Die Geheimnisse von Paris
Jean-François Vilars Roman Noir "Die Verschwundenen"
Wenn die Katzen des Helden Radek und Bastille heißen und er nach längerer Geiselhaft von seinem Kneipier bei der Rückkehr gefragt wird, "Wie üblich?", und dann einen starken Kaffee samt Weißwein bekommt - dann geht das nur in Paris. Wer Paris nicht mag, und nicht kennen lernen will, wer Dali mehr mag als Breton und es albern findet, mit Man Ray auf dem Rinnstein einen Drink zu nehmen (während die Creme de la creme der Surrealisten ihre Ausstellung macht) - der/die kann hier aufhören zu lesen. (StalinistInnen wird das Buch überhaupt nicht gefallen, aber die lesen dies hier in dieser Zeitung ja ohnehin nicht.)
"Kam gar nicht in Frage, dass mir jemals wieder einer auf die Nerven ging. Dafür war ich tausendeinundzwanzig Tage zu alt." Denkt Held Victor Blainville nach seiner medienwirksam inszenierten Rückkehr aus einem Geiselkeller in irgendeiner Stadt in irgendeinem Land. Denkt er auch nur; der Stress beginnt erst richtig: Sein mit ihm frei gekommener Schicksalsgenosse Alex Katz fällt einem merkwürdigen Autounfall zum Opfer: "Ich habe Alex als guten Kenner der künstlerischen Avantgarde der 20er und 30er Jahre geschätzt." "Es ist schon eine Weile her, dass man Leute deswegen umbrachte." "Was zu beweisen wäre."
Victors Wohnung ist zudem komplett ausgeräumt - mit Ausnahme der mies gelaunten Katzen -, und sein 1968er-Kumpel Marc, inzwischen Stuyvesant-Ultra-Light-rauchender Chefredakteur einer Qualitätszeitung, schickt ihm eine merkwürdig desinteressierte Reporterin auf den Hals. Einen Spezialbullen, der ebenso gern wie Blainville selbst herauskriegen möchte, wieso gerade er entführt wurde, hat er da eh schon ständig im Kreuz: "Als ehemalige Geisel hatte man nichts als Verpflichtungen."
Und dann? Dann taucht das Tagebuch des Vaters von Katz auf, Alfred Katz. In grüner Tinte beschreibt es die Ankunft des jungen jüdischen Arbeiters im Paris von 1938, seine Begegnungen mit emigrierten Linken, einem Mann, der später Trotzki unangenehm nahe kommen wird, einem stalinistischen Liebhaber seiner großen Liebe. Alfred, der mit Man Ray von dessen unerschöpflichen Bourbonvorräten trinkt, der ein Bild von Bretons "Nadja" aufspürt und dem verstörten Surrealistenchef übergibt, der Herschel Grünspan ein paar Tage vor dessen Attentat auf den deutschen Botschaftsangestellten Ernst vom Rath kennenlernt, verschwindet eines Tages - fast - spurlos.
Der Pariser Mai 1968 und der Prager Frühling und die "samtene Revolution" 1989 sind die Rahmendaten einer verwobenen Erzählung, besser: mehrerer Erzählungen von Verrat, Politik, Liebe, Hoffnung, Sex, Kunst und linker Geschichte. Das schreckliche Jahr 1938 mit den Moskauer Prozessen gegen Bucharin und andere, das Münchner Abkommen und der Einmarsch der Wehrmacht, aber auch die große Surrealismus-Ausstellung in Paris und die Begegnung von Trotzki und Breton in Coyoacán wird in Bezug gesetzt zu 1989, dem Jahr, in dem der Roman spielt: "Es geschieht nicht alle Tage, dass eine freigelassene Geisel von einer Bande faschistischer Skins angegriffen wird, die dann von einer ehemaligen Leibwache Leo Trotzkis in die Flucht geschlagen wird", wundert sich der Bulle.
Alte 68er wie den Chefredakteur sieht Blainville illusionslos: "Moralisch sah ich kaum einen Unterschied zwischen einem Geheimdienstoffizier und einem erfolgreichen Zeitungschef. Was spielte es noch für eine Rolle, was wir vorhatten, als wie jung waren. Übrig geblieben waren oberflächliche, unaufrichtige und damit immer weniger streitbare Beziehungen. Schändliche Einkünfte. Nichts, worüber zu reden sich lohnt."
Dem gegenüber die Revolutionäre von 1938, Suchende wie Katz, einfache Parteiarbeiter: "Seine Wohnung war genau wie er: gut aufgeräumt, sehr sauber, und es roch nach Bedürftigkeit." "Auf die Kämpfer für die Revolution wurde jede Art von Druck ausgeübt. Das förderte ihre geistige Aufgeschlossenheit nicht." Und hinsichtlich der ganzen Bullen, Agents provocateurs und Spione fragt sich Jahrzehnte später ein alter Ex-Trotzkist: "Sie hatten alle unsere Termine und Namen, aber was wussten sie schon von den Überzeugungen, den Zweifeln, den Ängsten, den hinterhältigen Angriffen, den Rücktritten aus Überdruss, von der Schlappheit, den unglücklichen Zufällen, der Lauterkeit und den Opfern, das heißt von all dem, was auch die stabilsten Mehrheiten unter den Aktivisten erschüttern kann?"
Ein Verräter, der zwei Mal im Abstand von vielen Jahren im Keller landet und dort bestraft wird, der Sohn Trotzkis, der 1938 vom NKWD vergiftet wird - vielleicht auch nicht -, und immer wieder Orte in Paris, der Stadt der Geheimnisse und der Historie, Prag, für das das gleich gilt, sind Elemente, mit denen Vilar arbeitet, und die auch in einem nicht so schwarzen Krimi ihren Platz haben könnten.
Aber: Wer erzählt? Und warum und für wen? Der Verräter und der Fälscher bringen das Verhältnis von Freund und Feind in beständige Unordnung, weil sie den Einfall des Feindes und der Lüge in die eigenen Reihen bedeuteten, wo man nicht mehr weiß, ob die Freunde nicht Feinde sind: Paranoia als eine Interpretationsstörung verformt die Erkenntnis und das Politische, 1938 sicher mehr als 1968, und es ist nicht klar, ob der Held selbst erlebt oder wie von Carrolls Schachkönig hinter dem Spiegel geträumt wird. Das eben noch vom Helden und Leser als gesichert Angenommene verliert sich immer wieder in narrativen Perspektiven, die Vilar kurz und knapp für erledigt erklärt oder radikal umbiegt - wer das Buch liest, ist gut beraten, keinen Absatz auszulassen, das könnte den Verlust einer für die Wahrheit wichtigen Information bedeuten. Aber natürlich: "Welche Wahrheit?" Die Geschriebene? Die Gelesene? Die Gedachte? Die von Blainville? Die von Alfred Katz? Die des Bullen? Die der Stalinisten? Die der Geschichte? Aber welche? Die von 1938? 1968? 1989?
Nicht gerade zufällig wandert durch das ganze Buch eine in Lumpen gehüllte, sprachlose Gestalt, erst als Penner in Paris, schließlich als "Odradek" in Prag - bei Kafka eine Allegorie auf die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Klaus Viehmann
Jean-François Vilar: Die Verschwundenen. Assoziation A, Berlin 2008. 464 Seiten, 24 EUR