Disziplinarraum Klassenzimmer
Der Film "Entre les Murs" zeigt den Schulalltag von migrantischen Jugendlichen
Bei der Recherche für seinen Film "Vers le sud" (2005) kam der französische Regisseur Laurent Cantet auf die Idee, einen Film über den Alltag in einer Schule zu drehen. Zu dieser Zeit waren die öffentlichen Debatten in Frankreich beherrscht vom Bild der Schule als einer Art "idealer Kommunikationsgemeinschaft". Regisseure wie Nicolas Philibert beschworen die Schule als Ort der Zuflucht. Dieses Ideal wollte Cantet grundsätzlich in Frage stellen: "Mit meinem Film wollte ich das Gegenteil zeigen: einen Resonanzboden, einen Mikrokosmos der Welt, wo Themen wie Gleichheit und Ungleichheit in Beziehung zu Arbeit und Macht, kultureller und sozialer Vereinnahmung und Ausschließung eine große Rolle spielen."
Der in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Film "Entre les murs" basiert auf der dokumentarischen Grundlage des gleichnamigen Romans von François Bégaudeau. Der Autor, ein ehemaliger Französischlehrer, schrieb über seine Erfahrungen, die er während eines Schuljahres in einer Schulklasse machte. In Bégaudeau erkannte Cantet jemanden, der über unerreichtes Insiderwissen verfügte und engagierte ihn als Drehbuchautor. Schließlich besetzte er Bégaudeau als Französischlehrer und Protagonisten des Films, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird.
"Entre les murs" steht programmatisch für den Plot des Films. Nachdem der Lehrer François das Schulgelände betreten hat, verbleibt die Kamera innerhalb der Mauern der Schule und beobachtet eine Klasse des Collège Françoise Dolto im 20. Arrondissement - mehrheitlich SchülerInnen mit Migrationshintergrund. In einem kargen Klassenraum, in dem mehr als zwei Drittel aller Szenen spielen, haben sich die DarstellerInnen ohne Drehbuch ihre Rollen selbst erarbeitet und improvisieren ihre Dialoge spontan während der Dreharbeiten. Im Film agieren - bis auf den Lehrer François und Souleymanes Mutter - ausschließlich LaienschauspielerInnen.
Die Reinszenierung des Authentischen
Der Film zeigt die Schule als einen Ort, an dem soziale Gegensätze auf extreme Weise aufeinander treffen. Seine semidokumentarische Dramatik entwickelt sich aus den unterschiedlichen Sprechweisen zwischen dem Lehrer und den SchülerInnen. Im kulturellen Klassenkampf macht es einen entscheidenden Unterschied, ob ein Lehrer oder ein Schüler spricht. Cantet zeigt uns die institutionellen Orte, von denen aus gesprochen wird. Dabei vermittelt er das Bild eines unlösbaren Konflikts, von dem auch der französische Philosoph Jacques Derrida in einem Essay über das "endlose Unglück des Schülers" spricht: "Der Schüler fühlt sich uneingeschränkt angegriffen, abgewiesen oder angeklagt: als Schüler durch den Lehrer, der auf sein Recht des Wissensvorsprunges pocht. Die Gewalt der Schule beginnt, wo die besondere Sprache nicht allen Mitgliedern einer Gemeinschaft in gleicher Weise zu eigen ist, wo nicht alle den gleichen Anteil an ihr haben." Wie die Sprache als ein Instrument der Macht fungiert, zeigt sich am deutlichsten, wenn das Lehrerkollegium auf seine Weise über die SchülerInnen spricht und in Disziplinarverfahren über ihr Schicksal (z.B. Schulverweis) entscheidet.
François, der Lehrer aus dem Mittelstand, verkörpert nicht nur eine männliche Autoritätsperson, sondern er ist es auch, der als Französischlehrer die Sprache der historischen Kolonialmacht verwaltet und damit das Herrschaftswissen verkörpert. Andererseits versucht er, aus seiner Rolle auszubrechen. Auf der Suche nach einem Dialog mit den SchülerInnen gibt er sich herausfordernd und bleibt dabei selbst mit Missverständnissen behaftet und von Vorurteilen geprägt. Die SchülerInnen wollen sich ihm gegenüber mit ihrer sozialen Deklassierung nicht abfinden und fordern in widerspenstigen Rededuellen immer wieder die Autorität des Lehrers heraus - tagtäglich. Besonders deutlich zeigt sich diese Bruchlinie in einer Unterrichtsstunde, in der die notorische Konjugation der unregelmäßigen Verben zum Streit führt und die Zeitform des "subjonctif imparfait" von den Jugendlichen zur sozialen Frage der Sprechweise von "Snobs" und "Homosexuellen" stilisiert wird.
"Entre les murs" macht die Kampfzone jugendlicher Heranwachsender an den sozialen Rändern körperlich erfahrbar. Cantets Kino der Unmittelbarkeit sieht zwar aus wie ein authentisches Porträt des Schulalltags von Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund, es bleibt jedoch inszeniert und fiktional. Die Jugendlichen spielen nicht sich selbst, sondern erarbeiten sich fiktionale Figuren, die oft keine Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Persönlichkeit aufweisen. Die einzelnen Szenen wurden mit drei Handkameras durchgehend zu je zwanzig Minuten gedreht. Innerhalb eines technischen Korridors bewegten sich drei Kameras, die erste fokussierte den Lehrer, die zweite beobachtete die SchülerInnen, die dritte hielt nach alltäglichen Details und Gesten Ausschau.
Seit "Grease" (1978) mit John Travolta und Olivia Newton-John zählen "High School Movies" zu den meistproduzierten Filmgenres der letzten 25 Jahre. Die Filmgeschichte kennt zwar das Genre der Teenagerfilme rund um die Schule, doch bis heute blieb der Stellenwert des Unterrichts für die Herstellung von Disziplin, Gehorsam und Kontrolle mehr oder weniger unbeachtet. Cantets Film bricht radikal mit dieser Tradition und eröffnet einen neuen Blick auf die Schule als sozialer Institution. In der Le Monde erklärte Cantet, warum für ihn die Schule in erster Linie ein politischer Ort ist, der in extremer Weise gesellschaftliche Konflikte generiert: "Die Schule ist ein Milieu, das in enormer Weise Ideologie hervorbringt. Dennoch beachtet man sie nicht."
Cantet schärft in "Entre les murs" jedoch auch den Blick dafür, dass der gelebte Multikulturalismus weit davon entfernt ist, eine homogene und friedliche Ganzheit zu ergeben. Im Gegenteil. Ein feines Netz kultureller Unterschiede wird zwischen den Jugendlichen sichtbar. Lebensstilfragen und Geschmackskultur entscheiden über die Zugehörigkeit zu Cliquen, legen die soziale Rangordnung im Klassenraum fest.
Bereits in seinen Filmen "Ressources humaines" (1999) und "L'emploi du temps" (2001) versuchte der Regisseur, die sozialen Unterschiede von Sprechweisen freizulegen und untersuchte dabei den engen Zusammenhang von Arbeit, sozialer Macht und den Identitätsentwürfen des Einzelnen. Im geschlossenen Disziplinarraum der Schule verhandelt Cantet nicht nur gesellschaftliche Fragen wie Rassismus, Benachteiligung oder Anpassungsdruck, sondern er stellt die Schule generell als eine soziale Institution in Frage, indem er ihre Mechanismen der Macht sichtbar macht.
Ramón Reichert
Entre les Murs / The Class, Regie: Laurent Cantet, Länge: 128 Min, Frankreich 2008, Filmstart: 24. September 2008 (F)