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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 532 / 17.10.2008

Die Utopie von Zanón

Interview mit Rosa Beatrice Maldonado über die Arbeiterselbstverwaltung der argentinischen Fabrik Zanón

2001, mitten in der großen Wirtschaftskrise Argentiniens, entschließen sich rund 300 ArbeiterInnen in der argentinischen Provinz Neuquén dazu, ihre Arbeitsstätte, die Fliesenfabrik Zanón, zu besetzen. Ginge es nach den ehemaligen italienischen Besitzern der Fabrik, wäre Zanón seit sieben Jahren tot. Doch die Fabrik ist lebendiger denn je: heute produzieren 470 ArbeiterInnen in der "Fábrica sin Patrones", der "Fabrik ohne Chefs", erfolgreich Fliesen und Keramik. Nicht nur das: Die Produktion wurde ausgeweitet und es bleibt genug Geld übrig, um soziale Projekte, z.B. Gesundheitsstationen, in Neuquén zu finanzieren. Am 20. Oktober entscheidet ein Gericht über die weitere Zukunft der "Fábrica sin Patrones", kurz Fasinpat.

ak: Am 20. Oktober wird endgültig über das Schicksal der Fabrik entschieden. Was genau steht zur Debatte?

Rosa Beatrice Maldonado: Wir haben drei Mal den Vorschlag eingereicht, dass der Staat die Fabrik enteignen und uns übertragen soll, was nach argentinischen Gesetzen möglich ist. Aber die Regierung ignoriert unseren Vorschlag. Sie möchten, dass wir ArbeiterInnen die Fabrik kaufen. In Konkurrenz zu Sacmi, hinter denen u.a. die alten Besitzer von Zanón stecken. Aber wir weigern uns. Weder wollen wir Zanón kaufen, noch wollen wir die Altschulden der Fabrik übernehmen.

Zanón erhält international und national sehr viel Solidarität. Am meisten direkt aus der Provinz Neuquén. Dort gehen die piqueteros, die ArbeiterInnen des örtlichen Krankenhauses, LehrerInnen, StudentInnen und Hausfrauen für Zanón auf die Straße. Mit welchen Mitteln habt ihr es geschafft, diese Gegenmacht aufzubauen?

Es war ein Lernprozess. Zuerst einmal mussten wir überleben, als wir vor den Fabriktoren campierten. Wir sind von Haustür zu Haustür gezogen und haben darüber informiert, dass die Fabrik geschlossen werden soll. An jeder Tür erbaten wir ein Lebensmittel, um die Suppenküche vor der Fabrik am Laufen zu halten. Jeden Tag sind Delegationen von GenossInnen herumgezogen, die einen ins Krankenhaus, die anderen zu Gewerkschaften, die dritten in die Stadtviertel, wieder andere zu den Organisationen der StudentInnen, um über Zanón zu berichten. Wir haben gelernt, wie man mit den Leuten spricht. Diese Instrumente der Gegenmacht erschafft man jeden Tag. Heute ist Zanón eine Figur des Respekts. Wir spenden 30 Prozent unserer Gewinne für Projekte in der Provinz Neuquén. Wir leisten es uns auch, in den offiziellen Medien Spots für die Enteignung Zanóns zu schalten. Das kostet uns wahnsinnig viel Geld, aber diesen Raum kann dir kein TV-Besitzer verweigern.

Der Kampf der ArbeiterInnen von Neuquén ist sehr stark in einer proletarischen Tradition und Kultur verwurzelt. Spannend ist die Frage, was das Experiment Zanón lehrt. In dem Film "Corazón de la fábrica" (1) wird gezeigt, wie der Widerstand geboren wurde: Zuerst muss die Isolierung durchbrochen werden.

Als Zanón noch der Familie Zanón gehörte, war die Fabrikdisziplin sehr streng. Die Leute sprachen nicht miteinander. Jeder wusste, es gibt Probleme, die Gewerkschaftsführung in der Fabrik war korrupt, sie paktierten die Löhne und schmissen AktivistInnen raus. Aber die große Frage war: Wie gelangt man zum anderen? Also haben einige GenossInnen angefangen, Fussballturniere zu organisieren. Dort lernten sich die Leute kennen, fingen an, miteinander zu reden. Wegen des Fussballs gelang es, sich zu organisieren und schließlich eine alternative Liste für die Gewerkschaftswahlen zu präsentieren. So begann alles, lange vor der eigentlichen Fabrikbesetzung.

Heute heißt Zanón "Fabrik ohne Chefs", doch was ist eine Fabrik ohne Chefs? Auch die ArbeiterInnen von Zanón müssen für einen kapitalistisch organisierten Markt produzieren. Wie organisiert man eine Fabrik unter Arbeiterselbstverwaltung?

