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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 533 / 21.11.2008

Immer neue KandidatInnen für den Crash

Die Abhängigkeit von Kapitalimporten macht die osteuropäischen Länder extrem krisenanfällig

Die finanziellen Turbulenzen in Ungarn und in der Ukraine haben Mitte Oktober 2008 auch Osteuropa als potenzielle Krisenregion ins Blickfeld rücken lassen. Auch wenn viele FinanzanlegerInnen die Region oft als eine monolithische Einheit sehen, bestehen doch deutliche Unterschiede in der Verwundbarkeit gegenüber einer Finanzkrise.

Ungarn galt bereits seit einigen Jahren wegen seines zeitweise fast 10% des Bruttoinlandsprodukt (BIP) betragenden Budgetdefizits und eines trotz wirtschaftlicher Stagnation 2008 auf 4,8% des BIP geschätzten Leistungsbilanzdefizits als Kandidat für eine Finanzkrise. Am 15. Oktober fiel der Kurs des Forint innerhalb eines Tages um 7%. Der Handel mit Staatsanleihen musste vorübergehend ausgesetzt werden, und auch die Aktiennotierungen fielen in den Keller. Das ungarische Bankensystem ist hochgradig von Devisenzuflüssen abhängig, da Kredite an Haushalte und Unternehmen zu mehr als 60% aus Devisen (meist Euro) bestehen, aber nur 20% der Bankeinlagen in Fremdwährung sind. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erklärte rasch seine Bereitschaft zur Gewährung eines Kredits.

Die EU zeigte anfangs weniger Profil, doch dann eröffnete die Europäische Zentralbank (EZB) eine Kreditlinie von zunächst fünf Mrd. Euro für Ungarn, um die Versorgung des ungarischen Bankensystems mit Euro sicherzustellen. Die Stützungsaktion wird offenbar vom IWF angeführt. Dieser stellt den größten Teil des Finanzrahmens mit 12,5 Mrd. Euro (gegenüber 6,5 Mrd. Euro als Zahlungsbilanzstützung seitens der EU) und knüpft dies an vielfach aus früheren Krisen bekannte Bedingungen. So solle eine restriktive Fiskalpolitik betrieben werden, die ein Einfrieren der Gehälter und den Wegfall des 13. Monatslohns der öffentlich Bediensteten, die Deckelung der 13. Monatszahlung für PensionistInnen sowie weitere Beschränkungen im Sozialbereich vorsieht. So will man das "Vertrauen der Investoren" wiedergewinnen. Zudem sollen durch die Bereitstellung von Mitteln zur Eigenkapitalstärkung und die Schaffung eines Garantiefonds für Interbankenkredite die Banken spezifisch gestützt werden.

Ungarn und Ukraine in der Krise

Damit bewegt sich das IWF-Programm, das wohl als beispielgebend für weitere Fälle in Osteuropa angesehen werden kann, im Rahmen der bisherigen Logik einer restriktiven Fiskal- und Geldpolitik des IWF. Die spezifischen Stützungsmaßnahmen für die Banken sind auf die aktuelle Finanzkrise zugeschnitten und kommen primär ausländischen Instituten zugute. Strikte Bedingungen sind hieran nicht gebunden; allein die Umschuldung von Fremdwährungskrediten der PrivatkundInnen wird ins Auge gefasst. Das strukturelle Problem der hohen Abhängigkeit von Kapitalimporten wird durch das IWF-Programm keinesfalls angegangen. Indikator der weiter sehr instabilen Lage war am 22. Oktober die Heraufsetzung des ungarischen Leitzinses um drei Prozentpunkte, was ein großer Sprung ist. Durch eine extreme Hochzinspolitik sollen offenbar Kapitalabflüsse verhindert werden. In der Bevölkerung herrscht große Unsicherheit, und die Finanzkrise ist das bestimmende Thema. Die in Devisen verschuldete Mittelschicht zittert wegen ihrer Kredite, die Lohnabhängigen bangen um ihre Jobs.

