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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 532 / 17.10.2008

No Country for Old Men

Prekarisierung und neue Unübersichtlichkeit in Großbetrieben

Die Hamburger Gruppe Blauer Montag hat sich in den letzten zwei Jahren mit der "neuen Unübersichtlichkeit in Großbetrieben" beschäftigt. Der hier dokumentierte Text fasst die Ergebnisse von Befragungen, Diskussionen und schlaglichtartigen Beobachtungen zusammen. Er ist ein Beitrag sowohl zur aktuellen Prekarisierungsdiskussion als auch zum Verständnis der widersprüchlichen Konfliktualität in Büros und Betrieben. Es handelt sich dabei um einen Vorabdruck aus dem Buch "Risse im Putz. Autonomie, Prekarisierung und autoritärer Sozialstaat", das Anfang November im Verlag Assoziation A erscheinen wird.

"Die Fabrik von ThyssenKrupp ist ... keineswegs marginal: Es ist ein zentrales Unternehmen mit dem, was einmal Arbeiteraristokratie genannt wurde, Arbeiter mit regulärem Arbeitsvertrag in einem multinationalen Unternehmen. Heute herrschen hier unerträgliche Arbeitsbedingungen mit zwölf Stunden Arbeit am Stück, und wenn es am Schichtende keinen Ersatz gibt, musst du noch mal acht Stunden dranhängen, und das in dem Wissen, dass deine Arbeit ausstirbt und du gestrichen wirst. Wer diese Fabrik betritt, weiß, dass er sein Leben und seine Gesundheit riskiert, und gleichzeitig macht der Rest der Stadt einfach weiter, will nichts sehen und nichts wissen. (...) Die Ideologie des Postindustrialismus, des Kapitalismus der Wissenschaft, der Exzellenz-Initiativen, der hochqualifizierten Dienstleistungen hat die grausame Arbeit derjenigen versteckt, die in Feuer und Asbest arbeiten und wissen, dass sie dabei ihr Leben aufs Spiel setzen. Kein freier Samstag oder Sonntag, es gibt weder Tag noch Nacht, sie sind Gefangene einer Arbeit, die dir das Leben verbrennt. (...) Im Demonstrationszug fehlte sowohl das obere Turin im Loden wie das untere Turin, das der MigrantInnen, abgesehen von den FabrikarbeiterInnen. Bis vor 30 Jahren war das Klima bei FIAT Mirafiori das gleiche wie in Porta Nuova (stark migrantisch geprägtes Bahnhofsviertel von Turin)." (Marco Revelli in Il Manifesto, 11.12.2007; deutsch in ak 524)

Prekarisierung trifft den gesamten Arbeitsmarkt

Anfang Dezember 2007 kam es in dem ThyssenKrupp-Stahlwerk in Turin zu einem entsetzlichen Arbeitsunfall mit insgesamt zehn toten Arbeitern. Die Äußerungen Marco Revellis beziehen sich auf diese Katastrophe und die anschließende Protest- und Trauerdemonstration. Man kann in diesen Bemerkungen die Melancholie des Arbeiterhistorikers und engagierten Industriesoziologen angesichts einer gegenüber den 1960er und 1970er Jahren radikal veränderten Klassenwirklichkeit und angesichts des Verlustes eines wesentlichen Bezugspunktes früherer linker Theorie- und politischer Strategiebildung sehen. Und doch markieren Revellis Beobachtungen zwei Aspekte, die für die Diskussion um das "Normalarbeitsverhältnis des 21. Jahrhunderts" und für die neuen ArbeiterInnenkämpfe über Italien hinaus von Bedeutung sind:

1. Was man die alte "fordistische" ArbeiterInnenklasse nennt, ist wie alle anderen Klassensegmente vom Strudel der Prekarisierung und der Verunsicherung der Lebensbedingungen in vollem Umfang erfasst. Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen in der Fabrik sind alles andere als privilegierte Inseln. Prekarisierung ist kein Phänomen von Teilsegmenten des Arbeitsmarktes, sondern berührt alle Facetten und Schichten lohnabhängiger Existenz.

2. Gleichzeitig aber kommen die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Fabrik in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr vor. Die Ignoranz der RepräsentantInnen des "oberen Turins" muss dabei vielleicht nicht irritieren, wohl aber Revellis Beobachtung, dass auch das "untere Turin" die ArbeiterInnen allein gelassen habe. Diese Beobachtung deutet auf tiefe soziale Zerklüftungen innerhalb der Klasse, auf massive soziale Unterschiede innerhalb des Prekarisierungsprozesses hin.

Mit beiden Aspekten hat sich die Gruppe Blauer Montag aus der beschränkten Perspektive eines kleinen Hamburger Diskussionszirkels in den letzten drei Jahren intensiv beschäftigt. Zwei Leitmotive standen dabei im Vordergrund. Zum einen die Beobachtung, dass sich die Angriffe von Staat und Kapital auf die Arbeits- und Reproduktionsbedingungen der lohnabhängig Beschäftigten seit 1998 - dem Beginn der Regierung Schröder-Fischer - bis heute scheinbar ungebrochen und ungebremst fortsetzen. 1998 hatten wir - auch gegen einen linken Katastrophendiskurs von "neoliberaler Deregulierung" - die These vertreten, dass im Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit das reale ArbeiterInnenverhalten der Deregulierung eine Grenze setzen würde, die nicht unterschritten werden könne, wenn das Kapital nicht Produktivitäts- und Qualitätsverluste riskieren wolle. Nun, bis heute scheint diese Grenze zumindest in den Großbetrieben nicht erreicht worden zu sein - Anlass genug, diese alte These zu überprüfen.

Das zweite Leitmotiv unserer Diskussionen knüpfte an der Kritik am linken Prekarisierungsdiskurs an, der oft die großbetrieblichen Strukturen und ihre Veränderungen ausklammert. Prekarisierung wird in dieser Perspektive oft auf die soziale Reproduktion von einzelnen Teilsegmenten der Klasse reduziert, während wichtige andere Bereiche - inklusive der dort geführten Kämpfe - aus der Wahrnehmung wie auch aus der politischen Perspektivendiskussion ausgeblendet werden. Dabei wollen wir nicht einer neuen Zentralität der (großbetrieblichen) "Industriearbeit" das Wort reden, wenn es um die Entwicklung politischer Perspektiven geht. Doch es ist aus unserer Sicht sehr wohl entscheidend, die ganze Komplexität und Vielfalt der Veränderungen der Klassenbeziehungen zu verstehen. Damit ist das Anliegen verbunden, dass sich Diskussionen und Auseinandersetzungen in den unterschiedlichen linken Milieus und Strukturen wieder stärker aufeinander beziehen. Im Moment finden unserer Wahrnehmung nach etwa Diskussionen um den innerbetrieblichen Alltag, um Prekarisierung und um Hartz IV weitgehend isoliert und getrennt von einander statt.

