Hass und Gewalt
Der Aufstand der Autonomiebewegung in Bolivien
Seit dem triumphalen Wahlerfolg von Evo Morales im Dezember 2005 in Bolivien sperrt sich die Opposition, deren Führungspersönlichkeiten fast ausnahmslos den traditionell dominanten Sektoren der Gesellschaft entstammen, vehement gegen das Reformprojekt einer Neugründung des Landes. Dabei geht es derzeit längst nicht mehr darum, landesweit die politische Macht zurückzuerobern, sondern die traditionellen Macht- und Besitzverhältnisse im regionalen Kontext mit allen Mitteln zu verteidigen. (ak 521, 528, 531)
Das aktuelle Szenario erscheint bekannt; zum wiederholten Mal befanden sich Regierung und Opposition Boliviens im Dialogversuch. Und zum wiederholten Mal sind die oppositionellen Präfekten diesem Ereignis weitgehend ferngeblieben, obwohl internationale BeobachterInnen der Regierung Dialogbereitschaft, Flexibilität und Verhandlungswillen attestierten und in den Arbeitsgruppen zwischen Regierung und TechnokratInnen der Regionalregierungen bereits viele Inhalte und Details im Hinblick auf die zukünftige Ausgestaltung der Autonomien verhandelt werden konnten.
Am Sonntag, den 5. Oktober, unterzeichnete dann trotz der bis zuletzt gehegten Hoffnung auf eine Einigung keiner der Oppositionspräfekten die mühsam erzielten Verhandlungsergebnisse. Nun wird die Diskussion im Kongress fortgesetzt.
Unterdessen scheint die Untersuchung und Aufarbeitung des rechten Terrors der letzten Wochen schrittweise voranzukommen, wobei das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte davon ausgeht, dass die bisher bestätigte Zahl von 18 Toten viel zu niedrig ist. Der Regierung wurde umfassende forensische und kriminaltechnische Unterstützung zugesichert und zudem ein effektives Zeugenschutzprogramm gefordert, da wichtige ZeugInnen bedroht würden und schon jetzt nicht mehr bereit seien, ihre Aussagen vor Gericht zu wiederholen.
Opposition sabotiert erneut den Dialog
Dabei hat der in Haft sitzende Leopoldo Fernández, bis dato oppositioneller Präfekt des Departements Pando, zugegeben, den Befehl erteilt zu haben, Gräben auszuheben und die Straßen zu blockieren, um so die Mobilisierung der Landbevölkerung zu unterbinden. Auch die ersten Berichte von einigen der zahlreichen Untersuchungskommissionen des Massakers von Porvenir vom 11. und 12. September, die sich aus verschiedenen Menschenrechtsorganisationen, Abgeordneten, ForensikerInnen und der staatlichen Spezialeinheit im Kampf gegen das Verbrechen zusammensetzen, haben die Zeugenaussagen Verletzter und Überlebender bestätigt.
Zuvor hatte das am 10. August stattgefundene Abwahlreferendum dafür gesorgt, die Radikalität der Maßnahmen im oppositionellen Lager zu beschleunigen. Bei einer Wahlbeteiligung von 83 Prozent wurde die Regierung mit 67,4 Prozent im Amt bestätigt. Somit votierte landesweit eine Zweidrittelmehrheit für die Fortsetzung des Reformprozesses. (1) Gleichzeitig wurden aber auch die oppositionellen Präfekten in ihrem Amt bestätigt. Trotz der anhaltenden politischen Pattsituation ist das Votum der WählerInnen für den Prozess des Wandels sehr viel eindeutiger ausgefallen, als es der Grad der innenpolitischen Polarisation und die Umfragen im Vorfeld vermuten ließen.
In Santa Cruz, der Hochburg der Autonomiebewegung, wurden bereits kurz nach dem Abwahlreferendum die ersten (Hunger-)Streiks und Blockaden organisiert. Offiziell verlangte man die Rückzahlung eines Teils der Direktsteuern auf die Erdgaseinnahmen, welche die Regierung seit einiger Zeit zur Finanzierung einer Altersrente in Höhe von ca. 28 US-Dollar monatlich für alle über 60-Jährigen ohne soziale Absicherung einbehält.
Zu einer der ersten Aktionen in Santa Cruz zählte die gewaltsame Erstürmung der Polizeikommandantur. Ab dem 19. August gingen die bewaffneten Schlägertrupps der faschistischen Jugendorganisation zudem dazu über, den von der Präfektur verhängten Streik in der ganzen Stadt gewaltsam durchzusetzen. Bevorzugtes Ziel der Attacken waren BewohnerInnen, Geschäfte und Marktstände im Stadtteil Plan 3000, einer Hochburg der Regierungspartei MAS (Movimiento al Socialismo).
