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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 533 / 21.11.2008

Jazz-Effekt sorgt in Lateinamerika für Missklänge

Finanzkrise zieht Südamerika in den Abwärtsstrudel

Seit Anfang Oktober kennt die Finanzkrise keine Grenzen mehr. Was im Sommer 2007 als Immobilienkrise in den USA begann und sich seit Mitte 2008 zu einer Bankenkrise in den Industrieländern ausweitete, ist inzwischen zu einer Weltwirtschaftskrise geworden, die längst auch Lateinamerika erfasst hat. Ob Brasilien, Mexiko oder Venezuela: Fallende Rohstoffpreise und fallende Rohstoffnachfrage, fallende Börsenkurse und verfallende Währungen sowie schwieriger werdende Refinanzierungsbedingungen auf den internationalen Kapitalmärkten treffen sie in der einen oder anderen Art alle und drohen die beachtlichen Wachstums- und Stabilisierungserfolge der letzten Jahre zunichtezumachen.

Der Optimismus von Brasiliens Präsident Luiz Inácio "Lula" da Silva hatte eine kurze Halbwertszeit: "Was für eine Krise? Fragen Sie doch den Bush", bekundete Lula noch Mitte September auf Fragen nach den Folgen der Finanzkrise für die südamerikanische Regionalmacht. "Dort ist das ein Tsunami. Hier wird das, wenn es überhaupt ankommt, eine schwache Welle sein."

Längst zeigen die auch jenseits der Zentren abstürzenden Börsen, dass sich Lula getäuscht hat. In den sogenannten Emerging Markets wie China, Indien, Russland und Brasilien brachen die Börsenwerte seit Jahresbeginn um rund 70 Prozent ein - ein Verfall, der über den Kurssturz an der Wall Street, in London, Frankfurt oder Tokio hinausgeht. Und das, obwohl die Banken der Schwellenländer so gut wie nicht am Handel mit Schrottpapieren beteiligt sind und viele von ihnen Fundamentaldaten aufweisen, die alles andere als eine Krise indizieren.

Dazu gehört Brasilien: Seit Jahren fallen hohe Wachstumsraten mit hohen Leistungsbilanz-Überschüssen zusammen, die die Devisenreserven auf die Rekordhöhe von über 200 Milliarden US-Dollar schnellen ließen. All das bietet in normalen Zeiten optimale Rahmenbedingungen: Der Devisenüberschuss reduziert die Abhängigkeit vom internationalen Kapital und Zinsdiktat. Die heimische Zentralbank hat so die Möglichkeit, eine stärker an den Bedürfnissen und Gegebenheiten der Binnenwirtschaft ausgerichtete Zinspolitik zu betreiben.

Doch die normalen Zeiten sind auf unabsehbare Zeit vorbei. Erst vor wenigen Monaten hatten die Ratingagenturen das Land am Zuckerhut mit dem Gütesiegel "Investment Grade" als sichere Anlage ausgezeichnet. Schließlich hatte Brasilien unter Lula alles dafür getan, um seine Wirtschaft und seine Finanzen zu konsolidieren. Jetzt moniert Lula zu Recht, dass der Crash in den Industrieländern Brasilien unverschuldet das Wachstum kaputt mache.

Wie stark trifft die Krise Lateinamerika?

Die Frage ist längst nicht mehr, ob die Krise Lateinamerika trifft, sondern wie stark. Die Börsen stehen dabei nur am Anfang. Ausländische FinanzanlegerInnen verkaufen brasilianische Aktien, weil sie Liquidität brauchen, um auf dem heimischen Finanzmarkt Löcher zu stopfen. Dabei realisieren sie noch die Kursgewinne aus den letzten Boomjahren. Ausländische Banken streichen die Kreditlinien für brasilianische Unternehmen, und multinationale Konzerne transferieren ihre Gewinne mehr denn je in die Mutterländer, um den dortigen Liquiditätsengpass zu mildern.

Die Folgen für die brasilianische Realwirtschaft zeichnen sich bereits ab: die Bau- und Konsumfinanzierung trocknet aus, und bei Bau und Konsum handelt es sich um tragende Säulen der Binnenkonjunktur. Auch die Exportunternehmen spüren schon die Auswirkungen: Kredite gibt es bestenfalls noch als teure, kurzfristige Handelskredite, und die Kreditklemme bremst die Aussaat in der Landwirtschaft. Und die sich im Sinkflug befindlichen Preise für Soja, Zucker und Getreide tun ein Übriges, um die Aussichten für Brasiliens Konjunktur kräftig einzutrüben. Selbst die drei Prozent Wachstum, die Brasilien zuletzt noch für 2009 prognostiziert wurden, scheinen zu hoch gegriffen.

Die gut 200 Milliarden US-Dollar Devisenreserven sind für Brasilien jedoch ein gewisser Schutz vor einer Abwertungs-Kapitalflucht-Spirale, die das Land im Extremfall bis in den Staatsbankrott treiben könnte. Davon ist Brasilien allerdings noch weit entfernt, auch wenn der Jazz-Effekt, wie Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner die Finanzkrise in Anlehnung an das Land ihres Ursprungs nannte, eine starke Bremswirkung entfalten wird.