Viele isolierte Kämpfe in den Betrieben

Inzwischen gibt es einen weiteren Aspekt, der in unseren Diskussionen eine Rolle spielt: Wenn man allein die Zeit von 2004 bis heute Revue passieren lässt, so hat es in diesen Jahren ungewöhnlich viele und öffentlich wahrgenommene betriebliche Auseinandersetzungen gegeben: die Kämpfe bei DaimlerChrysler und Opel 2004 mit Straßenblockaden und wilden Streiks, die Auseinandersetzungen bei Siemens/BenQ, bei Karstadt/Quelle, die Streiks bei AEG, bei Bosch-Siemens-Hausgeräte (BSH), bei Gate Gourmet oder die Betriebsbesetzung bei Bike Systems, Warnstreiks und Proteste bei Nokia, Karmann, Heidelberger, der Streik 2006 im Öffentlichen Dienst, die Auseinandersetzungen bei der Telekom und nicht zuletzt der Kampf der Lokführer - die Reihe ließe sich problemlos fortführen. Und doch haben wir nicht den Eindruck, dass wir tatsächlich eine Welle des betrieblichen Protestes erleben. Die Kämpfe verdichten sich nicht zu einer Bewegung, sondern bleiben bisher isoliert und getrennt, trotz punktueller Versuche der Vernetzung wie bei Gate Gourmet im transnationalen oder bei BSH im bundesdeutschen Maßstab und obwohl ver.di in der Tarifrunde 2008 des Öffentlichen Dienstes erstmals seit vielen Jahren wieder gezwungen war, auf die in den Lokführerstreiks artikulierten gewachsenen sozialen Ansprüche zu reagieren.

Gleichzeitig scheint es so etwas wie eine neue gesellschaftliche Grundstimmung zu geben: eine neue "Gerechtigkeitsdiskussion", ein Bewusstsein von einer tiefen Spaltung in Arm und Reich, eine breite Akzeptanz von Streiks gegen Werksschließungen oder auch für höhere Löhne, das Erstarken der Linkspartei, Mindestlohndiskussion etc. Aber auch hier ist die Gemengelage eher unübersichtlich: Einerseits könnte das darauf hindeuten, dass die sozialstaatlichen Deregulierungsmaßnahmen der Agenda 2010 an eine vorläufige Grenze gestoßen sind. Andererseits findet der soziale Protest nicht auf der Straße statt. Wenn überhaupt, artikuliert er sich eher passiv und äußerst untergründig. (1)

Wenn wir uns in unseren Diskussionen um diese Fragen bewegt haben, so ist das weder systematisch noch mit verallgemeinerbaren Erkenntnissen geschehen. In unserem Bemühen, etwas darüber zu erfahren, wie sich in den letzten zehn bis 20 Jahren der Arbeitsalltag in den Betrieben und Büros verändert hat und wie diese Veränderungen subjektiv durch die ArbeiterInnen wahrgenommen und verarbeitet worden sind, haben wir uns zunehmend in der Situation gesehen, die Klassenrealität in den Fabriken und Büros nur noch bruchstückhaft, stark durch Zufälligkeiten und politische Vorprägungen gefiltert wahrnehmen zu können. In der wissenschaftlichen wie auch in der politischen, betriebslinken Diskussion gibt es inzwischen kaum noch Strukturen und organisierte Zusammenhänge, auf die wir uns hätten beziehen können. So sind unsere Zugänge immer vereinzelte Momentaufnahmen und Erfahrungsberichte gewesen. Entsprechend schlaglichtartig fallen unsere Ergebnisse aus. (2)

Seit Jahren wird in Betrieben und öffentlichen Verwaltungen mit internen marktförmigen Beziehungen und Abläufen experimentiert. Stichworte wie "Profit-Center" und "Projektorganisation" stehen dafür, dass Arbeitsprozesse so organisiert und zerlegt werden, dass sie detailliert finanziell erfasst und bewertet werden können. Jedem Arbeitsabschnitt, jeder Abteilung und jeder Beschäftigten sind damit Kosten- und Gewinnwirkungen zurechenbar. Dieses betriebsinterne "Benchmarking" ist zum einen ein Instrument, den Druck auf die Beschäftigten zu erhöhen und die Konkurrenz zwischen Gruppen und Abteilungen und unter den einzelnen ArbeiterInnen zu verschärfen. Jedes Projekt, jedes Produkt, jeder Arbeitsschritt muss sich rechnen. Gleichzeitig sind standardisierte (Qualitäts- und Quantitäts-)Vorgaben und Merkmale sowie immer neue Dokumentationssysteme die Grundlage für (finanzielle) Vergleichbarkeit und damit für Überlegungen, ob Dienstleistungen und Produkte intern erstellt oder extern eingekauft werden sollen, ob Löhne und Prämien "zu hoch" sind etc. Auch wenn auf diese Weise die Stoppuhr des tayloristischen Vorarbeiters durch die nüchternen Zahlen ökonomischer Kosten-Nutzen-Zuweisung ersetzt werden - der Druck auf und die Kontrolle über die Beschäftigten im Arbeitsprozess haben dadurch nicht abgenommen, eher im Gegenteil.

Wir haben den Eindruck, dass eine Ökonomisierung innerbetrieblicher Arbeitsabläufe und Beziehungen in diesem allgemeinen Sinn eine flächendeckende Erscheinung ist, auch wenn der Grad und die Muster der Umsetzung von Betrieb zu Betrieb und von Branche zu Branche differieren. Besonders intensiv scheint dieser Prozess in Dienstleistungs- und Angestelltenbetrieben entwickelt zu sein, doch gerade in Großbetrieben, in denen es eine längere Erfahrung mit dieser Art von Ökonomisierung und Kontrolle gibt, wird sie auch als ideologischer Hype und kontraproduktive Bürokratisierung erlebt: "80 Prozent aller Großprojekte werden mehr oder weniger gegen die Wand gefahren." - "Letztlich klappt immer irgendwas nicht." Die "schlanke Produktion" scheint ein erhebliches Maß an Bürokratie mit sich zu bringen, das von den Beschäftigten als absurd wahrgenommen und mit Gleichgültigkeit quittiert wird.