Von Santa Cruz ausgehend nahmen die gewaltsamen Widerstandsaktionen auch in den anderen Tieflanddepartments zu. Die Regierung hingegen machte bis zum Massaker in Porvenir keinen Gebrauch von ihrem Gewaltmonopol und verzichtete weitgehend darauf, aktiv in die Auseinandersetzungen einzugreifen. Das hat den Eskalationsgrad der Auseinandersetzungen in vielen Fällen sicher reduziert, die Opfer der Übergriffe wurden gleichzeitig aber auch allein gelassen.
Mit der oppositionellen Gewaltwelle wuchs auch der Druck der sozialen Bewegungen, die forderten, den Weg für ein Verfassungsreferendum frei zu machen. Nach Gesprächen mit VertreterInnen des Nationalen Rates für den Wandel verkündete Evo Morales am 28. August überraschend ein Präsidialdekret, welches die Durchführung des Referendums über die Annahme oder die Ablehnung der neuen Verfassung und die Abstimmung über die Begrenzung des Großgrundbesitzes für den 7. Dezember 2008 vorsah. (2)
Obwohl der nationale Wahlgerichtshof die Umsetzung des Dekrets umgehend ablehnte und darauf verwies, dass für die Durchführung des Referendums eine Zweidrittelmehrheit im Kongress notwendig sei, riefen das zivile Bürgerkomitee und die Präfektur in Tarija dazu auf, massiven Widerstand zu leisten, und kündigten Straßenblockaden sowie die Besetzung von Förderanlagen und Pipelines an. Während die Regierung die Erdgasförderanlagen durch den Einsatz von zusätzlichem Militär weitgehend zu schützen wusste, wurde eine strategisch wichtige Pipeline gesprengt. In allen vier Tieflanddepartments begann zudem die Stürmung, Besetzung und Zerstörung staatlicher Institutionen. Obwohl auf Seiten der Opposition von einer rechtmäßigen Übernahme der zentralstaatlichen Institutionen auf departmentaler Ebene gesprochen wurde, wurden die meisten Einrichtungen verwüstet und zahlreiche Dokumente verbrannt.
RegierungssympathisantInnen ziehen sich zurück
Darüber hinaus wurden vor allem in Santa Cruz und später auch in Beni Menschenrechtsorganisationen und zahlreiche indigene Organisationen sowie staatliche Fernsehsender und kommunale Radiostationen, KubanerInnen und venezolanische Einrichtungen Opfer von gewaltsamen Übergriffen, Einschüchterungsversuchen und Erstürmungen durch die politisch und finanziell von der Autonomiebewegung und den Präfekturen unterstützten jugendlichen Schlägerbanden. (3) Aus Santa Cruz z.B. wird von einem spürbaren Klima der Angst berichtet. Intellektuelle und politisch aktive Personen, die mit dem Regierungsprojekt sympathisieren, seien auf Grund der gezielten Angriffe und Bedrohungen entweder untergetaucht oder hätten sich aus dem öffentlichen Leben völlig zurückgezogen.
Zu den jüngsten Opfern zählt der Ex-Minister der Regierung Morales für öffentliche Bauvorhaben und Investitionen, Salvador Ric. Beim Verlassen eines Restaurants wurde er von dem ehemaligen Vizeminister des Inneren unter der Banzer-Regierung erkannt, tätlich angegriffen und beschimpft. Weitere Gäste kamen hinzu und hinderten Ric gewaltsam am Verlassen des Restaurants. Er wurde zu Boden geworfen und von der Menge mit Schlägen und Tritten traktiert. Nachdem ihm die Flucht in die Küche gelungen war, musste er dort auf die Polizei warten, um den Ort des Geschehens verlassen zu können. Danach erstattete er Anzeige, wartete aber vergeblich auf den zuständigen Staatsanwalt, der nicht erschien, um das Verfahren einzuleiten. Er selbst habe um sein Leben gefürchtet.
Den bisherigen Höhepunkt all dieser Ausschreitungen bildet das gezielte Massaker an Indigenen und KleinbäuerInnen am 11. und 12. September im nordöstlich gelegenen und kleinsten Department Pando. Zu der bis dato nicht abschließend ermittelten Zahl von Toten, Verletzten und Verschwundenen zählen auch Kinder, Frauen und alte Leute. Die meisten der Opfer erlagen Schussverletzungen; zahlreiche Leichen weisen Anzeichen von Schlägen und Folter bzw. Strangulation auf. Die öffentlichen Medien, die fast ausnahmslos im Besitz der Opposition sind, sprachen zunächst von einem von der Regierung geplanten Zusammenstoß zwischen dem bewaffneten und gewaltbereiten Protestzug und einigen OppositionsanhängerInnen.
