Schmutziger Tauschhandel
Italien und Libyen koordinieren Maßnahmen gegen Einwanderung nach Europa
Italien setzt die Anerkennung seiner Kolonialvergangenheit politisch "gewinnbringend" ein: Es benutzt sie als Tauschmittel gegen eine Mitwirkung seiner ehemaligen Kolonie Libyen bei den Bemühungen, unerwünschte ZuwanderInnen vom europäischen Boden fernzuhalten. In Libyen werden MigrantInnen auf menschenrechtswidrige Weise behandelt. Mit dem neuen "Freundschafts- und Kooperations-Abkommen" zwischen beiden Staaten erweise sich Libyen als "(über)eifriger Auftragnehmer Europas", schreibt das in Paris erscheinende panafrikanische Wochenmagazin Jeune Afrique.
Die Geschichtspolitik der regierenden italienischen Rechten sorgt immer mal wieder für Schlagzeilen. Anfang September löste der neofaschistische Bürgermeister von Rom, Gianni Alemanno, bei seinem Staatsbesuch in Israel einen mittelschweren Skandal aus, als er erklärte, der Faschismus sei "nicht das absolut Böse gewesen", wie Jahre zuvor sein Parteifreund Gianfranco Fini formuliert hatte. Viele Menschen, so Alemanno, hätten den Faschismus "in gutem Glauben unterstützt" und dürften nicht "mit einer solchen Definition" abgestempelt werden.
Nur wenige Tage zuvor, am 30. August, hatte Regierungschef Silvio Berlusconi bei seinem Staatsbesuch in Libyen einen ganz anderen Akzent gesetzt: Er entschuldigte sich offiziell, im Namen der Nation, für die von Italien in Nordafrika begangenen Kriegsverbrechen. Italien war vor allem in den heutigen afrikanischen Staaten Libyen, Äthiopien und Somalia als Kolonialmacht aufgetreten. Dabei war Libyen zwar bereits 1911 erobert worden, wurde aber besonders in der Ära der faschistischen Diktatur gewaltsam unterworfen. Historiker vermuten, dass damals 20.000 NordafrikanerInnen aufgrund ihres Widerstands gegen die Kolonialherrschaft getötet und 100.000 in Wüstenlager deportiert worden sind. Von Letzteren starb knapp die Hälfte an Entbehrungen, Epidemien oder bei Hinrichtungen.
Berlusconis Entschuldigung für Kriegsverbrechen
Berlusconi sagte bei seinem Schuldeingeständnis auch italienische Entschädigungszahlungen von fünf Milliarden US-Dollar für die nächsten 25 Jahre zu. Pro Jahr wird Italien 200 Millionen US-Dollar in die libysche Infrastruktur investieren. Dazu zählen der Bau einer Autobahn in Ost-West-Richtung entlang der Küste von der tunesischen bis zur ägyptischen Grenze sowie die Errichtung "einer großen Anzahl" von Sozialwohnungen. Rom verspricht ferner, Stipendien an libysche Studierende zu vergeben sowie Minenopfern - die durch die einst von Italienern verlegten Anti-Personen-Minen verletzt wurden - Versehrtenpensionen zu zahlen. Die Vorbereitungsarbeiten zu dem jetzt unterzeichneten "Freundschafts- und Kooperations-Abkommen" waren in Italien bereits durch die Vorgängerregierung unter dem Mitte-Links-Politiker Romano Prodi durchgeführt worden.
Unterdessen wehrt sich das offizielle Frankreich dagegen, dem italienischen Beispiel zu folgen und eigene Kriegs- und Kolonialverbrechen in Libyens Nachbarstaat Algerien anzuerkennen. Eine solche Anerkenntnis von staatlicher Seite steht bislang noch vollkommen aus - obwohl der ehemalige französische Botschafter in Algerien, Bernard Barjolet (inzwischen Geheimdienstchef in Paris), Ende April 2008 erstmals bereit war, die Schlächterei vom 8. Mai 1945 als "Massaker" zu bezeichnen und die "sehr schwere Verantwortung der damaligen französischen Behörden" zu unterstreichen. An jenem Tag, der das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa markiert, waren in den algerischen Städten Sétif, Guelma und Kherrata mehrere Tausend antikolonialistische Demonstrierende durch die Kolonialarmee und -polizei massakriert worden.