Etwas anders scheint die Situation in den Bereichen zu sein, die vorher eher "marktfern" und "behördlich/bürokratisch" organisiert waren, etwa in der öffentlichen Verwaltung oder im Sozialbereich. Hier wird der Ökonomisierungsschub von den Beschäftigten stärker als direkter Druck zur "Kostendämpfung" wahrgenommen, der sie zudem permanent in Widerspruch zu den eigenen Vorstellungen/Ansprüchen an Qualität bringt: "Wir dokumentieren permanent Qualität und halten die Standards ein, und gleichzeitig geht es den Patienten immer schlechter." - "Wir verbringen mehr Zeit damit, Dokumentationsbögen auszufüllen als unsere eigentliche Arbeit zu machen." Während also Beschäftigte im Krankenhaus die Qualität ihrer Arbeit daran messen, dass sich PatientInnen "wohl fühlen", schnell und umfassend gesund werden, freundlich betreut werden etc., werden von ihnen stattdessen formalisierte und standardisierte Qualitätsmerkmale abgefordert, die sich messen, erfassen und objektiv vergleichen lassen. Gerade im Sozialbereich scheint diese Diskrepanz zwischen dem eigenen Verständnis von "guter Arbeit" und den betriebswirtschaftlich vorgegeben Merkmalen/Kennzahlen eine Quelle von Entfremdung und Unzufriedenheit zu sein. Der Arbeitsablauf folgt nicht mehr den Notwendigkeiten, die aus der Arbeit erwachsen, sondern Kriterien, die sich aus ökonomischen Zwängen außerhalb des Arbeitsalltags ergeben.

"Schlanke Produktion" bringt Bürokratisierung

Egal in welcher Art und Weise organisiert, ist der kapitalistische Arbeitsprozess ein Kampf um die Kontrolle des Kapitals über die lebendige Arbeit. Die Produktion und Aneignung von Mehrarbeit und Mehrwert setzt voraus, dass sich lohnabhängig Beschäftigte als Träger der Ware Arbeitskraft den kapitalistischen Leistungs- und Produktivitätsnormen unterwerfen, dass ihre Widerspenstigkeit kontrolliert oder nach Möglichkeit sogar in die Mehrwertproduktion integriert wird. Vielfach wird übersehen, dass das auch früher nie reibungslos geklappt hat und dass auch die Kontrolltechniken des Taylorismus immer auf diese Widerspenstigkeit trafen und entsprechend fragil und differenziert waren. (3) Die Methoden, mit denen Herrschaft und Kontrolle im Arbeitsprozess organisiert werden, waren und sind höchst verschieden. Bis heute hat sich im betrieblichen Alltag kein durchgängiges Muster, Modell oder Paradigma durchgesetzt; tayloristische oder gar "hypertayloristische" Kontrollmechanismen stehen neben Methoden einer "indirekten Steuerung", die im Rahmen gewisser Autonomiespielräume auf den "Unternehmer im eigenen Kopf" setzen, auf die Selbstaktivierung und Selbststeuerung der Beschäftigten im Profitinteresse.

Der Begriff der "indirekten Steuerung" als "Selbststeuerung" entlang ökonomischer Gewinn-und-Verlust-Überlegungen, die von außen gesetzt und als unveränderbare Sachzwänge wahrgenommen werden, hat als neue Managementtechnik vor allem im Dienstleistungsbereich eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Zeitweise war sogar von einem Paradigmenwechsel der Managementtechniken im Betrieb die Rede. (4) Mal abgesehen davon, dass diese Diskussion inzwischen etwas abgeflaut ist, haben wir den Eindruck, dass mit der exklusiven Orientierung auf "indirekte Steuerung" der Blick auf Herrschaft und Kontrolle im Betrieb verengt wird. Während Kontroll- und Unterwerfungstechniken in den unterschiedlichen betrieblichen Alltagen durchaus und flächendeckend eine Rolle spielen, können unserer Erfahrung nach nur wenige mit dem expliziten Begriff der "indirekten Steuerung" etwas anfangen.

Wenn überhaupt, spielt "indirekte Steuerung", verstanden als (teil-)autonome "Selbststeuerung" der Beschäftigten, explizit nur in Angestelltenbereichen eine Rolle. In Arbeiterbereichen wie dem Bau oder dem Hafen kommt sie entweder nicht vor ("Gab's nicht und gibt's nicht") oder wird als solche nicht wahrgenommen. Auch im Bereich der Automobilproduktion sind die relativen Gestaltungsspielräume der Gruppenarbeit inzwischen weitgehend eingeschränkt worden. In den Briefzentren der Post existieren neben Formen der Gruppenarbeit ebenfalls die Arbeitstakte des Fließbandes. Schließlich existieren Momente einer "Selbststeuerung" in bestimmten Bereichen schon lange, etwa als Verantwortung und Rücksichtnahme von Beschäftigten in Krankenhäusern und Sozialberufen gegenüber PatientInnen und Hilfesuchenden, was damals wie heute oft genug die selbstbestimmte Unterwerfung unter die Unternehmensziele befördert hat.

Unabhängig vom Label gibt es sehr wohl ein allgemeines Bewusstsein darüber, dass Spiel- und Freiräume im Arbeitsalltag im Laufe der Zeit verschwunden sind. Arbeitsverdichtung und rigide Zeit- und Prozessvorgaben (Bandgeschwindigkeiten, eingesparte Springer, festgelegte und getaktete Arbeitsabläufe, Überstunden, um niedrigere Löhne und Gehälter auszugleichen etc.) spielen hier eine Rolle, aber auch die Einbindung in die Unternehmensziele über die Auflösung standardisierter Arbeitszeiten, über die Identifizierung mit der Arbeit und über fachliche Qualifizierung und entsprechende Lohnhierarchien. Außerdem hat offenbar die Formalisierung in der Arbeitsorganisation dazu geführt, dass die Spielräume verschwunden sind, die die eher personalisierten Hierarchien zwischen Chefs/Meistern und ArbeiterInnen neben aller Willkür auch eröffnet hatten und die bei den ArbeiterInnen zu zusätzlichem Engagement jenseits der Vorgaben geführt hatten. Die heute vorherrschende betriebswirtschaftliche "Nüchternheit" ist in sich auch ein Grund dafür, dass sich die Beschäftigten den Unternehmensvorgaben wie den Vorgesetzten gegenüber "reservierter" und "weniger motiviert" verhalten.