Venezuela: Kapital für Revolutionsexport wird knapp

Dass die Lage ernst ist, zeigt auch das Verhalten von Hugo Chávez. Normalerweise lässt der venezolanische Präsident keine Gelegenheit aus, um seinem Intimfeind George Bush einen verbal vor den Latz zu knallen. Doch selbst Chávez sprach sich für das 700-Milliarden-US-Dollar-Rettungspaket aus, mit dem Washington einer Kernschmelze des Finanzsystems entgegensteuern will.

Mit einem Begraben alter Feindschaft hat das freilich nichts zu tun, vielmehr weiß Chávez, dass der von den USA ausgehende Abwärtssog auch an Venezuela nicht spurlos vorbeigeht. Noch im Juli trieben Spekulationen den Erdölpreis auf über 120 US-Dollar pro Barrel. Dass sich die Finanzkrise schnell zur Weltrezession ausweiten würde, mutmaßten damals nur wenige AnalystInnen wie der Schweizer Marc Faber, der sich schon in der Vergangenheit mit treffenden pessimistischen Voraussagen einen Namen als Börsenguru gemacht hat. In Erwartung der sich ausweitenden Weltrezession sinkt inzwischen der Ölpreis mit ähnlich spekulativer Übertreibung, wie er vorher gestiegen war. Mit realer Nachfrageänderung hat das über Ursprungsimpuls nur im Ansatz zu tun. Eben deshalb hat Chávez Grund, mit einiger Besorgnis in die Zukunft zu blicken. Die weltwirtschaftliche Talsohle wird derzeit auf ein bis drei Jahre prognostiziert. Auf alle Fälle wird damit die reale Ölnachfrage weiter sinken, und das lässt auch Raum für weitere Spekulationen nach unten.

Auch wenn Caracas sinnigerweise seit Jahren den Haushalt mit einem vorsichtigen Ölpreis kalkuliert - so mit 60 US-Dollar pro Barrel jenen für 2009 -, könnte selbst diese bewährte Vorgehensweise in Zeiten sinkender Preise nicht aufgehen. Und davon unabhängig: Die Zeit der sogenannten Windfall Profits - Gewinne durch eine allgemeine Änderung der Marktlage, von denen Venezuela seit Jahren auf dem Weltölmarkt profitieren konnte - ist zumindest so lange vorbei, bis die Weltkonjunktur wieder zum Steigflug ansetzt. Das aber kann dauern. Auch wenn Venezuela genügend Reserven hat, um seine Sozialpolitik auch über eine internationale Durststrecke hinweg zu finanzieren, Kapital für den Revolutionsexport wird knapper werden. Dass die letzte Milliarde an die befreundete argentinische Regierung nur gegen 15 Prozent Zinsen floss, zeigt, dass die Zeichen der Zeit schon in Caracas angekommen sind.

An der Weltwirtschaftskrise kommt in Lateinamerika keiner vorbei, schon gar nicht Mexiko; schließlich ist das Land durch das seit 1994 existierende Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) endgültig zum Wurmfortsatz der US-amerikanischen Volkswirtschaft verkommen. 85 Prozent des mexikanischen Handels wird mit den USA abgewickelt. Wenn die USA husten, dann bekommt Mexiko eine Lungenentzündung. Und nun befinden sich die USA selbst auf dem Wege zu einer Lungenentzündung. Auch wenn Mexikos Finanzsystem nach dem Zusammenbruch im Zuge der Tequila-Krise 1994/95 auf Vordermann gebracht wurde und als relativ stabil gilt, will das im Zweifel nicht viel heißen.

Mexiko: Einbruch der  remesas

"Nichts ist unmöglich", sagt Enrique Castillo, der Präsident der mexikanischen Bankenvereinigung ABM, und er denkt dabei sicher nicht an die Toyota-Produktion im Lande. Neben dem Rückgang der Exportmöglichkeiten auf den schrumpfenden Markt USA wird vor allem der Rückgang der Überweisungen mexikanischer MigrantInnen aus den USA das Land ins Mark treffen. War die Summe 2007 noch auf die Rekordhöhe von 25 Milliarden US-Dollar gestiegen, so wird 2008 mit einem deutlichen Rückgang von mehreren Milliarden gerechnet. Was für Mexiko gilt, gilt für viele mittelamerikanische Länder. Bis auf Costa Rica und Panama sind die sogenannten remesas in allen zentralamerikanischen Ländern längst zum unverzichtbaren Wirtschaftsfaktor avanciert, der die Entwicklungshilfe bei weitem übertrifft.

In der aktuellen Krise zeigt sich, dass in den letzten Boomjahren in allen lateinamerikanischen Ländern mehr oder weniger versäumt wurde, die Weichen in Richtung einer langfristigen Entwicklungsstrategie zu stellen. Diese müsste unter anderem weit mehr als die Rohstoffe, die Ressource Bildung und Ausbildung in den Vordergrund stellen und versuchen, ökologischer mit ökonomischer Nachhaltigkeit zu verbinden. An letztgenannter Herausforderung sind freilich bisher noch alle Staaten gescheitert, allen voran die Industriestaaten, die nun Auslöser für die erste Weltwirtschaftsrezession seit 1945 sind, wie der Internationale Währungsfonds (IWF) postuliert. Sicher auch im eigenen Interesse, denn Krisenzeiten waren noch allemal Hochzeiten für den IWF, der längst einer Generalüberholung bedürfte - wie das gesamte Weltwirtschaftssystem insgesamt.

Martin Ling