Massen in Bewegung
"Heißer Herbst" der Proteste in Italien
Italien erlebt in diesen Wochen die bislang größten Protestbewegungen gegen die Politik der Mitte-Rechts-Regierung. Den Anfang machten SchülerInnen und Studierende. Mit einiger Verspätung ist auch die gute alte Arbeiterbewegung zu neuem Leben erwacht. Ob die bei den Wahlen im April schwer gebeutelten Parteien der Linken vom Aufschwung der Kämpfe profitieren können, ist noch offen. Derweil machen organisierte Faschisten, oft in Arbeitsteilung mit der Polizei, Jagd auf DemonstrantInnen. Italien erlebt einen "Heißen Herbst", der - allen offensichtlichen Unterschieden zum Trotz - an 1969 erinnert.
Die satte rechte Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments erlaubt Silvio Berlusconi ein "Durchregieren", von dem seine europäischen KollegInnen nur träumen können. Auch unpopuläre Maßnahmen wie die von der zuständigen Ministerin Maria Stella Gelmini als "Bildungsreform" ausgegebenen Einsparungen gehen da mühelos durch: Während den ohnehin überfüllten Universitäten weitere Gelder gestrichen werden, drohen den Schulen noch massivere Umbaumaßnahmen. Nach den Plänen der Regierung sollen 87.000 Lehrerstellen gestrichen, 4.200 kleinere Schulen geschlossen und die Ganztagsschule abgebaut werden. Hinzu kommen eher ideologisch motivierte Maßnahmen wie die Einführung von Schuluniformen und die Wiederbelebung der Betragen-Note - beides soll der Hebung der "Disziplin" dienen. Abgerundet wird das, was die regierende Rechte unter Bildungspolitik versteht, durch die Lega Nord, die "Sonderklassen" für SchülerInnen mit Migrationshintergrund einführen will.
SchülerInnen und Studierende antworten auf diese Zumutungen seit Wochen mit spektakulären Aktionen wie Besetzungen von Schulen und Instituten, Demonstrationen und Blockaden. Unterstützung finden sie nicht nur beim Lehrpersonal, sondern auch bei der um die Ausbildung ihres Nachwuchses besorgten Elternschaft. Höhepunkt der Proteste war der landesweite Schulstreik am 30. Oktober. Mehr als 70% der Schulen blieben geschlossen, annähernd eine Million Menschen versammelten sich zu endlosen Demonstrationszügen in der Hauptstadt. Am 14. November folgte ein landesweiter Hochschulstreik, ebenfalls begleitet von einer Riesendemo in Rom.
Walter Veltroni sendet eine "Botschaft der Zuversicht"
Während es bei lokalen Protestaktionen zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam, prügelte am 30. Oktober in Rom eine Gruppe von 50 Neofaschisten in die friedliche Menge. Wie die Schläger mit ihrem Transporter bis zur Piazza Navona vordringen konnten, bleibt ein Rätsel. Selbst die katholische Zeitschrift Famiglia Cristiana kritisierte die Polizei und sprach von einer möglichen Wiederkehr der "Strategie der Spannung" - dem Ende der 1960er Jahre praktizierten Zusammenspiel von staatlichen Organen und Faschisten mit dem Ziel, die linke Massenbewegung zu zerschlagen.
Ob es sich derzeit überhaupt um eine dezidiert linke Bewegung handelt, ist umstritten. Viele der protestierenden SchülerInnen und Studierenden betonen, sie seien "weder links noch rechts". Natürlich bekommen sie Unterstützung von der oppositionellen Demokratischen Partei und von der außerparlamentarischen Linken. Von einem "gemeinsamen Kampf" lässt sich aber nur bedingt reden. Die tiefe Krise der Linken ist mit ein paar Demos nicht zu beheben, mögen sie auch noch so erfolgreich sein: So demonstrierten am 11. Oktober in Rom 300.000 AnhängerInnen der im April aus dem Parlament gefegten Linken. Zwei Wochen später, am 25. Oktober, waren es mehr als doppelt so viele, die, ebenfalls in Rom, dem Aufruf der Demokratischen Partei folgten, der Rechtsregierung entgegenzutreten. Aber wie? Zwar habe Oppositionsführer Walter Veltroni die rechte "Kultur des Individualismus und Egoismus" wortreich kritisiert, schreibt die Tageszeitung Il Manifesto; sein politisches Angebot aber habe sich auf eine sehr vage "Botschaft der Zuversicht" und einen neuen Slogan beschränkt: "Ein anderes Italien ist möglich."
Identitätspolitik mit Hammer und Sichel oder sozialer Block
Die außerparlamentarische Linke, vor allem die Partei der kommunistischen Neugründung (Rifondazione Comunista - RC), ist derzeit vor allem damit beschäftigt, den während ihrer Beteiligung an der Regierung Prodi verlorenen Kontakt zu ihrer eigenen Klientel wieder herzustellen. Die Demonstration am 11. Oktober war dabei ein wichtiger Schritt. Claudio Grassi, Exponent der Strömung Essere Comunisti ("Kommunisten sein") und die "Nummer zwei" der neuen Mehrheit um Paolo Ferrero, geriet in der Parteizeitung Liberazione geradezu ins Schwärmen über die zahllosen roten Fahnen mit Hammer und Sichel und den damit getanen "nächsten Schritt zur Rekonstruktion der italienischen Linken".
Was Grassi jubeln lässt, ist für Nichi Vendola, den auf dem Kongress von Chianciano Terme Ende Juli (vgl. ak 530) knapp unterlegenen Kandidaten der Minderheit, eher Anlass zur Sorge. Die "identitäre Demonstration" des 11. Oktober habe keinen politischen Vorschlag gemacht. Notwendig sei es, der schon vor ihrem Wahlsieg hegemonialen Rechten einen "sozialen Block" entgegenzustellen, der die sozialen Rechte aller verteidige und so neue Bündnisse schaffe. Zu diesem Zweck sei auch ein Dialog mit der Demokratischen Partei notwendig. Die von Vendola und Bertinotti gegründete überparteiliche "Assoziation für die Linke" scheint derzeit aber nur mühsam voran zu kommen.
Bleibt die Hoffnung, dass die Aktionen der "Straße" der organisierten Linken neuen Schwung verleihen. Mit Verspätung hat sich auch die Arbeiterbewegung zurückgemeldet. Nach einem Generalstreik der gewerkschaftlichen Basiskomitees am 17. Oktober wird es am 12. Dezember einen landesweiten Streik der Metaller geben, organisiert von der linken Gewerkschaft FIOM. Ob daraus ein Generalstreik wird, ist noch offen. Der Gewerkschaftsbund CGIL scheint dazu bereit, während die als "gemäßigt" geltenden Gewerkschaftsbünde CISL und UIL eher auf Verhandlungen mit der Regierung setzen.
Js.