"Hypertaylorismus" neben "indirekter Steuerung"

Abgesehen von den deutlichen Unterschieden zwischen Angestellten- und ArbeiterInnenbereichen haben wir den Eindruck, dass die Art und Weise der Kontrolle und des Zugriffs "auf das Gold in den Köpfen" der Beschäftigten sehr davon abhängt, ob es sich um Tätigkeiten im Entwicklungsprozess oder eher in der unmittelbaren Produktion handelt, ob und wie kommunikationsintensiv der Arbeitsbereich ist, wie komplex der Produktionsprozess ist etc. Ein schillernder und letztlich auch nicht eindeutig abgrenzbarer Begriff wie die "indirekte Steuerung" ist in diesem Zusammenhang wenig hilfreich. Es geht nicht um eine bestimmte, allgemeine Form der Neuorganisation der Arbeit, sondern entsprechende Managementstrategien sind selbst eher "Projekte". Wenn eine "neue Unternehmenskultur" nicht passt, wird sie verworfen. Die Geschichte der Gruppenarbeit in der Automobilindustrie ist dafür ein gutes Beispiel. Gleichermaßen "projekthaft" und experimentell ist der innerbetriebliche Widerstand gegen die unterschiedlichen Kontrolltechniken, auch wenn man getrost davon ausgehen kann, dass von der Durchleuchtung, Erfassung und Messung aller Arbeitsschritte bis hin zur teilautonomen Projektarbeit die Arbeitsorganisation als Kontrolltechnik und Hamsterrad durchaus wahrgenommen wird. Der Umstand, dass die Wut über die Herrschaftstechniken im Betrieb bisher scheinbar nur bei dem Streik bei Gate Gourmet in Düsseldorf 2005/2006 explizit ein wichtiges Moment im Arbeitskampf gewesen ist, hängt unseres Erachtens nicht zuletzt damit zusammen, dass dieser Streik einer der wenigen war, wo einmal genau hingeschaut wurde. (5) Bei ähnlich sorgfältiger Analyse würde man unter Umständen auch in anderen betrieblichen Auseinandersetzungen auf den Protest gegen den Terror der innerbetrieblichen Kontrollsysteme treffen.

In unterschiedlichen Varianten (Verlagerungen an andere Standorte, Ausgründung von Betriebsteilen, Fremdvergabe, Sondertarifierungen etc.) haben die Beschäftigten in nahezu allen Betrieben und Branchen mit Auslagerungen und Auslagerungsdrohungen zu kämpfen. In vielen Fällen waren und sind drohende Werksschließungen im Zusammenhang mit Produktionsverlagerungen eines der treibenden Motive für Protest- oder gar Streikaktionen. Auf Veranstaltungen und in Gesprächen werden Auslagerungen meistens im Kontext von Schwächung und Spaltungen diskutiert: Betriebliche Machtpositionen werden geschwächt, Arbeitsbedingungen verschärft, Löhne gesenkt, Belegschaften gespalten und aus dem Betrieb gedrängt (etwa durch Ausgründungen und Sondertarifierungen). Schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne drohen dabei beiden Seiten - den ausgelagerten/ausgegründeten KollegInnen wie den verbliebenen "Kernen".

"Selbststeuerung" - mehr Hype als Realität

In Verbindung mit Auslagerungsprozessen und den vielfältigen Sondertarifen gibt es inzwischen vielfältige Spaltungslinien sowohl innerhalb der Betriebe ("alte" und "neue" Beschäftigte) als auch zwischen "Drinnen" und "Draußen". Diese Spaltungen erscheinen als Preis für relativ stabile Lohnverhältnisse in den Kernbereichen der Unternehmen, obwohl auch dort die Löhne im Laufe der letzten Jahre kontinuierlich abgesenkt worden sind. Die relative Hochlohninsel, die etwa der Hafen in Hamburg - auch vor dem Hintergrund eines ungebrochenen Booms in dieser Branche - darstellt, liegt in einem Meer aus ausgegründeten und nicht oder sondertarifierten Betrieben, für die der Hafentarif nicht mehr gilt, obwohl sich die dort geleistete Arbeit in nichts von der eigentlichen Hafenarbeit unterscheidet.

Unserer Erfahrung nach erfolgt die Thematisierung von Ver- und Auslagerungen in aller Regel aus einer großbetrieblichen "Kernbelegschaftsperspektive" heraus. In der Konsequenz geraten die outgesourcten KollegInnen selbst den BetriebsaktivistInnen schnell aus dem Blick. (6) Dies ist umso erstaunlicher, als die ständig steigende Anzahl von LeiharbeiterInnen und Beschäftigten von Fremdfirmen etwa in der Automobilindustrie oder bei Airbus unübersehbar ist. Der Beschäftigungsboom bei EADS/Airbus in Hamburg-Finkenwerder ist nahezu ausschließlich auf das Konto Tausender Leiharbeitsplätze gegangen. In einzelnen VW-Werken wird teilweise bereits eine von drei Produktionslinien komplett mit LeiharbeiterInnen aus der VW-eigenen Leiharbeitsfirma Autovision gefahren. Im Arbeitsalltag sind die "FremdkollegInnen" keineswegs Wesen vom anderen Stern, teilweise besteht ein enger Arbeitskontakt. Aber ein irgendwie geartetes aktives politisches Verhältnis besteht kaum oder gar nicht. (7)

Dabei spalten Auslagerungsprozesse keineswegs nur (ehemalige) KollegInnen in Fremdfirmen und Subunternehmen ab, sie verändern auch die "Kernbelegschaften": Die Stammbelegschaften werden in die Auslagerungsprozesse eingebunden. Als ArbeitskoordinatorInnen leiten sie nunmehr outgesourcte KollegInnen an, kontrollieren sie mitunter sogar im globalen Rahmen. Die "Kernbelegschaften" werden nicht nur in ein neues Verhältnis zu den ausgelagerten KollegInnen gesetzt, von ihnen wird oft ebenfalls eine höhere Mobilität erwartet und verlangt. Nach unserem Eindruck wird diese Mobilität in der Tendenz eher als Belastung denn als Gratifikation empfunden. (8)

