Aufgeblättert
Antifaschistische Sudeten
Völlig zu Recht sind die Organisationen der Sudetendeutschen Objekt antifaschistischer Kritik. Auch die historische Bewertung der Sudetendeutschen wird heute vielfach geprägt vom revisionistischen Opfertaumel ihrer bundesdeutschen EnkelInnen. Lorenz Knorr, 1921 in Eger/Cheb geboren, leistet so mit seinem Buch erinnerungskulturelle Pionierarbeit, widmet er sich doch dem antifaschistischen Widerstand unter der deutschsprachigen Minderheit der Tschechoslowakei seit Mitte der 1930er Jahre. Drei Viertel der 311 Seiten füllt Knorr mit einer chronologischen Zusammenstellung persönlicher Erfahrungen im antifaschistischen Widerstand, zunächst in der Sozialistischen Jugend seines Heimatortes, dann als subversiver "Edelfunker" nach seinem Einzug zur Wehrmacht. Im zweiten Großabschnitt widmet sich Knorr anschließend einer Einordnung der historischen Vorgänge aus seiner heutigen Sicht, über die er zu einer kritischen Bewertung der Politik der so genannten Vertriebenenverbände und der Publikationen des sozialdemokratischen Vorzeigevertriebenen Peter Glotz gelangt. Im ersten Teil zeichnet Knorr anhand von zeitgenössischen Gesprächsnotizen, Briefwechseln und Sitzungsprotokollen ein Bild vom Widerstand gegen die - von der Mehrheit der Sudeten unterstützten - völkischen Bestrebungen der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins, das durchaus authentisch erscheint und auch individuelle wie kollektive Grenzen des Widerstands thematisiert. Zentrales Motiv seines Kampfes gegen den Faschismus war eben nicht das heroische Selbstopfer, sondern die Balance zwischen subversiven Aktionen und dem Schutz des eigenen Lebens - "für die Zeit nach Hitler". Problematisch ist leider die mangelhafte editorische Kennzeichnung verschiedener Zeitebenen innerhalb der Kapitel - oft fragt man sich, ob hier der 16-jährige Antifaschist oder doch der über 80-jährige Autor spricht. Trotz dieser Kritik gibt Knorrs Buch einen guten Einblick in Theorie und Praxis der frühen Antifa-Arbeit in der Tschechoslowakei .
Jens Geiger
Lorenz Knorr: Gegen Hitler und Henlein. Antifaschistischer Widerstand unter den Sudeten und in der Wehrmacht. PapyRossa Verlag, Köln 2008, 311 Seiten, 18 EUR
Lateinamerikanischer Rohstoffboom
Birgt der aktuelle Rohstoffboom für die Länder Lateinamerikas Chancen, eine industrielle Entwicklung im Inneren zu vertiefen, um sich von der Rolle des Rohstofflieferanten im Welthandel zu befreien? Setzen die linken lateinamerikanischen Regierungen auf umweltverträglichere Energiemodelle als ihre Vorgängerregierungen? Das sind zentrale Fragen, denen das aktuelle Jahrbuch Lateinamerika "Rohstoffboom mit Risiken" nachgeht. Die AutorInnen analysieren u.a., unter welchen (weltmarktlichen) Bedingungen überhaupt Rohstoffreichtum das Potenzial zu gesellschaftlicher Emanzipation birgt (Elmar Altvater) und welche Rolle der Diskurs des Ressourcennationalismus in der Politik der gesellschaftlichen Umgestaltung am Beispiel Boliviens und Venezuelas spielt (Ingo Bultmann). Zu Brasilien finden sich gleich zwei Beiträge: Thomas Fatheuer nimmt die Agrotreibstoffpolitik des Landes unter die Lupe, Regine Rehaag widmet sich der Ausweitung transgener Landwirtschaft. Beide ziehen ein eher düsteres Fazit der umwelt- und sozialpolitischen Implikationen, die der politische Kurs unter Präsident Lula mit sich bringt. Dem gegenüber überraschen die Ergebnisse der aus der Not geborenen "Energierevolution" auf Kuba, die Silke Helfrich vorstellt: So setzt die Karibikinsel nicht nur auf Eigenversorgung, sondern in beachtlichem Maße auch auf nachhaltige Energien. Weitere Beiträge widmen sich dem Bergbau in Peru, der Zellstoffproduktion vor allem am Beispiel Uruguays und Argentiniens, dem Konflikt um biologische Pflanzenvielfalt sowie einer Analyse der Beziehungen zwischen China und Lateinamerika. Ob und wie die neuen Gestaltungsspielräume, die die gesteigerten Gewinne des Rohstoffbooms ermöglichen, genutzt werden, darüber weiß man nach der informativen und anregenden Lektüre des Jahrbuchs ein ganzes Stück mehr.
