Recht kritisch
Sonja Buckel rekonstruiert die materialistischen Theorien des Rechts
Ist das Recht ein schlichtes Herrschaftsinstrument und als bloßer Reflex kapitalistischer Gesellschaftsordnungen zu verstehen? Was ist dann aber das Besondere am Recht, warum wird Gesellschaft gerade über die Rechtsform organisiert? Die Ausübung von Herrschaft ist schließlich grundsätzlich auch durch nackte Gewalt denkbar. Oder bietet das Recht - zum Beispiel in der Verheißung allgemeiner Menschenrechte nicht doch die Leitplanken für die Gestaltung einer solidarischen und demokratischen Gesellschaft? Und kann das Recht sogar als Emanzipationsinstrument dienen, ohne zugleich zur Stabilisierung des Systems beizutragen?
Diese Fragen werden einmal mehr relevant bei der gegenwärtigen Diskussion um die sogenannten Globalen Sozialen Rechte (GSR). Und auch eine Bürgerrechtsbewegung mit linkem herrschaftskritischem Anspruch muss sich die Frage gefallen lassen, inwiefern die schlichte Berufung auf Verfassung und Grundrechte, etwa bei der Kritik der gegenwärtigen Sicherheitspolitik, sinnvoll und progressiv sein kann.
Sonja Buckel hat sich in ihrer Dissertation diesen Problemen auf zweifache Weise genährt. Sie liefert einen interessanten Überblick über materialistische Rechtstheorien und skizziert schließlich ein eigenes Verständnis vom Recht, das sowohl die herrschaftsstabilisierende Funktion von Recht, aber auch mögliche emanzipative Potentiale in den Blick nimmt.
Relationale Autonomie des Rechts
Einleitend werden die rechtstheoretischen Vorstellung des Systemtheoretikers Gunther Teubner sowie von Jürgen Habermas referiert. Anschließend widmet sich Buckel ausführlich einer Rekonstruktion materialistischer Rechtstheorie. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf den Diskussionen der 1920er Jahre. Intensiv setzt sie sich mit den Arbeiten von Eugen Paschukanis, Franz Neumann und Otto Kirchheimer auseinander. Schließlich werden die 1970er Jahre vor allem in Gestalt von Nicos Poulantzas sowie der Protagonisten der Staatsableitungsdebatte in den Blick genommen.
Eckpfeiler von Buckels eigenem Theorieansatz bilden die Begriffe Subjektivierung und Kohäsion. Subjektivierung steht dabei für die Konstituierung des/der Einzelnen durch das Recht: der/die Einzelne existiert in dieser Gesellschaft nur dann, wenn er/sie Rechtssubjektivität zugeschrieben bekommt. Kohäsion bezeichnet die Schaffung von gesellschaftlicher Struktur: Die Gesellschaft wird erzeugt, indem das Recht - als eine unter mehreren sozialen Formen - die Beziehungen zwischen den Menschen schafft und regelt.
Dabei arbeitet Buckel auch Ansätze aus der Luhmannschen Systemtheorie in ihre Konzeption ein. Recht besitzt demnach eine "relationale Autonomie" anderen gesellschaftlichen Sphären gegenüber und reproduziert sich zudem selbst. Anders als bei Luhmann ist nach Buckel das Rechtssystem jedoch eben gerade nicht anderen gesellschaftlichen Systemen gegenüber autonom, sondern von Machtverhältnissen durchzogen. Allerdings muss sich gesellschaftliche Herrschaft, will sie sich der Rechtsform bedienen, in die juridischen Prozesse und Argumentationsmuster einschreiben, anstatt unverhüllt zu bestimmen, was "Recht" sein soll. Dies bedeutet zugleich, dass das moderne Recht Schutz vor Herrschaft bieten kann und sich auch progressive Kräfte gegenüber den herrschenden Verhältnissen des Rechts bedienen können.
Die Autorin erläutert ihre theoretischen Erkenntnisse am Beispiel der Verhältnisse in der Europäischen Union. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zeige, wie Recht auch alleine, in Abweichung von der Organisation des politischen Systems, Wirkungsmacht erlangen könne. Vor allem sei es der europäische Gerichtshof, der die europäische Integration durch seine Rechtsprechung seit jeher in starkem Maße vorantreibe, während die europäische Integration auf der rein politischen Ebene beizeiten ins Stocken geraten sei.
Zwischen Herrschaft und Emanzipation
Indem das Recht somit keinesfalls allein als bloßes Instrument einer herrschenden Klasse und zudem der Staat als Rechtssetzer ohnehin nicht als monolithischer Block verstanden werden dürfen, so könne, wie Buckel schlussfolgert, die Rechtsform auch als Emanzipationsinstrument dienen. Dies kann bedeuten, das Recht bei Prozessen oder als politisches Argument zu benutzen, darf aber nicht dazu führen, das Recht auf diese Weise zu verklären.
Denn die Existenz des Rechts hat jederzeit eine undemokratische Wissensherrschaft derjenigen zur Folge, die das Rechtsystem verstehen. Buckel bezeichnet diese Menschen als "juridische Intellektuelle". Kurzfristig sei zwar auch eine emanzipatorische Politik auf jene "juridischen Intellektuellen" angewiesen, um sich überhaupt in die Rechtsform einschreiben zu können. Langfristig ist aber eine radikaldemokratische und herrschaftsfreie Gesellschaft nur jenseits der Rechtsform denkbar.
Ob etwas, und, wenn ja, was, in einer egalitären Gesellschaft der Zukunft an die Stelle der Rechtsform treten könnte, bleibt zunächst offen. Buckels Buch ist denn auch vor allem eine sehr pointierte und spannende Variante, wie die Bedeutung und Funktion des Rechts in kapitalistischen Gesellschaften zu deuten ist.
Die Analyse ist indes nicht nur interessant, sondern bietet zugleich Grundlagen für die gegenwärtigen Kämpfe um Bürgerrechte und Globale Soziale Rechte. Eine allzu naive Berufung auf Grundrechte und Verfassung bleibt bedenklich. Eine linke Bürgerrechtsbewegung sollte sich nicht darauf beschränken, die Verfassung als alleinigen Maßstab politischer Argumentation zu gebrauchen. Behält man jedoch die Überlegungen von Buckel im Hinterkopf, so lassen sich vielleicht doch auch Strategien entwickeln, die Rechtsform im Hier und Jetzt für den Kampf um fortschrittliche Positionen zu nutzen.
Thilo Scholle und Matthias Lehnert
Sonja Buckel: Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2007, 360 Seiten, 38 EUR.