Noch weit dramatischer stellte sich die Lage in der Ukraine dar. Dort wird das Leistungsbilanzdefizit für 2008 auf 9,1% des BIP geschätzt, was fast das Doppelte der kritischen Größe ist. Die Auslandsverschuldung ist zu einem großen Teil kurzfristig und damit ist die Verwundbarkeit gegenüber ausbleibenden Kapitalzuflüssen hoch. Die sich infolge der Finanzkrise stark verschlechternde internationale Konjunktur hat die ukrainische Stahlindustrie, einen Schlüsselsektor des Exports, bereits erreicht. Auch hier hat die Währung binnen kurzem stark nachgegeben. In der Ukraine sind aber auch die Erinnerungen an die Finanzkrisen der 1990er Jahre noch frisch. Hier zogen die KundInnen innerhalb von drei Wochen ca. drei Mrd. US-Dollar von den Konten ab. Daraufhin verhängten Banken Auszahlungslimits bei Bankomaten, und die Zentralbank untersagte die vorzeitige Auszahlung von Einlagen sowie die Vergabe von Fremdwährungskrediten an KundInnen, die keine Deviseneinkünfte haben. Damit ist die Finanzkrise in der Ukraine bereits in Form einer Währungs- und Bankenkrise weit fortgeschritten. Sie geht einher mit der Lähmung der Regierungstätigkeit, da zwischen Präsident und Premierministerin, deren Konkurrenz zum offenen Konflikt eskaliert ist, ein politisches Patt besteht. Dies erschwerte selbst die parlamentarische Verabschiedung kurzfristiger Stabilisierungsmaßnahmen wie die Erhöhung der Staatsgarantie für Bankeinlagen auf 150.000 Hryvna (ca. 20.000 Euro) oder die Schaffung eines Stabilisierungsfonds für die Banken.

Auch in der Ukraine ist der IWF mit einem Stützungskredit von 16,4 Mrd. US-Dollar aktiv geworden. Wie in Ungarn ist die Stabilisierung der Banken ein zentraler Punkt des IWF-Pakets. Auch hier sind die Fiskal- und Geldpolitik restriktiv ausgerichtet; allerdings ist angesichts der absehbaren Verschärfung der sozialen Krise eine leichte reale Erhöhung der Sozialausgaben um 0,8% des BIP vorgesehen. Der liberalen Standardausrichtung der Politik entspricht auch die möglichst baldige Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen. Letzteres liegt im Interesse des ukrainischen und ausländischen Großkapitals, wird aber die Krisenverwundbarkeit noch verschärfen. Wie bereits die Asienkrise Ende der 1990er Jahre zeigt auch die aktuelle Krise, dass Länder mit Kapitalverkehrskontrollen in der Tendenz weniger finanzkrisenanfällig sind. Im Kern zeigt sich bei beiden IWF-Krediten eine Kontinuität mit der IWF-Politik der Vergangenheit - ergänzt um eine unmittelbare Bankenstützung.

Baltische Länder in ihrer Kreditwürdigkeit abgestuft

Speziell die Zuspitzung im EU-Land Ungarn führte zu einem kritischeren Blick auf die Gesamtregion. Nicht nur der Forint, sondern auch andere Währungen und Börsen in Osteuropa gaben nach. Die Finanzanleger machten zwischen Budapest, Prag und Warschau keinen Unterschied, merkte die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborzca mit Bedauern an. Tatsächlich gibt es zwischen den osteuropäischen Ländern innerhalb und außerhalb der EU beträchtliche Unterschiede in der Krisenanfälligkeit, obgleich die Gesamtregion von einer hohen Außenabhängigkeit und einer strukturellen Abhängigkeit von Kapitalimporten gekennzeichnet ist.

Unter den EU-Mitgliedsländern sind jene Länder am verwundbarsten, die eine periphere Stellung der europäischen Arbeitsteilung einnehmen und/oder eine sehr rigide Wechselkurspolitik betreiben. Das gilt für die baltischen Länder, Bulgarien und Rumänien. Estland, Litauen und Bulgarien haben schon viele Jahre ein Currency Board ähnlich wie Argentinien in den 1990er Jahren, bei dem die inländische Geldmenge an die Devisenreserven gebunden ist. Lettland hat eine sehr rigide Wechselkurspolitik verfolgt, und in Rumänien ist der Lei in den letzten Jahren auf Grund hoher Zinsen und Kapitalzuflüsse real deutlich aufgewertet worden. In all diesen Ländern resultierte die Wechselkurspolitik in eine überbewertete Währung, die Importe verbilligt und die industrielle Entwicklung behindert. Entsprechend hoch sind die Handels- und Leistungsbilanzdefizite. Für 2008 werden für Bulgarien ein Leistungsbilanzdefizit von 22,5% des BIP, für Rumänien von 14,4%, für Litauen von 12,1% und - trotz eines schweren Wirtschaftseinbruchs - für Lettland von 14,5% und Estland von 9,2% des BIP erwartet. Entsprechend schnell sind die Auslandsschulden dieser Länder gestiegen. Der Wirtschaftsboom der letzten Jahre beruhte stark auf kreditfinanziertem Konsum und Immobilienboom mit explodierenden Wohnungspreisen. In Estland beispielsweise stiegen die Immobilienpreise zeitweise (nominal) um rund 70% im Jahr.