Die jüngst getroffene Vereinbarung zwischen Rom und Tripolis, so reagierte ein Sprecher des französischen Außenministeriums, Eric Chevalier, hänge mit einem "Sonderaspekt der bilateralen Beziehung zwischen Italien und Libyen" zusammen, deren "gemeinsame Geschichte per Definition eine spezifische ist". Kurz ausgedrückt: Nichts davon ist beispielsweise auf die französisch-algerische Geschichte übertragbar. Umgekehrt hatte Libyens Staatschef, Oberst Ghaddafi, darauf insistiert, dass das von ihm mit Berlusconi geschlossene Abkommen internationalen Modellcharakter habe und in Sachen Umgang mit der Aufarbeitung des Kolonialismus einen "Präzedenzfall im internationalen Recht" schaffe.
Und tatsächlich mag diese, nach langjähriger Verdrängung der mit der Kolonialgeschichte verbundenen Verbrechen getroffene Vereinbarung in mancherlei Hinsicht vorbildlich wirken. Nur hat sie auch ihre unübersehbare Schattenseite. Denn weder erfolgte die durch Berlusconi ausgesprochene Anerkennung dieser dunklen Seiten der italienischen Historie zuvörderst aus humanistischen Erwägungen oder später Reue, noch blieb sie ohne handfeste politische Gegenleistung. Auf der einen Seite steht dabei eine verstärkte Präsenz des nördlichen Nachbarn von jenseits des Mittelmeers im libyschen Erdöl- und Erdgassektor. Berlusconi erhofft sich ausdrücklich, dass Libyen "mehr Öl und Gas" nach Italien liefert, weil diese Rohstoffe "von besserer Qualität" seien als die anderswo geförderten fossilen Brennstoffe. Andererseits dient die neu ausgerufene italienisch-libysche "Partnerschaft" aber insbesondere auch dazu, in Italien oder Europa als "unerwünscht" geltende afrikanische MigrantInnen vom Überqueren des Mittelmeers abzuhalten. Die von Le Monde kurz und bündig als "Coopération anti-immigration" bezeichnete Zusammenarbeit wird in der Tat durch das neue italienisch-libysche Abkommen sichtlich verstärkt.
So akzeptiert Libyen nun erstmals gemeinsame Patrouillen mit Italienern und sonstigen Europäern im Mittelmeer. Der nordafrikanische Staat, der über 1.700 Kilometer Küstenlinien und 4.000 Kilometer Landgrenzen (die meist durch Wüstenzonen verlaufen) verfügt, stimmte jetzt ebenfalls einer Überwachung seiner Südgrenze durch "Aufklärungs"satelliten zu. Libyen, dessen Oberst Ghaddafi sich sonst allzu gern als "Held der afrikanischen Einheit" aufspielt - wenn er sich nicht gerade als der vermeintlichen Einiger aller Araber geriert -, macht sich damit zum willigen Hilfspolizisten der Länder des Nordens gegen unerbetene ZuwanderInnen. Eine Haltung, die durchaus zu seinen eigenen Worten im Widerspruch steht. Noch im Dezember 2007 hatte Ghaddafi - auf Staatsbesuch bei Präsident Sarkozy in Paris - sich lautstark über die "unmenschliche Art und Weise, mit welcher Europa die illegalen Einwanderer behandelt", beschwert.