Ein weiterer Punkt hat in unseren Diskussionen eine Rolle gespielt. Outsourcing bedeutet nämlich keineswegs immer und für jeden (sozialen) Abstieg. Es gibt durchaus Beispiele dafür, dass outgesourcte und verselbstständigte Betriebsteile als neue Firmen konkurrenzfähig sind und eine "Erfolgsgeschichte" schreiben können. Für Einzelne kann das einen Karrieresprung bedeuten, zum Beispiel im Fall von ehemaligen Angestellten, die im "neuen Unternehmen" Leitungsfunktionen und/oder neue Aufstiegschancen haben. In diesem Zusammenhang gilt es auch, die zeitliche Perspektive zu beachten, wenn wir die Konsequenzen einzelner unternehmerischer Strategien beurteilen wollen. Ob die Unternehmensziele, die mit Auslagerung erreicht werden sollen, wirklich erreicht werden, kann unter Umständen erst nach einer gewissen Zeit wirklich beurteilt werden.

Die ArbeiterInnenklasse ist weder ein statisches noch ein homogenes Gebilde oder Konstrukt von SoziologInnen. Sie ist ein sozialer und politischer Prozess. Dass sie im Laufe und in Folge der Entwicklung des kapitalistischen Produktionsprozesses permanent zer- und neu zusammengesetzt wird, ist eine linke Binsenweisheit. In der Beschreibung des Opel-Streiks in Bochum im Herbst 2004 hatten Wolfgang Schaumberg und Uwe Lübke darauf hingewiesen, dass es vor allem die 30- bis 35-Jährigen waren, die die Aktionen während des wilden Streiks getragen haben: ArbeiterInnen, die von den alten betriebslinken Strukturen eigentlich gar nicht mehr angesprochen werden und die für sich häufig gar keine dauerhafte Perspektive in einem Großbetrieb wie Opel sehen. (9) Die Neuzusammensetzung der Belegschaften bedeutet also keineswegs, dass die Kämpfe im Betrieb verschwinden. Doch unter Umständen treten neue Akteure mit neuen und anderen Kampfformen auf den Plan.

"Neue Unternehmenskultur" - eine ideologische Blase

Es scheint, als hätten die Neueinstellungen der letzten Jahre, insbesondere in den Boombranchen, zu einer Verjüngung der Belegschaften geführt. Ältere Beschäftigte sind über Altersteilzeit- und Vorruhestandsmodelle aus den Betrieben gedrängt bzw. herausgekauft worden. Trotz der inzwischen überall vorhandenen Tarifdifferenzierungen werden dabei die Lohnbedingungen in den Stammbetrieben von Teilen der Neueingestellten - etwa ehemalige Erwerbslose oder UmschülerInnen, Frauen, Leute aus Ostdeutschland, Unständige/HilfsarbeiterInnen - als gar nicht so schlecht empfunden. In vielen Fällen scheint es für die Beschäftigten in erster Linie wichtig zu sein, einen "Fuß in der Tür" zu haben und im Laufe der Zeit gegebenenfalls aufzusteigen, in höhere Lohngruppen oder in eine Festanstellung.

Das ist bei denjenigen, die als LeiharbeiterInnen oder Beschäftigte von Subunternehmen und Fremdfirmen in die Betriebe kommen, deutlich anders, auch wenn die Hoffnung auf Übernahme und Festanstellung insbesondere bei LeiharbeiterInnen sicher vorhanden ist. Es scheint so zu sein, dass ausgelagerte, enttarifierte und prekarisierte KollegInnen oft als willfähriger und angepasster wahrgenommen werden und im Verdacht stehen, sich unter Umständen als "Schmutzkonkurrenz" instrumentalisieren lassen (beispielsweise ostdeutsche Subunternehmen auf Baustellen). (10) Ähnlich wurden und werden von Seiten der Betriebs- und Gewerkschaftslinken Werksneugründungen, wie das neue Opel-Werk in Eisenach, der neue Container-Terminal in Hamburg-Altenwerder oder die VW-Tochter Auto 5000 beurteilt, in denen - teilweise auf der grünen Wiese - komplett neue, unerfahrene Belegschaften unter Sondertarifbedingungen eingestellt worden sind. (11) In erster Linie wurden hier die Gefahr des Lohn- und Tarifdumpings und eine betriebsinterne Deregulierungsstrategie gegen Beschäftigte der Kernbereiche gesehen. (12)

Das VW-Projekt Auto 5000 kann als Prototyp für eine Managementstrategie angesehen werden, die mit komplett neuen Belegschaften, Sondertarifen und neuen Arbeitsstrukturen versucht, bisherige Tarife, Arbeitsbedingungen und Arbeitsabläufe aufzuknacken und zu flexibilisieren. Der "neue Arbeitnehmertypus" - voll flexibel und selbstverantwortlich handelnd im Interesse des Unternehmens - war dabei eine wichtige ideologische Bezugsgröße. Zunächst als Modell 5000 x 5000, später als Auto 5000 ist im Jahr 2001 eine VW-eigene Tochterfirma gegründet worden, die auf dem Werksgelände in Wolfsburg eigenständig den Touran produziert. Bei unserer ersten Veranstaltung zu Auto 5000 im Jahr 2002, zu der wir einen Betriebsrat des VW-Stammwerks in Hannover eingeladen hatten, stand die Kritik an den mit dem Modellprojekt verbundenen Angriffen auf Löhne und Arbeitsbedingungen im Vordergrund: abgesenkte Neueinsteigertarife für die 5.000 neu eingestellten, ehemals erwerbslosen Beschäftigten; unentgeltliche Nacharbeit bei fehlerhafter Arbeit; Zwang zur Dokumentation eines jeden Handgriffs, Krankenrückkehrergespräche etc.