Gravierende soziale Folgen: Arbeitslosigkeit und Armut

Die baltischen Länder sind in der Kreditwürdigkeit bereits herabgestuft worden; die Kapitalzuflüsse dorthin haben schon vor Monaten begonnen auszutrocknen. Daraufhin ist die wirtschaftliche Entwicklung in Estland und Lettland stark eingebrochen. In Lettland wurde die einzige nicht im ausländischen Eigentum stehende Großbank, die Parex Bank, am 8.11.08 zu 51% verstaatlicht. Die in den baltischen Ländern stark engagierten schwedischen Banken sind in der Klemme. Sollte es wegen ausbleibender Kapitalzuflüsse (oder einem Kapitalabfluss) in Verbindung mit einbrechenden Exporten zu einer starken Abwertung kommen, würde die Währungskrise in all diesen Ländern wohl zu einer Bankenkrise führen. Denn ein Großteil der Konsumentenkredite ist in Devisen, die KreditnehmerInnen verdienen aber einheimische Währung. Damit würde eine Abwertung der Währung gleichzeitig eine kräftige Aufwertung der Devisenschulden bedeuten. Viele private SchuldnerInnen wären dann kaum in der Lage, ihre Kredite zu bedienen. Die Bankensektoren sind weit überwiegend in ausländischem Eigentum, so dass von einer Bankenkrise westeuropäische - in den baltischen Ländern skandinavische, sonst speziell österreichische - Banken betroffen wären.

Die osteuropäischen Länder sind extrem abhängig von Kapitalimporten und wären auch ohne die aktuelle Finanzkrise der Zentrumsländer KandidatInnen für eine Währungs- und Bankenkrise, wie sie Argentinien oder Uruguay 2001/2002 erlitten haben. Allerdings sind die Leistungsbilanzdefizite und die Auslandsschulden hier schneller gewachsen als in Lateinamerika in den 1990er Jahren, da die FinanzanlegerInnen offenbar auf einen Schutzschirm der EU bauen. Tatsächlich haben die baltischen Länder (nicht aber Bulgarien und Rumänien) als Mitglieder des ERM-II-Mechanismus, einer Vorstufe zur Euro-Übernahme, Anspruch auf eine Stützung durch die Europäische Zentralbank. Dies würde aber bestenfalls eine Abmilderung der Krise bedeuten. Eine Abwertung dürfte unvermeidlich sein. Das gegenwärtige Wachstumsmodell, das auf extremen Waren- und Kapitalimporten beruht, ist nicht durchhaltbar. Ähnlich wie in dieser Gruppe von osteuropäischen EU-Ländern stellt sich die Lage in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens dar, wo sich das Leistungsbilanzdefizit in Kroatien 2008 auf 10,0% und in Serbien auf 17,4% belaufen dürfte. Sowohl Kroatien als auch Serbien oder Montenegro leiden noch unter den Spätfolgen von ökonomischer Desintegration Jugoslawiens und vom Krieg. Hier wären die sozialen Folgen einer Finanzkrise ganz besonders gravierend.

Abgesehen vom Euro-Land Slowenien ist die Krisenanfälligkeit Polens, der Tschechischen Republik und der Slowakei geringer als in den baltischen Ländern, Rumänien, Bulgarien und Ungarn. In diesen drei Ländern ist das Leistungsbilanzdefizit geringer und dürfte sich 2008 zwischen 2,9% (Tschechische Republik) und 4,6% (Polen) bewegen. Damit ist die Abhängigkeit vom Kapitalimport nicht ganz so extrem. Allerdings wird in diesen Ländern die stockende Kreditvergabe im Interbankenverkehr auch immer fühlbarer. Private SchuldnerInnen sind überwiegend in nationaler Währung verschuldet, so dass eine Währungsabwertung weniger weitreichende Konsequenzen für den Bankensektor hätte. Am stärksten ist bislang in dieser Gruppe der polnische Zloty unter Druck, während die Slowakische Krone in Erwartung des Betritts zur Euro-Zone am 1.1.09 bislang stabil ist. Auch diese drei Länder müssen mit einer stark nachlassenden Exportkonjunktur rechnen. Das gilt speziell für die Slowakei, deren Exporte zu ca. 40% aus Autos bestehen. Damit werden sowohl die Leistungsbilanz als auch die Wirtschaftsentwicklung unter Druck geraten.

Der osteuropäische Wachstumsboom der letzten Jahre birgt also den Keim einer zum Teil extremen Krisenanfälligkeit an sich. Damit sind osteuropäische Länder gegenüber den Wirkungen der von Zentrumsländern ausgehenden Krise sehr verwundbar.

Joachim Becker

Joachim Becker ist ao. Professor für Volkswirtschaft in Wien. Der überarbeitete und ergänzte Artikel erschien zuerst im Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)