Wir haben verstanden, dass die Generalversammlung, durch die wir die Fabrikbesetzung gemacht haben, auch das Organ sein musste, um alles andere in der Fabrik zu entscheiden. Das funktioniert bis heute so. Wir diskutieren dort alles. Nicht nur, wie wir mit den Abgeordneten sprechen, sondern auch, wie viel wir diesen Monat produzieren und was wir produzieren, wir ermitteln, wie viel wir einnehmen und ausgeben, wo mögliche Fehler liegen.

Als ihr die Fabrik besetzt hattet, musstet ihr sie wieder ans Laufen bringen. Wie viel Wissen gab es unter den ArbeiterInnen, wie diese Fabrik funktioniert?

Natürlich gab es das Wissen jedes einzelnen Arbeiters, trotzdem brauchten wir Experten der Universität, wir brauchten Ingenieure und Elektriker, um die Produktion wieder anzufahren. Schließlich reden wir von einer Fabrik mit fortgeschrittener Technologie. Monatelang sind Leute von der Universität gekommen, um die Pläne der Fabrik zu studieren, zu schauen, wo die Probleme liegen, und uns zu helfen.

Die alten BesitzerInnen von Zanón nutzten am Anfang der Besetzung ihre Kontakte und forderten ihre ZulieferInnen und AbnehmerInnen auf, euch zu boykottieren. Heute zahlt ihr euch würdige Löhne aus und spendet sogar einen Teil eurer Gewinne. Wie habt ihr es geschafft, die Isolierung auf dem Markt zu überwinden?

Als bei Zanón die Produktion zum Stillstand kam, lagerten in der Fabrik noch Fliesen. Eine Richterin gab uns das Recht, diese Restbestände zu verkaufen, um unsere ausstehenden Löhne reinzuholen. Wir begannen im kleinen Stil, machten Flugblätter für die Stadtviertel. Also kommt die eine Nachbarin und kauft 20 m2 ab, die andere 40 m2. Das ist sehr wenig, aber so kam wenigstens etwas herein. Als die Restposten verkauft waren, haben wir entschieden: Wir bleiben. Wir haben angefangen, günstige Fließen guter Qualität zu produzieren. Aber da war erst einmal das Problem mit dem Lehm. Die Besitzer der alten Fabrik haben über Jahre hinweg die Steinbrüche der Mapuche ausgebeutet, ohne ihnen etwas dafür zu bezahlen. Die Mapuche haben den besten Lehm. Sie nahmen eines Tages Kontakt zu uns auf und stellten uns ihre Steinbrüche zur Verfügung. Irgendwann, nach anderthalb Jahren, kamen dann die Madres der Plaza de Mayo (2) zu uns und boten uns an, über ihre Vereinigung legal zu verkaufen. Als wir dann zur legalen Kooperative wurden, war den Unternehmen alles egal, sie haben gesagt: "Diese muchachos bezahlen, was interessiert es mich, dass sie die Fabrik besetzt haben?"

Ihr habt vier Jahre aus der Illegalität heraus die Fabrik am Laufen gehalten, den Verkauf Stück für Stück organisiert. Was bedeutet dir das persönlich?

Es ist ein großer Erfolg, denn wir haben uns Respekt erkämpft. Das schönste war, die Geräusche der Fabrik wieder zu hören. Als die Montagebänder anliefen und dieser Lärm da war, dass die Produktion beginnt, da habe ich gedacht: Wir haben es geschafft. Eine Sache ist es, wenn Doña María, die Nachbarin, 20 m2 abkauft, aber eine andere Sache ist es, die Lastwagen zu sehen, die in der Fabrik stehen, um das Material mitzunehmen. Das ist die Lehre von Zanón, nicht nur hier, sondern überall auf der Welt: Wir sagen den Leuten, wenn sie eure Fabrik schließen wollen, dann geht nicht nach Hause, sondern verteidigt kollektiv euren Arbeitsplatz, denn nur so können wir Sachen verändern und beginnen zu zeigen, dass wir ArbeiterInnen, so wie wir eine Fabrik besetzen können, auch ein Land führen können.

Die meisten dieser Besetzungen und Wiedereröffnungen von Produktionsorten unter Arbeiterselbstverwaltung beginnen, als Argentinien 2001 in einer sehr schweren Wirtschaftskrise steckt. Seitdem sind ein paar Jahre vergangen, das Land hat sich, so die offizielle Lesart, erholt.

Als Néstor Kirchner an die Macht kam, stoppte er den Prozess. Er musste es tun, es handelt sich um Gegenmacht. Wir sagen: Man muss das Privateigentum an Produktionsmitteln stürzen. Dann erst können wir auch andere Dinge machen. Wie stoppt Kirchner den Prozess? Darüber, uns den Kooperativenstatus zuzugestehen. Dafür haben wir ja gekämpft. Aber sein Vorschlag beinhaltete, dass die Kooperative die alten Schulden anerkennen muss. Wir haben uns geweigert, das zu tun, aber viele nicht. Heute sind diese Kooperativen am Rande des Zusammenbruchs.

