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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 533 / 21.11.2008

Gegen Mythen und Halbwahrheiten

Corry Guttstadts wichtige Studie über die Geschichte der türkischen Juden bis 1945

Die Historikerin und Turkologin Corry Guttstadt beleuchtet in einem umfangreichen Buch die Geschichte der Juden im Osmanischen Reich und der Türkei. Dabei untersucht sie auch die Situation türkischer Jüdinnen und Juden, die während des Holocaust in verschiedenen europäischen Ländern lebten. Etwa 3.000 von ihnen wurden in Vernichtungs- und Konzentrationslager deportiert; ihr Schicksal wurde bisher nicht erforscht. Corry Guttstadts Buch füllt eine Lücke in der internationalen Holocaustforschung, in der Länderstudien oft noch fehlen.

Hierzulande gilt die Türkei als wichtiges Exilland während des Nationalsozialismus. Und auch in ihrer Selbstdarstellung präsentiert sich die Türkei gerne als Judenretterin während des Holocaust. Betont wird auch, dass das Osmanische Reich den in Europa verfolgten Jüdinnen und Juden über viele Jahrhunderte Schutz, Autonomie und große Freiheiten gewährte. Diese Bilder, so zeigt Corry Guttstadt, stimmen nur zum Teil. Der Mythos, demzufolge türkische Diplomaten überall im besetzten Europa "unter Einsatz ihres Lebens" Jüdinnen und Juden gerettet hätten, sei sogar geradezu makaber.

Aber der Reihe nach. Corry Guttstadt vereinigt fünf große Themen in einem Buch: Sie zeichnet die wechselvolle Geschichte der Juden des Osmanischen Reichs nach und beschreibt die Zäsur, die die Gründung der Türkei für Juden und andere Minderheiten bedeutete. Das Buch beleuchtet außerdem die Beziehungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Türkei. Es zeigt die widersprüchliche Politik Ankaras gegenüber Exilsuchenden und die passive Haltung gegenüber den jüdischen TürkInnen, die in Deutschland und den besetzten Ländern um Hilfe baten.

Jüdische Einwanderung ins Osmanische Reich

Insbesondere die türkischen Juden, die in verschieden Ländern Europas lebten und Opfer des Holocaust wurden, sind in der internationalen Forschung bisher kaum berücksichtigt worden. Es existiert noch nicht einmal ein Gedenkbuch. Auch die Türkei zeigt wenig Elan, das Schicksal ihrer jüdischen Staatsangehörigen und weiterer Opfer des Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Die Autorin sieht ihre Darstellung des Themas, das gut die Hälfte ihres umfangreichen Werks ausmacht, nur als Zwischenergebnis - die Archive des türkischen Außenministeriums sind für die Forschung nach wie vor verschlossen.

Gegen Ende des Osmanischen Reichs lebten dort fast 400.000 Jüdinnen und Juden: Thessalonika, genannt das Jerusalem des Balkans, Edirne, Smyrna (Izmir) und Bagdad galten als die größten Gemeinden weltweit. Gemessen an der Gesamtbevölkerung des Osmanischen Reichs, das sich damals noch über drei Kontinente erstreckte, bildeten Juden jedoch nur eine kleine Minderheit, etwa zwei Prozent der Bevölkerung. Vor allem die ab dem 16. Jahrhundert während der Reconquista aus Spanien eingewanderten Sepharden belebten die Gemeinden. Die etwa 60.000 Menschen brachten das Judezmo mit. Die auf dem Spanisch des 15. Jahrhunderts basierende Sprache wurde bald von den meisten osmanischen Jüdinnen und Juden gesprochen. Die sephardische Einwanderung wurde begrüßt, belebte sie doch die durch Kriege verwüsteten Städte des Balkans. Neben Kapital, modernem technischem und medizinischem Wissen brachten die Sepharden auch die Kunst des Buchdrucks nach Konstantinopel. Nach und nach bekleideten viele wichtige Positionen als Steuerpächter und in der Organisierung des Zolls und des Münzwesens.

In dem großen Reich siedelte ein Mosaik jüdischer Gemeinden. Es gab arabisch sprechende Juden etwa im eroberten Mesopotamien, Karäer, kurdische, aramäische und italienische Juden und die aus verschiedenen mittel- und osteuropäischen Ländern eingewanderten Aschkenasen. Nachdem die Osmanen unter Sultan Mehmet Fatih 1453 Konstantinopel (heute Istanbul) erobert hatten, war die Stadt verwüstet und entvölkert. Die Osmanen siedelten deshalb viele Türken, aber auch Griechen und Slawen zwangsweise an den Bosporus um. Auch die gesamte jüdische Einwohnerschaft aus dreißig bis vierzig Städten wurde nach Konstantinopel verbracht. Noch bis ins 17. Jahrhundert wurden die Zwangsumgesiedelten in Registern als sürgün (Verbannte) geführt, im Gegensatz zu den kendi gelen (selbst/freiwillig Gekommenen). Die sürgün durften Synagogen errichten, allerdings war es ihnen für die Dauer mehrerer Generationen verboten, die Stadt zu verlassen. Außerdem wurden ihnen bestimmte Berufe vorgeschrieben.