Im September 1999 hatte Ghaddafi offiziell erklärt, alle afrikanischen "Brüder" seien auf libyschem Boden willkommen. Damals lagen viele Wirtschaftszweige aufgrund des internationalen Embargos (das dann ab Ende 2003 aufgehoben wurde) schlichtweg brach. Es herrschte ein gehöriger Arbeitskräftebedarf, um Industrie- und sonstige Anlagen zu bauen oder instand zu halten. Hinzu kam, dass Libyen infolge der innenpolitischen Krise, die mit dem Embargo und seinen Folgen in den frühen 1990er Jahren einhergegangen war, zahlreiche arabische "Gastarbeiter" abgeschoben hatte.
Viele dieser MigrantInnen waren als Fachkräfte tätig, doch verrichtete eine größere Zahl von ihnen auch einfach die "Drecksarbeit" für die (bis dahin) direkt oder indirekt von der Ölrente profitierende libysche Bevölkerung. Die ersten staatlich verordneten Restriktionen richteten sich seit 1993 gegen diese EinwanderInnen aus anderen arabischen Ländern, vor allem aus Palästina, Ägypten und dem Sudan. Den letzten beiden Gruppen wurde vorgeworfen, an der Ausbreitung des (oppositionellen) Islamismus im Lande schuld zu sein. Die PalästinenserInnen wurden nach offizieller Darstellung dafür "bestraft", dass die PLO-Führung sich 1993 auf die Abkommen von Oslo eingelassen hatte. Von seinem pro-palästinensischen Verbalradikalismus rückte Ghaddafi aber im Laufe der 1990er Jahre ab. Nun betonte er, dass die arabische Staatenwelt die Technologie und das Entwicklungsniveau Israels an ihrer Seite benötige. Danach denunzierte er vor allem die PalästinenserInnen, die dem im Wege stünden.
Italienische Milliarden für die libysche "Infrastruktur"
Im Sommer 1995 erklärte Libyen seine Absicht, sämtliche 30.000 im Lande lebenden PalästinenserInnen auszuweisen. Unter ihnen wurden zunächst 5.000 mehr oder minder gewaltsam außer Landes befördert, von denen viele dann als staatenlose Boat People auf dem Mittelmeer umherzogen. Im Anschluss nahm Libyen im Spätherbst 1995 den Ausweisungsbeschluss nach einer Übereinkunft mit Ägypten wieder zurück. Aber auch Menschen aus dem Sudan, aus Nigeria und dem Tschad waren in größerer Zahl von Ausweisungen betroffen. In einer zweiten Phase zog Libyen dann - nach erfolgter Trennung von den bisherigen, überwiegend arabischen ArbeitsimmigrantInnen - in den späteren 1990er Jahren wiederum vermehrt schwarzafrikanische EinwanderInnen an.
Kurzzeitig veranstaltete das Regime sogar einen regelrechten Propagandarummel für die Heirat von Libyern mit Schwarzafrikanerinnen, was die ImmigrantInnen allerdings in der Durchschnittsbevölkerung keineswegs weniger verhasst machte - eher im Gegenteil. Im Herbst 2000 brachen regelrechte Pogrome an den ImmigrantInnen aus dem subsaharischen Afrika aus, bei denen mindestens 130, laut manchen Schätzungen hingegen sogar 500 Menschen durch einen aufgebrachten Lynchmob getötet wurden. Die Behörden schritten nicht dagegen ein. Zwar wurden die Pogrome als eine Art reaktionärer Protest "von unten" offenbar spontan ausgelöst. Doch da sie sich als gutes Ventil für angestaute gesellschaftliche Spannungen erwiesen, ließ man die TäterInnen staatlicherseits ungestört gewähren.