Vermehrter Druck durch Modelle wie Auto5000

Sechs Jahre später, bei einer Diskussion mit einer Arbeiterin von Auto 5000 im April 2007 haben sich die Perspektiven um einiges verschoben (13): Zum einen haben sich die Versprechungen der Geschäftsführung - Einstellung von Menschen mit "Vermittlungshemmnissen", Weiterbildungsmöglichkeiten, ganzheitliche Produktion und Rotationsprinzip, weitgehend einheitliche Löhne - als heiße Luft herausgestellt: In der Tat sind die Beschäftigten von Auto 5000 ehemalige Erwerbslose, doch im Wesentlichen ist die Beschäftigungsstruktur durch jüngere ArbeiterInnen und Gelernte geprägt. Ältere, Menschen mit "Vermittlungshemmnissen", Ungelernte etc. sind deutlich unterrepräsentiert. Einflussmöglichkeiten der Beschäftigten auf die Qualifizierungsinhalte oder die Berücksichtigung ihrer Wünsche und Interessen gibt es nicht. Das Rotationsprinzip innerhalb der Gruppenarbeit ist inzwischen faktisch abgeschafft worden. Grund dafür ist vor allem, dass zunehmend KollegInnen chronisch krank und angeschlagen sind und nicht mehr für jede Tätigkeit eingesetzt werden können. Insbesondere die belastendsten Arbeiten konzentrieren sich auf eine immer kleinere Zahl von Beschäftigten. Damit steigt der Druck in den Gruppen. Bisher werden kranke KollegInnen noch nicht gegenüber den Meistern als "arbeitsuntauglich" gemeldet, doch der Wunsch der KollegInnen ist spürbar, sie sollten sich doch selbst krank melden - was diese aus Angst vor Repressalien nicht tun. Und auch die egalitäre Lohnstruktur wird inzwischen aufgeweicht: Auch bei Auto 5000 gibt es jetzt LeiharbeiterInnen aus dem VW-Leiharbeitspool Autovision, die deutlich weniger verdienen.

Was sich in der Praxis ebenfalls als ideologische Blase herausgestellt hat, ist die Propaganda vom neuen ArbeiterInnentypus und von der neuen Unternehmenskultur. Faktisch hat die neuen ArbeiterInnen bei Auto 5000 der direkte Druck genauso eingeholt wie in anderen VW-Werken. Das hohe Arbeitstempo, das sie aus Unerfahrenheit zu Beginn vorgelegt hatten, ist sofort mit der Abschaffung von Leertakten und höheren Bandgeschwindigkeiten bestraft worden. Wurden die Bänder anfangs bei Störungen noch angehalten, laufen sie inzwischen durch, egal was passiert. Die unentgeltliche Nacharbeit funktioniert in der Praxis eher als Drohkulisse. Qualitätsprobleme werden innerhalb der regulären Arbeitszeit behoben - um den Preis einer erheblichen Arbeitsverdichtung für die gesamte Gruppe. Bedeutsamer ist der Umstand, dass jeder Arbeitsgang gestempelt werden soll, um die Verantwortlichkeit für eventuelle Fehler feststellen zu können. Am Ende wird überprüft, ob die Stempel von allen Gruppenmitgliedern vorhanden sind. Ist das nicht der Fall, muss der fehlende Stempel entweder eingefordert werden, oder der/die Letzte stempelt selbst und hält damit den Kopf für die Qualität hin. Offenbar wird diese Stempelei als selbstverständliche Pflicht aufgefasst - im Gegensatz zu den VW-Beschäftigten in den Stammwerken. Dort gibt es solche Stempelsysteme nicht bzw. würden sich nicht ohne massive Konflikte durchsetzen lassen. (14)

Spaltung in "alte" und "neue" Beschäftigte

Bei den ehemals Erwerbslosen und jetzigen VW-Beschäftigten sind die hohen Erwartungen der Anfangszeit genauso verflogen wie das Gefühl, als eineR von 3.000 "Auserwählten" von 43.000 BewerberInnen etwas Besonderes zu sein. Die Begeisterung über die Arbeit in der großen Fabrik und über die Technik ist dem Alltagsstress gewichen. Diese Ernüchterung hat dazu beigetragen, dass sich unter den "ehemaligen Arbeitslosen" (abfällig gemeinter Standardspruch von IG-Metall-FunktionärInnen gegenüber Auto-5000-ArbeiterInnen) nach und nach ein kämpferisches Selbstbewusstsein herausgebildet hat. Im Herbst/Winter 2006/2007 kam es bei Auto 5000 zu eigenständigen Tarifforderungen und Warnstreiks, an denen sich bis zu 4.000 KollegInnen beteiligten. Es ging vor allem um höhere Löhne und darum, den Druck in den Gruppen zu mindern. Dabei haben die Auto-5000-ArbeiterInnen auf einer eigenen Interessenvertretung bestanden und sind so in einen massiven Konflikt zur IG Metall und dem VW-Betriebsrat geraten. Bei Auto 5000 gibt es keinen eigenen Betriebsrat und keine eigenen Vertrauensleute. Wie Autovision wird auch Auto 5000 vom VW-Betriebsrat und den VW-Vertrauensleuten "mit bedient".

Auto 5000 ist nicht nur ein Beispiel für den Widerspruch zwischen Mythos und Realität moderner Managementstrategien. Es ist auch ein Beispiel dafür, dass "neue Belegschaften" und neue Formen der Arbeitsorganisation keineswegs Friedhofsruhe in den Betrieben bedeuten. Dennoch ist es wichtig, zu bemerken, dass ein bedeutender Teil der betrieblichen Auseinandersetzungen und Streiks der letzten Jahre in den "Kernbereichen" in Industrie und Öffentlichem Dienst geführt worden ist. Doch auch wenn es nicht unbedingt die "prekär" Beschäftigten und "Randbelegschaften" sind, die zurzeit die Mehrzahl der Streiks prägen, so lässt sich doch eine Neuzusammensetzung der betrieblichen Auseinandersetzungen feststellen. In diesem Zusammenhang sind etwa die Streiks im ostdeutschen Wach- und Sicherheitsgewerbe oder im Einzelhandel ebenso von besonderem Interesse wie die Entwicklung der betrieblichen Auseinandersetzungen im Dienstleistungsbereich. (15)

In den momentanen Kämpfen wehren sich die Beschäftigten vor allem gegen Werkschließungen und Auslagerungen oder gegen die Verschlechterung tariflicher Lohn- und Arbeitsbedingungen. Über andere oder untergründigere Motive in diesen Kämpfen wissen wir wenig bis nichts, ebenso wenig wissen wir darüber, wie die jeweiligen Kampf- und Verhandlungsergebnisse verarbeitet worden sind. Generell scheint es aber so zu sein, dass keiner der vielen Streiks wirklich und ungebrochen als Erfolg bewertet worden ist oder gar als Indiz für ein neues, offensives Selbstbewusstsein innerbetrieblicher Macht und Stärke. Die breite Aufmerksamkeit und Akzeptanz für den Lokführerstreik 2007 gerade unter ArbeiterInnen und einfachen Gewerkschaftsmitgliedern könnte man vor diesem Hintergrund auch als Unzufriedenheit mit eher ritualisierten Arbeitskämpfen interpretieren, die im besten Falle nur defensiv "das Schlimmste verhindern". Demgegenüber haben in der Wahrnehmung vieler die Lokführer signalisiert, dass sie bereit sind, die eigene betriebliche Macht tatsächlich einzusetzen, nicht um Verschlechterungen abzufedern, sondern um Verbesserungen zu erreichen.