Die Zahl der Juden wuchs aber nicht nur, weil die Osmanen Gebiete mit jüdischer Bevölkerung eroberten wie etwa serbische und bulgarische Gebiete und das anatolische Kernland mit den Städten Diyarbakir und Mardin. Es kamen auch Juden aus christlich-europäischen Ländern, die dort vor antijüdischen Massakern und Vertreibungen flohen.

Zu einer Zeit, da überall in Europa Juden verfolgt oder ausgewiesen wurden, wurden sie im Osmanischen Reich aufgenommen - auch wenn dies nicht immer aus altruistischen Motiven geschah. Bevölkerungspolitik und das Interesse an bestimmten Kenntnissen in Finanzverwaltung und neuen Manufakturmethoden spielten dabei eine wichtige Rolle. Die Situation von Juden unter islamischer Herrschaft, so die Autorin, sei deutlich sicherer als in christlichen Ländern gewesen. Auch wenn es keine explizite Sonderstellung von Juden gegeben habe, so unterlagen sie doch einer Reihe von Einschränkungen, die auch Christen betrafen: Die gayri müslim (Nichtmuslime) konnten ihre Religion frei ausüben, mussten aber die Überlegenheit des Islam anerkennen. Zudem wurden ihnen eine Kopfsteuer sowie andere Sondersteuern auferlegt. Es war ihnen auch verboten, Waffen zu tragen, muslimische Frauen zu heiraten, Pferde zu reiten und höhere Häuser als die Muslime zu bewohnen. Zeitweise mussten sie sich auch durch das Tragen bestimmter Farben und Abzeichen identifizierbar machen. Es kam auch zu Vertreibung aus Stadtteilen und zeitweise auch zu Ritualmordbeschuldigungen, die aber von Christen ausgingen.

Flucht vor Atatürks Türkisierungspolitik

Während Jüdinnen und Juden zur Zeit des Osmanischen Reichs einwanderten, verließen viele die neugegründete Türkei Anfang des 20. Jahrhunderts. Etwa 25.000 Jüdinnen und Juden türkischer Herkunft lebten zwischen den beiden Weltkriegen in verschiedenen Ländern Europas. Die erste Generation türkischer MigrantInnen war also mehrheitlich jüdisch. Die Massenauswanderung begann, als sich die Türkei 1923 als neuer Staat unter Mustafa Kemal (Atatürk) formierte. Seine Partei betrieb eine Türkisierungspolitik, die eine türkisch-muslimische Vorherrschaft zum Ziel hatte. Minderheiten wie christlichen Griechen, Armeniern und eben Juden wurde das Leben schwer gemacht - bis hin zu Vertreibung und Massenmord.

Die rigide Türkisierungspolitik verlangte die Zwangsassimilierung der Minderheiten, verdrängte sie gezielt aus der Wirtschaft, auch aus zahlreichen eher schlecht bezahlten Berufen, und beschnitt ihnen außerdem politische und kulturelle Rechte. So verließ in den 1920er und 1930er Jahren ein Drittel bis die Hälfte der Juden die Türkei. Wichtigstes Zielland war Frankreich, weil viele türkische Juden Französisch sprachen und eine Affinität zum "Land der Aufklärung" verspürten. Andere gingen nach Lateinamerika, in die USA oder auch nach Italien oder Deutschland. Jüdische Kaufleute und Teppichhändler aus der Türkei ließen sich in Hamburg, Berlin, in Paris, Marseille, Antwerpen und Wien nieder. Andere arbeiteten als Ingenieure, Übersetzer oder als einfache Arbeiter in der Tabakindustrie.

Die Nationalsozialisten deportierten 2.200 bis 2.500 Jüdinnen und Juden türkischer Abstammung aus verschiedenen europäischen Ländern in die Vernichtungslager Auschwitz und Sobibor, weitere 300 bis 400 in die Konzentrationslager Ravensbrück, Buchenwald, Mauthausen, Dachau und Bergen-Belsen, wo viele von ihnen ihr Leben verloren. Ungezählte mussten sich auf Dachböden oder in Wäldern verstecken oder haben sich der Deportation entzogen, indem sie sich selbst das Leben nahmen. Hauptakteure wie Heinz Röthke, Leiter des "Judenreferats" in Frankreich, und Kurt Asche, "Judenreferent" in Belgien, lebten später wie so viele NS-Täter unbehelligt in der Bundesrepublik.

Der türkische Staat unternahm wenig, um seine StaatsbürgerInnen zu retten. Im Gegenteil: Die Politik Ankaras war darauf ausgerichtet, eine Remigration von Juden in die Türkei zu verhindern. Bereits in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die Türkei vielen im Ausland lebenden türkischen Jüdinnen und Juden die Staatsbürgerschaft entzogen. Damit verbunden war, dass die Ausgebürgerten auf Lebenszeit nicht mehr in die Türkei einreisen durften.

