aus der Umweltbewegung kommt. Technologiekritik und ökologisches Bewusstsein haben jedoch auch im Anarchismus durchaus Tradition. Der russische Anarchist Pjotr Kropotkin wies bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf die Grenzen des Wachstums hin. In den 1950er Jahren wurde der US-amerikanische Anarchist Murray Bookchin zu einem der Vordenker der Ökobewegung. Gordon selbst bekennt zwar seine Affinität zu Positionen des Anarchoprimitivismus, der eine "Rückkehr" zu einer Jäger- und Sammlergesellschaft propagiert. Seine Technologiediskussion jedoch löst er explizit von anarchoprimitivistischen Diskursen, und auch sonst ist von reaktionärer Zivilisationskritik nichts zu spüren.

Umso mehr überrascht Gordons Vision einer Lösung des Palästinakonflikts. In seiner ansonsten informativen Analyse des gespannten Verhältnisses zwischen israelischem Anarchismus und palästinensischem Nationalismus schlägt er für eine postnationale Zukunft das Modell des "Bioregionalismus" vor: Lokale Bevölkerungen leben in selbst verwalteten Zonen zusammen, die laut Gordon "nicht ethnisch oder politisch" definiert würden, sondern basierend auf den "natürlichen und kulturellen Eigenschaften" einer jeweiligen Region.

Dass solche Eigenschaften keineswegs von der Natur vorgegeben sind, sondern von Menschen festgelegt würden, die ebenfalls bestimmen würden, wer in jeweiligen Zonen leben soll und wer nicht, bleibt dabei unbedacht. Ein weiteres Problem ist der dem real existierenden Bioregionalismus inhärente antihumanistische Biozentrismus. So plädieren BioregionalistInnen in den USA aus Umweltschutzgründen für einen Einwanderungsstopp. In Deutschland schließlich wurde der Bioregionalismus primär von der Neuen Rechten rezepiert, die darin Ansatzpunkte für ihren völkischen Ethnopluralismus und eine "neotribale Identitätsstiftung" entdeckte.

Anarchistische Technologiekritik

Gegen Kapitalismus und Herrschaft zu sein ist nicht per se emanzipatorisch. Gerade die Heterogenität und ideologische Offenheit der globalisierungskritischen Bewegung macht sie anfällig für jegliche Art von Querfrontverbindungen wie z.B. den "Nationalanarchismus". Ein gut gelaunter Antiautoritarismus und der Versuch, die eigene Utopie hier und heute zu verwirklichen sind vielleicht sympathischer als strikte Parteilinien und theoretische Grabenkämpfe. Dennoch hätte Gordons ansonsten lesenswertes Buch davon profitiert, wenn er auch die reaktionären Potentiale der gegenwärtigen "anarchistischen Bewegung" beleuchtet hätte.

Cornelia Siebeck

Gordon, Uri: Anarchy Alive! Anti-Authoritarian Politics from Practice to Theory. Pluto Press, London 2008. 192 Seiten, 21,99 EUR.