Faktisch sind die zahlreichen Kämpfe der letzten Jahre nicht nur isoliert geblieben, ihnen fehlte - bis auf wenige Ausnahmen - auch das Moment des Selbstbewusstseins, des Vertrauens auf die eigene Stärke, des Bewusstseins, in einer Machtprobe mit den Kapitalisten etwas erreichen zu können. Das hat auch mit der Rolle der Gewerkschaften und den Betriebsratsmehrheiten zu tun. Im Zusammenhang mit dem wilden Streik bei Opel Bochum ist von den AktivistInnen im Betrieb vielfach die These vertreten worden, "dass man den Regelungsstrukturen, die seit Jahrzehnten gängig sind, den Gehorsam verweigert" hat. (16) Das war explizit auf die IG Metall und die Betriebsratsstrukturen im Betrieb gemünzt. Selten zuvor ist der gewerkschaftliche Vermittlungsapparat auch in den Kreisen der linksgewerkschaftlichen BetriebsaktivistInnen so heftig kritisiert worden wie nach den Streiks bei DaimlerChrysler im Sommer und bei Opel Bochum im Herbst 2004.

Die Standortsicherungsverträge bei Daimler wie auch der Abbruch des Streiks in Bochum wurden der jeweiligen Betriebsratsmehrheit und der IG Metall angelastet. Das Bewusstsein war relativ weit verbreitet, dass eine Ausweitung der Streiks ebenso möglich gewesen wäre wie deutlich bessere Verhandlungsergebnisse, dass aber beides von Betriebsratsmehrheit und Gewerkschaft bewusst sabotiert wurde. Aber nicht nur in Stuttgart und Bochum haben Betriebsräte und Gewerkschaften dazu beigetragen, dass Arbeitskämpfe sich nicht entfalten konnten, ihnen die Spitze genommen wurde oder sie schnell in Verhandlungsrunden umgelenkt wurden. Auch der Streik im Öffentlichen Dienst 2006 war mit viel Engagement gestartet worden, bevor ver.di ihn mit Teilverhandlungen und halbherzigen Protestaktionen einschläferte. Für die Beschäftigten endete "der längste Arbeitskampf im Öffentlichen Dienst seit 14 Jahren" mit einem Debakel: längere Arbeitszeiten und ein Tarifwerk, das für die allermeisten Beschäftigten massive Entwertungen der Arbeitsplätze und gravierende Lohn- und Gehaltseinbußen mit sich gebracht hat. (17)

Noch wird die Wut meistens delegiert

So sehr die Legitimationskrise der gesellschaftlichen Vermittlungsinstanzen Gewerkschaften und Betriebsräte erfasst hat, so wenig sind Strukturen und Akteure in Sicht, die an ihre Stelle treten könnten. Auch das hat sich in den Kämpfen der letzten Jahre gezeigt. Denn gleichzeitig sind es in aller Regel aktive Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre, die in den Auseinandersetzungen die erste organisatorische Kraft darstellen. So richtig es ist, dass die betrieblichen Auseinandersetzungen kanalisiert und gebremst werden, so richtig ist es auch, dass sie ohne die gewerkschaftlichen und betriebsrätlichen Strukturen kaum zur Geltung gekommen wären. In diesem Widerspruch werden sich betriebliche Kämpfe und Proteste so lange bewegen, wie es keine autonomen Artikulations- und Organisationsformen der Beschäftigten gibt, etwa in Gestalt apparatsunabhängiger Betriebsgruppen. Insofern spiegelt sich in den Kämpfen der letzten Jahre eine allgemeine gesellschaftliche Tendenz: Die soziale und politische Unzufriedenheit wächst, das Vertrauen in die herrschenden Regulierungsinstitutionen schwindet, aber die Unzufriedenheit findet keine eigene, aktive und kontinuierliche Ausdrucksform. Die Wut wird delegiert - an die Linkspartei oder mangels Alternative eben doch wieder an Betriebsräte und Gewerkschaften.

Wenn unsere Eingangsbeobachtung von der weitgehenden gegenseitigen Isolation sowohl der sozialen Auseinandersetzungen wie auch der sie begleitenden Diskussionen richtig ist, ergäbe sich daraus die Notwendigkeit, die unterschiedlichen Alltagsrealitäten wahrzunehmen und politisch zu diskutieren. Es gilt, die kollektive Organisierung im (betrieblichen) Alltag, wie zersplittert und diskontinuierlich sie sich auch immer darstellt, als bedeutendes politisches Problem zu begreifen. Das wäre eine Voraussetzung dafür, dass in den jeweiligen Kämpfen eine Bezugnahme auf andere Auseinandersetzungen stattfinden kann - etwa in den Streiks auf die Realität der Hartz-IV-EmpfängerInnen oder in den Kämpfen prekarisierter Selbstständiger auf die Betriebsbesetzung bei Bike Systems usw.

Gruppe Blauer Montag

Anmerkungen:

1) Etwas überspitzt formuliert hat der Protest gegen Agenda 2010 und Hartz IV binnen weniger Monate das - aktive - Bewegungsmoment übersprungen und sich sofort - passiv - parteiförmig artikuliert, ein Prozess, für den die Ökologiebewegung Jahre gebraucht hat.