Während das zunächst noch der Nationalstaatsbildung dienen sollte und auch zahlreiche türkische StaatsbürgerInnen betraf, die in Gebieten des ehemaligen Osmanischen Reichs wie etwa Griechenland und Bulgarien lebten, richtete sich diese Politik während des Nationalsozialismus vor allem gegen Juden. Die Anerkennung der türkischen Staatsbürgerschaft wurde für sie zur Überlebensfrage, denn als Staatenlose konnten sie leichter in die Konzentrationslager deportiert werden. Selbst noch 1942 ließ Ankara das Ultimatum der Nationalsozialisten an neutrale und verbündete Staaten zur Repatriierung ihrer jüdischen BürgerInnen verstreichen und bürgerte mehrere tausend türkische Juden aus. Gleichwohl nutzen einige Diplomaten der Türkei ihren Handlungsspielraum und auch jüdische Hilfsorganisationen in Istanbul konnten vereinzelt Juden - oft gegen Zahlung hoher Kautionen - aus dem besetzten Europa retten. So wurden 105 türkische Juden aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit. Erst nach langen Verhandlungen ließen die türkischen Behörden sie in Istanbul von Bord und internierten sie in Pensionen.

Falsche Heldenbilder türkischer Judenretter

Die Situation für Juden in der Türkei hatte sich vor allem in den 1940er Jahren weiter verschärft. Zu den zentralen antijüdischen Maßnahmen zählten eine horrende Vermögenssteuer sowie Arbeitslager und Zwangsarbeitsdienste. Die etwa 850 türkischen Jüdinnen und Juden, die während des Holocaust repatriiert oder ausgetauscht wurden, kehrten nach dem Krieg - wohl auch unter dem Eindruck der antijüdischen Politik der Türkei während der Kriegsjahre - nach Europa zurück und wanderten nach Palästina/Israel aus.

Trotzdem erscheint die Türkei in ihrer Selbstdarstellung als eine positive Ausnahme unter den islamischen Ländern, was den Umgang mit ihren jüdischen StaatsbürgerInnen angeht. Die Türkei nutze die Behauptungen über ihre angeblich so judenfreundliche Politik sehr stark zur Eigenwerbung auf internationaler Ebene, so Guttstadt. Vor allem in den 1990er Jahren, als die Türkei wegen Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten international kritisiert wurde, betonten türkische Politiker, dass die Türkei zur Zeit des Nationalsozialismus verfolgte Juden aufgenommen habe und dies in der Tradition der Politik des Osmanischen Reiches stehe.

Gestützt werde diese Ansicht durch Stanford Shaws Studie "Turkey and the Holocaust" von 1993, der einzigen Monographie zum Thema. Türkische Diplomaten, so Stanford, hätten "häufig unter Gefährdung ihres eigenen Lebens" türkische Juden gerettet. Diese falsche Darstellung sei nicht nur in der Türkei, sondern auch weltweit begeistert reproduziert worden. Im vergangenen Jahr erschien in der Türkei außerdem ein Buch unter dem Titel "Der Botschafter", dessen Autor ein Großneffe des türkischen Botschafters in Frankreich in den Jahren bis 1943 ist. Der Autor behauptet, sein Onkel habe 20.000 Juden gerettet. In Wirklichkeit wurden laut Guttstadt während seiner Amtszeit nur 100 Jüdinnen und Juden aus Frankreich in die Türkei repatriiert.

Über 2.000 Deutsche und 1.000 ÖsterreicherInnen lebten 1939 in der Türkei, darunter auch Hochschullehrer, die von der türkischen Regierung im Rahmen einer "Bildungs- und Modernisierungsoffensive" ins Land geholt worden waren. Bei der Mehrheit der in der Türkei lebenden Deutschen habe es sich aber keineswegs um Gegner und Verfolgte des NS-Regimes gehandelt, so Guttstadt, sondern um "ganz gewöhnliche Deutsche".

Indem Guttstadt Berichte osmanischer und türkischer Juden auszugsweise dokumentiert, Fotos zeigt und Besonderheiten einzelner Gemeinden herausstellt, ist das Buch anschaulich und gut lesbar. Es gelingt ihr auch, die türkischen Juden nicht nur als Opfer des Holocaust zu sehen, sondern die Vielfalt der türkisch-jüdischen Gemeinden in Europa während der Zwischenkriegszeit zu zeigen. Die Darstellung zeugt von der großen Ausdauer, mit der die Autorin über fünf Jahre hinweg in Europa, Israel, den USA und der Türkei geforscht hat - in Archiven, in KZ-Gedenkstätten, in Gesprächen mit Überlebenden und Zeitzeugen sowie in den Biographien bekannter Personen wie Ted Kollek oder Elias Canetti.

Corry Guttstadts wichtiges Buch greift nicht nur ein bisher vernachlässigtes historisches Thema auf. Angesichts eines wachsenden Antisemitismus in Europa und in der Türkei erhält es eine besondere Aktualität. Ihre Arbeit dürfte auch so manche Ansätze des Holocaustgedenken in der deutschen Einwanderungsgesellschaft bereichern.

Anke Schwarzer

Corry Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust. Verlag Assoziation A Hamburg/Berlin, 2008, 520 Seiten, 26 EUR