Am 8. August 2004 kündigte Libyen dann offiziell an, alle illegal eingereisten afrikanischen EinwanderInnen abzuschieben. Insgesamt wird für die Jahre 2003 bis 2005 - so resümierte vor kurzem Jeune Afrique Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch - die Zahl der erfolgten Abschiebungen von StaatsbürgerInnen anderer afrikanischer Länder auf 145.000 geschätzt. Gleichzeitig hat der libysche Staat seine Einwanderungsregeln drastisch verschärft: Seit Januar 2007 fordert das Land nun von allen anderen nord- sowie den schwarzafrikanischen StaatsbürgerInnen ein gültiges Visum. Und das, obwohl in Tripolis lange das Hohelied der "arabischen Einheit" und (nachdem Gaddafi bei den anderen Arabern eher als lächerlich wirkende politische Figur ankam) der "afrikanischen Einigung" gesungen worden war. Lange Jahre hatte die libysche Propaganda gefordert, die Grenzen zwischen all diesen Staaten zu beseitigen.
Allerdings wird gleichzeitig die Anzahl der aktuell "illegal" in Libyen lebenden AusländerInnen auf 1,7 Millionen geschätzt, bei einer Gesamtbevölkerung von 5,5 Millionen. Die auf der Ölrente und (relativen) Privilegien für die "Einheimischen" beruhende libysche Ökonomie benötigt schlicht und einfach zahlreiche Arbeitskräfte.
Doch viele Menschen aus dem subsaharischen Afrika streben über Libyen hinaus und möchten das Land als "Sprungbrett" für die Weiterreise nach Europa nutzen. Ihre Zahl hat sich in den letzten Jahren stark erhöht, unter anderem aufgrund der gewaltsamen Zwischenfälle im Oktober 2005 am Grenzzaun rund um die (von Marokko umgebenen) spanischen Enklaven in Nordafrika - Ceuta und Melilla - und des zunehmend brutalen Grenzregimes in Marokko selbst. Deshalb vermeiden viele Auswanderungswillige heute die Route über Marokko, wo die Polizei in jüngerer Vergangenheit MigrantInnen - einschließlich Frauen und Kindern - außerhalb der Städte in der Wüste ausgesetzt hat, und nehmen einen riesigen Umweg über libysches Territorium in Kauf.
Das Einwanderungsland Libyen braucht Arbeitskräfte
Unter anderem die italienische und die deutsche Politik insistieren in den letzten Jahren auf europäischen Gipfeltreffen vor allem auf der Idee, die EU solle "Auffanglager" für Flüchtlinge und Einwanderungswillige auf der Südseite des Mittelmeers, insbesondere in Libyen, errichten. Italien lieferte seiner ehemaligen Kolonie zur selben Zeit bereits Radargeräte, Helikopter, Boote und Jeeps zur Grenzüberwachung am Mittelmeer wie auch in der Sahara. Schon im Jahr 1999 wurden, laut den Worten des Geographiedozenten Ali Ben Saad (Universität Aix-en-Provence) auf einer Tagung über "Menschenrechte im Maghreb" im Juni 2008 in Saint-Denis bei Paris, "acht große Lager in Libyen identifiziert, in denen Migrationskandidaten festgehalten werden". In diesen Lagern herrsche Willkürherrschaft, die an feudale Abhängigkeitsverhältnisse erinnere, und rechtsstaatliche Garantien seien nicht gegeben.
Bis heute hat sich daran nichts verbessert. Zudem sitzen laut Ben Saad derzeit rund 60.000 Personen (überwiegend ausländische StaatsbürgerInnen) in libyschen Gefängnissen, weil sie das Delikt der versuchten "illegalen Auswanderung" bzw. Übertretung der libyschen Außengrenze begangen haben. Libyen ist der erste Staat, der sich unmittelbar und auf intensive Weise in das Migrations- und Sicherheitsregime der Europäischen Union an ihren Außengrenzen einbinden lässt. Weitere Länder dürften folgen. Algerien hat erst vor wenigen Wochen ein ähnliches Delikt der "illegalen Ausreise", dieses Mal überwiegend an die eigenen StaatsbürgerInnen gerichtete, eingeführt. Das libysche Beispiel zeigt anschaulich, was all die Lippenbekenntnisse westlicher PolitikerInnen zur Demokratisierung in der arabischen Welt wert sind.
Bernhard Schmid, Paris