Der Film "Corazón de la fábrica" zeigt die enge Verbindung zwischen den Kämpfen für die Fasinpat und der Erinnerung an die Militärdiktatur. Im Film erzählt ein Arbeiter vom Gespräch mit seiner Mutter. Er quält sich damit, dass sein möglicher Tod in den Auseinandersetzungen um Zanón seiner Mutter Leid zufügen könnte. An dieser Stelle wird deutlich, was die Kämpfe in Argentinien bedeutet haben: Viel Leid, viele Tote.

Nicht nur in der Fabrik ist etwas in Bewegung, auch außerhalb, in ganz Argentinien. Ich bin über 50, ich weiß noch, was damals passiert ist, aber viele der jungen Menschen nicht. Die Diktatur schafft es für eine Weile, das historische Gedächtnis zu kappen. In Argentinien gibt es 30.000 Verschwundene. Sie mussten sterben, weil man eine ganze Generation auslöschen wollte, die für etwas anderes gekämpft hat. Die Madres der Plaza de Mayo spüren, dass der Kampf, den heute die ArbeiterInnen bei Zanón führen, der Kampf ist, den ihre Kinder geführt haben. Anders herum haben viele der jüngeren KollegInnen bei Zanón zum ersten Mal die Madres der Plaza de Mayo gesehen.

Ihr habt euch entschieden, Gedichte von Juan Gelman (3) als Keramikbuch herzustellen, eine Arbeit, die sich nicht immer wirtschaftlich rentiert. Heute sind die Wände von Schulen oder Krankenhäusern in der Provinz Neuquén mit diesen Gedichten verziert. Das ist der anti-kapitalistische Gestus und künstlerisch geprägte Teil eurer Arbeit, es gibt einen Moment, in dem der Arbeiter sich in seiner Arbeit realisiert, es gibt eine kreative Erfüllung.

Das ist der politische Teil unserer Arbeit, der andere ist die produktive Arbeit, um zu überleben. Auch das haben wir gelernt. Deswegen begleiten uns die Menschen; wir haben einen Raum für Kultur und Kunst geöffnet. Das zeigt sich auch in der Fabrik selbst; dort gibt es Rockkonzerte; bildende KünstlerInnen stellen Wandmalereien her; es kommen HistorikerInnen und StudentInnen, die über uns forschen und ihre Doktorarbeit schreiben; es kommen DokumentarfilmerInnen. Wir haben es geschafft, die Fabrik zu einem Ort zu machen, der den Leuten zur Verfügung steht und es uns erlaubt, dieses neue Experiment der Rückeroberung der Arbeit und der Kollektivierung der Produktion zu zeigen.

Was passiert, wenn die Regierung nach dem 20. Oktober eine Räumung der Fabrik versucht?

Die Regierung weiß, sie wird einen hohen sozialen und politischen Preis bezahlen müssen, wenn sie Zanón räumt. Wir sind auf alles vorbereitet und werden uns mit allem verteidigen. Als der Versuch der ersten Räumung stattfand, gab es einen Provinzstreik. Es fand an dem Tag keine Schule statt; wir ArbeiterInnen vom Krankenhaus haben die Arbeit niedergelegt und sind rausgegangen, die Fabrik zu verteidigen. 5.000 Menschen kamen zusammen. Das war 2003. In der Zwischenzeit haben wir viele Netze geknüpft; wir sind nicht nur in Neuquén stärker geworden, sondern auch im Rest von Argentinien und international.

Interview und Übersetzung aus dem Spanischen: Eva Völpel

Anmerkungen:

1) Siehe www.cdfdoc.com.ar/

2) Die Mütter der Plaza de Mayo ist eine Organisation von Frauen, die ihre Kinder während der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983) verloren haben. Im April 1977 trafen sie sich zum ersten Mal auf der Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires, um stumm eine halbe Stunde um die Plaza zu gehen und damit gegen die Politik des Verschwindens zu protestieren.

3) Juan Gelman ist Dichter, Journalist und Übersetzer. Während der argentinischen Militärdiktatur wurde sein Sohn Marcelo ermordet, seine damals schwangere Schwiegertochter María Claudia García de Gelman im Rahmen der Operation Condor 1976 in Buenos Aires entführt und nach Uruguay gebracht. Ihr Schicksal ist bis heute nicht aufgeklärt. Im Jahr 2000 konnte Juan Gelman nach langen Recherchen seine Enkeltochter Macarena Gelman in Uruguay ausfindig machen, wo sie von Militärangehörigen adoptiert worden war. Erst vor kurzem haben Juan Gelman und seine Enkelin erreicht, dass in Uruguay der Fall María Claudia García de Gelman erneut vor Gericht behandelt wird.

Die Webseite der ArbeiterInnen von Zanón findet sich unter http://www.obrerosdezanon.com.ar/html/index1.html.