ev
Karin Gabbert u.a. (Hg.): Jahrbuch Lateinamerika, Analysen und Berichte 31: Rohstoffboom mit Risiken. Westfälisches Dampfboot, Münster 2007, 222 Seiten, 24,90 EUR.
68er Klassiker
Verlage liebe Superlative: "Die wichtigsten intellektuellen Quellen der 68er" habe Rudolf Sievers in seiner "Enzyklopädie" über das Jahr der Revolte zusammengestellt, behauptet das Suhrkamp-Lektorat. Das ist natürlich übertrieben. Etliches fehlt, vor allem aus dem außer-europäischen Raum (Mao, Fanon, Che Guevara, Castro), aber dennoch sind die auf fast 500 Seiten zusammengestellten Texte immer wieder lesenswert, und einige der nur auszugsweise dokumentierten Werke machen Lust auf mehr. Angefangen von Büchners "Hessischem Landboten" über Marx' "Thesen über Feuerbach" gelangt der Herausgeber zu Sartres Interview mit Cohn-Bendit und dem "Geständnis" des Spaß-Guerilleros "Fritz Teufel, Ausgeburt der Hölle". Etliche Klassiker der Rebellion sind in dem - leider nicht illustrierten - Buch enthalten: Helke Sanders Rede für den "Aktionsrat zur Befreiung der Frau" (vgl. ak 531), politische Interventionen von Dutschke und Krahl, Flugblatttexte, Luxemburg, Bloch, Benjamin, Lukacs, Adorno, Reich, Marcuse, ein bisschen viel Habermas. Unterrepräsentiert - mit Auszügen aus der "Ermittlung" und dem "Marat" von Peter Weiss - bleibt das politische Theater.
Js.
1968. Eine Enzyklopädie. Zusammengestellt von Rudolf Sievers. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 490 Seiten, 18 EUR
Gewalt und Trauma
Maria Barbal, eine erfolgreiche Schriftstellerin, die in katalanischer Sprache schreibt, wuchs in den Pyrenäen auf, zog aber 1964 nach Barcelona, um dort zu studieren. Ihr 1984 erschienener Roman "Wie ein Stein im Geröll" liegt jetzt in deutscher Übersetzung vor. "Barcelona, das ist etwas sehr Schönes. Die letzte Stufe vor dem Friedhof", sagt Conxa, die Ich-Erzählerin. Als alte Frau resümiert sie ihr Leben, geprägt durch tagtägliche harte Arbeit im Haus und auf dem Feld. Mit 13 wird Conxa von ihren Eltern zu Onkel und Tante gegeben, ein erster, ihr willkürlich erscheinender Bruch. Als junge Frau heiratet sie Jaume; es ist eine Liebesehe, aus der drei Kinder hervorgehen. Der Bürgerkrieg setzt der als glücklich empfundenen Zeit ein abruptes Ende: Jaume wird von Francos Truppen ermordet, seine Leiche in einem Massengrab verscharrt. Conxas Erfahrung steht stellvertretend für viele andere vom Terror Betroffene: Die erlebte Gewalt bleibt unverständlich, und es gibt keinen Ort der Trauer. Conxa lebt weiter, die Zeit fließt an ihr vorbei. Im Alter ein letzter Bruch: Ihr Sohn nimmt sie mit nach Barcelona, die Familie hofft dort auf ein Auskommen. Maria Barbals kurzer Roman, in prägnanter, einfacher Sprache geschrieben, ist bewegend und auch zeitgeschichtlich aufschlussreich. Deutlich wird, wie traumatisierend gewaltsame Ereignisse wirken, wie sie andauern, wenn es keine Möglichkeit zur Bearbeitung gibt - leider ein immer wieder aktuelles Thema.
Raphaela Kula
Maria Barbal: Wie ein Stein im Geröll. Roman. Aus dem Katalanischen von Heike Nottebaum. Transit Verlag, Berlin 2008, 114 Seiten, 14,80 EUR