Die Regierung verhängte nach den Ereignissen in Porvenir am 12. September den Ausnahmezustand für Pando. Sie schaffte es, die Situation in der Hauptstadt Cobija unter Kontrolle zu bringen, den Präfekten Leopoldo Fernández und einige der mutmaßlich Hauptverantwortlichen für das Massaker zu verhaften sowie einen Interimspräfekten einzusetzen. Dennoch gehen die Verfolgungen weiter, denn in weiten Teilen des schwer zugänglichen Amazonasgebiets ist das Militär schlicht nicht präsent. Darüber hinaus agieren die Oppositionskräfte vor allem von der im Norden des angrenzenden Departments Beni gelegenen Stadt Riberalta aus. Politische Führungspersonen, GewerkschafterInnen und Mitglieder von oppositionskritischen Kommunalregierungen sowie deren Familienangehörige werden laut Aussagen von Betroffenen weiter bedroht.
Den Anlass für die Mobilisierung bäuerlich-indigener Gruppen in Pando bot die Tatsache, dass Angestellte der Präfektur gemeinsam mit den Schlägertrupps der regionalen Jugendunion neben anderen staatlichen Einrichtungen auch das regionale Agrarinstitut gestürmt und den gewählten Direktor durch einen Mittelsmann aus den eigenen Reihen ersetzt hatten. So fürchten die lokalen Gemeinschaften angesichts der Separationstendenzen im Tiefland um die langjährig erkämpften Rechtstitel für ihre traditionellen Territorien.
Auf Grund der widersprüchlichen Darstellungen in den bolivianischen Medien legen die Überlebenden des Massakers von Porvenir in Interviews Wert darauf, dass die Gruppe von über 1.500 Personen, die am 11. September nahe der Dorfgemeinde Tres Barrancas (ca. acht Kilometer von Porvenir entfernt) in einen Hinterhalt schwer bewaffneter OppositionsanhängerInnen geriet, selbst nicht bewaffnet war.
Kurz vor der Dorfgemeinschaft Tres Barrancas vereinigten sich die aus verschiedenen Richtungen zusammenlaufenden bäuerlich-indigenen Mobilisierungen und stießen am Ende einer Brücke auf die Barrikade oppositioneller Kräfte. Da die Polizei bereits vor Ort war und sich zwischen beiden Konfliktparteien positionierte, schien die Fortsetzung des Marsches nur eine Frage der Zeit.
Hetzjagd auf MAS-AnhängerInnen
Doch plötzlich wurde von der Barrikade aus das Feuer mit Feuerwerkskörpern, kleinkalibrigen Schusswaffen, Gewehren und Maschinengewehren eröffnet. In Panik versuchte die Menge, sich zurückzuziehen. Diejenigen, die dabei zurückblieben - Kinder, Frauen und alle weniger mobilen Teile der Gruppe - wurden die ersten Opfer der Bewaffneten. Über die genaue Zahl der Toten gibt es sehr unterschiedliche Angaben. Fakt ist, dass mindestens 15 Leichen sichergestellt und forensisch untersucht wurden. Daneben gibt es Dutzende Verletzte und weit über 100 Verschwundene.
Diejenigen, die fliehen konnten, flüchteten in die umliegende Bergregion, die dicht mit tropischer Vegetation bewachsen ist. Diese Gruppen wurden über mehr als 24 Stunden weiter gejagt. Die bewaffneten VerfolgerInnen, zu denen laut Augenzeugen Angestellte der Präfektur, Mitglieder des zivilen Bürgerkomitees, der Oppositionspartei PODEMOS, der Jugendunion, Leute aus Riberalta sowie unbekannte Personen zählten, setzten Motorräder und Fahrzeuge der Präfektur sowie Hunde ein, um die Geflüchteten aufzuspüren und zu töten.
Tanja Ernst, Ana María Isidoro Losada, La Paz
Anmerkungen:
1) Die MAS konnte nicht nur im Hochland, sondern auch in den Tieflanddepartments deutliche Stimmengewinne verbuchen: In Beni erhöhte sich die Zustimmung gegenüber 2005 von 16,5 Prozent auf 43,7 Prozent, in Santa Cruz von 33,17 Prozent auf 40,75 Prozent und in Tarija von 31,55 Prozent auf 49,83 Prozent. In Chuquisaca (53,88 Prozent) und Pando (52,5 Prozent) stimmten sogar mehr als 50 Prozent für Morales.
2) Zeitgleich sollten zudem Neuwahlen für der am 10. August abgewählten Präfekten sowie die Wahlen der Subpräfekten und der Regionalräte/-regierungen stattfinden.
3) Vgl.Weltspiegel vom 21.9.08
www.daserste.de/weltspiegel/
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