2) Neben unseren eigenen Erfahrungen im betrieblichen Alltag, als prekäre Selbstständige oder als abhängig Beschäftigte (in kleinen und mittelständischen Betrieben, in Teilen großbetrieblicher Strukturen oder in Unternehmen des Wohlfahrts- und Sozialbereichs) beziehen wir uns im Folgenden auf Veranstaltungen, die wir mit BetriebsaktivistInnen - etwa von Opel Bochum oder von VW und Auto 5000 - durchgeführt haben, sowie auf eine Fragebogenaktion, mit der wir uns im Jahr 2005/2006 an Freunde und Bekannte in eher traditionellen Großbetrieben gewandt haben. Geantwortet haben uns Leute aus dem Hafen, Baugroßbetrieben, EADS/Airbus, der Post und aus einem Krankenhauskonzern. Teilweise waren die Angesprochenen im Betrieb politisch aktiv, teilweise nicht. Teilweise haben sie aus einer Angestelltenperspektive, teilweise aus einer ArbeiterInnenperspektive geantwortet.

3) Vgl. Peter Birke: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt am Main/New York 2007.

4) Auslöser für diese Diskussionen in den Gewerkschaften (Glißmann-Debatte) war ein Projekt des Betriebsrats bei IBM in Düsseldorf. Dort war es nach der Einführung der Vertrauensarbeitszeit zu einer massiven "selbstbestimmten" Entgrenzung der Arbeitszeiten vor allem im Angestelltenbereich gekommen, verbunden mit einer auffälligen Zunahme psychosomatischer Erkrankungen bei den Beschäftigten. Vgl. IG Metall (Hg.): Mit Haut und Haaren. Der Zugriff auf das ganze Individuum, Denkanstöße, Mai 2000; sowie K. Pickshaus/H. Schmitthenner/H.-J. Urban (Hg.): Arbeiten ohne Ende. Neue Arbeitsverhältnisse und gewerkschaftliche Arbeitspolitik, Hamburg 2001.

5) Flying Pickets (Hg.): Auf den Geschmack gekommen. Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet, Hamburg/Berlin 2006. Siehe insbesondere den Abschnitt "Die Produktion des Streiks", S. 98-145.

6) Beschäftigte von über 50 unterschiedlichen Unternehmen arbeiten auf dem Werksgelände von Opel Bochum. Dennoch hat es offenbar selbst während des wilden Streiks im Herbst 2004 kaum oder gar keine Kontakte zu diesen Beschäftigten gegeben. Vgl. "Die Kollegen haben den Gehorsam verweigert". Der Streik bei Opel und die Rolle linker Betriebspolitik, in: ak. analyse & kritik, Nr. 491, 21.1.05.

7) In diesem Zusammenhang kommt der aktuellen Leiharbeitskampagne der IG Metall eine besondere Bedeutung zu. Ob sich hier tatsächlich eine grundlegend neue Haltung der Gewerkschaft zu sogenannten "Randbelegschaften" andeutet, muss sich noch zeigen.

8) Die permanente Jetterei zwischen Europa, Asien und den USA ist nur auf den ersten Blick attraktiv. Mal abgesehen davon, dass die Leute kaum noch zu Hause sind, ist es auch wenig lustig, wenn man seinen KollegInnen eher am Flughafen begegnet als am Arbeitsplatz, wie es ein Airbus-Angestellter einmal zynisch formuliert hat.

9) "Nur noch als Teil einer sozialen Bewegung". Über Hoffnungen, Realität und Perspektiven linker Betriebsarbeit, in: ak. analyse & kritik, Nr. 492, 18.2.05.

10) Eine solche Abwehrhaltung scheint allerdings nicht durchgängig vorzuherrschen. In einigen VW-Stammwerken wird die Stimmung der "alten Beschäftigten" gegenüber den LeiharbeiterInnen noch als weitgehend solidarisch beschrieben.

11) Für den neuen Container-Terminal in Hamburg-Altenwerder hat sich herausgestellt, dass der Betrieb mit ausschließlich neuen Beschäftigten nicht funktioniert hat. Die Hafenunternehmer mussten zumindest teilweise auf erfahrene ArbeiterInnen zurückgreifen.

12) ArbeiterInnen von Auto 5000 beschreiben, wie sehr es sie nervt, von den Stammbelegschaften in erster Linie als Lohndrücker wahrgenommen zu werden: "Wir konnten da ja nichts für, haben das aber immer abgekriegt. Das war das Bösartige: Unverschuldet den Buhmann zu machen" ("Irgendwann interessiert dich nicht mehr die Technik, sondern das, wozu die Technik dich zwingt". Interview zu VW/Auto 5000 in Wolfsburg, in: Wildcat, Nr. 79, Herbst 2006).

13) Zur aktuellen Situation bei Auto 5000 vgl. auch die Interviews in der Wildcat 79 ("Irgendwann interessiert dich nicht mehr die Technik ...") und Wildcat 80, Winter 2006/2007, S. 34-35 ("Montag bis Samstag Auto 5000 - am Sonntag haben wir Freigang").

14) In der Produktion der VW-Stammwerke wird die Anforderung, einzelne Arbeitsschritte oder -abschnitte gegenzuzeichnen und zu stempeln, in aller Regel schlichtweg ignoriert. Die ArbeiterInnen nehmen die gewünschte Eigenverantwortlichkeit für die Qualitätssicherung nicht an und verschieben sie in die Endkontrolle. Die tatsächliche Ausschussquote ist ihnen im Wesentlichen egal.

15) Gerade in den Sparten der Finanz- und Unternehmensdienstleistungen - in der Vergangenheit nicht unbedingt besonders streikfreudige Branchen - hat in den letzten Jahren die Zahl der Arbeitskämpfe zugenommen. Dabei haben sich auch neue Kampfformen entwickelt; vgl. Peter Renneberg: Die Arbeitskämpfe von morgen? Arbeitsbedingungen und Konflikte im Dienstleistungsbereich, Hamburg 2005.

16) "Die Kollegen haben den Gehorsam verweigert". Der Streik bei Opel und die Rolle linker Betriebspolitik, in: ak, analyse & kritik, Nr. 491, 21.1.05.

17) Der Übergang vom BAT zum TVöD bedeutet insbesondere für viele langjährig beschäftigte KollegInnen im Sozialbereich massive Lohneinbußen. Dort erfolgt die Beschäftigung vielfach im Rahmen fremdfinanzierter, aufeinander folgender und zeitlich befristeter Projekte. Beim Übergang von einem befristeten Projekt zum nächsten werden die KollegInnen jetzt wie NeueinsteigerInnen behandelt und entsprechend schlechter bezahlt.