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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 533 / 21.11.2008

Leben in und außerhalb von Lagern

Ein kritischer Blick auf die deutsche Flüchtlingspolitik

In dem Buch "Die Gegenwart der Lager" hat es sich Tobias Pieper zur Aufgabe gemacht, die Situation und Lebensbedingungen in den Lagern für Asylsuchende, De-facto-Flüchtlinge und Geduldete zu beschreiben. Zugleich analysiert er die Entwicklung und die gesellschaftspolitische Funktion der Lagerunterbringung. Er räumt dabei der Perspektive der LagerbewohnerInnen Vorrang ein, will die systematischen Menschenrechtsverletzungen benennen und damit Kritik an den bestehenden Verhältnissen üben.

Lager, als provisorische Unterbringungsstätte für viele Menschen, gibt es für MigrantInnen aktuell in verschiedenen Formen und Größenordnungen, als große und kleinere Sammellager (Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte in den Kommunen), als Abschiebelager (Ausreiseeinrichtungen) und als Internierungslager (Abschiebegefängnisse). Bei dem Begriff Lager ist für Pieper wichtig, dass er inhaltlich spezifiziert wird, um so eine Abgrenzung von verschiedenen Lagertypen, insbesondere von den Konzentrationslagern im Nationalsozialismus sicher zu stellen.

Zunächst gibt er einen guten Überblick über die zentralen flüchtlingspolitischen Gesetzesentwicklungen, die er "historische Entwicklungslinien der institutionellen Entrechtung" nennt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Lagerunterbringung, die seit 1982 bundesweit als Soll-Bestimmung besteht. Dabei werden die Migrationsbewegungen in die BRD sowie die politischen rassistischen Diskurse miteinbezogen und in einen Zusammenhang gestellt.

Anschließend wird der Blick auf die konkrete, lokal variierende Umsetzung der Gesetze und die daraus resultierenden Lebensbedingungen für die betroffenen MigrantInnen gerichtet. Untersucht werden ein Lager in Berlin, zwei in Brandenburg sowie das Abschiebelager Bramsche-Hesepe in Niedersachsen. Hier hat der Autor Interviews mit BewohnerInnen sowie mit den Lagerleitungen und den MitarbeiterInnen durchgeführt. Hinzu kommen seine eigenen Beobachtungen während der (z.T. mehrtägigen) Besuche in den Lagern.

Die Lebensbedingungen beschreibt Pieper detailreich; mit Zitaten gibt er die Sichtweise der Betroffenen wieder. Die Unterkünfte sind eng, dreckig, laut. Privatsphäre existiert nicht. Aufgrund von räumlicher Isolation und fehlenden materiellen Mitteln ist das Leben oft von Nichtstun und Langeweile geprägt und führt mit der Zeit zu Lethargie und Aggressionen. In der Metropole Berlin ist die räumliche und gesellschaftliche Isolation nicht so extrem wie in den ländlichen Gebieten in Brandenburg. Gleichzeitig sind die BewohnerInnen in Berlin aufgrund des dortigen hohen migrantischen Bevölkerungsanteils nicht sofort als LagerbewohnerInnen identifizierbar und unterstützende Netzwerke sind verbreiteter.

Je nachdem ob sich die Lagerleitung und deren MitarbeiterInnen engagiert oder repressiv verhalten, werden Handlungsmöglichkeiten der LagerbewohnerInnen erweitert bzw. eingeschränkt. Engagiertes Handeln bleibt allerdings immer ungenügend und kann an den grundsätzlichen Lagerbedingungen nichts verändern. Ebenso bestehen bleibt immer das Machtverhältnis zwischen Lagerleitung und BewohnerInnen inklusive der ungleich verteilten Definitionsmacht (Macht-Wahrheits-Komplex).

Dezentral funktioniert Entrechtung besser

Das Abschiebelager in Bramsche-Hesepe stellt einen Sonderfall dar. Hier sind alle Behörden auf dem Lagergelände vorhanden, und arbeiten koordiniert auf das gemeinsame Ziel hin, die BewohnerInnen zur "freiwilligen" Ausreise zu nötigen. Zu deren Durchsetzung wurde ein individuell abgestimmtes Belohnungs- und Bestrafungssystem geschaffen. Etwa ein Drittel der Menschen dort verschwindet aufgrund der Bedingungen in die Illegalität.

Dadurch, dass die Lager dezentral über die BRD verteilt sind, werden sowohl das Lagersystem und die Entrechtung unsichtbar als auch die BewohnerInnen und deren Widerstände besser kontrollierbar. Außerdem können so die Lager als Puffer für die lokalen regulären wie irregulären Arbeitsmärkte dienen. Deren Anforderungen entsprechend werden Arbeitserlaubnisse verteilt. Aufgrund der nicht auszuhaltenden Lebensbedingungen in den Lagern verschwinden viele MigrantInnen aus den Lagern und arbeiten oft irregulär.

Dazu tauchen sie nicht immer komplett in die Illegalität unter, sondern melden sich zu den notwendigen monatlichen Terminen zurück. In den Lagern in Berlin sind 50 bis 60 Prozent durchgehend anwesend, in Brandenburg ca. 10 bis 20 Prozent. Die LagerbetreiberInnen (z.T. sind die Lager privatisiert) dulden oder fördern dieses Verschwinden, da sie die Kosten für die Unterbringung pauschal erhalten und die Nichtanwesenheit von BewohnerInnen finanzielle Gewinne bedeutet.

Finanzielle Gewinne für LagerbetreiberInnen

Wenn die Entrechtung unsichtbar und durch ihre Institutionalisierung normalisiert wird, werden gleichzeitig Flüchtlinge durch die Lagerunterbringung, durch Altkleider, Einkaufsgutscheine, Polizeikontrollen etc. rassistisch markiert. Die so produzierten Bilder von Massen von Armen, die anderen auf der Tasche liegen, von gefährlichen und kriminellen Menschen, nähren rassistische Denkmuster und Diskurse und werden bei Bedarf in die Öffentlichkeit gebracht.

Die MigrantInnen werden in dem Buch nicht als zu bemitleidende hilflose Opfer dargestellt. Sie bleiben handelnde Subjekte, die Lücken für Handlungsspielräume suchen und nutzen, die sich gegen Bedingungen auflehnen und protestieren und die ein Leben außerhalb der Lager organisieren. Pieper arbeitet zugleich das Zusammenwirken der einzelnen repressiven Instrumente der deutschen Flüchtlingspolitik heraus, lässt damit Herrschaftstechniken sichtbar werden und stellt das Ganze in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge.

Frank Eggebrecht

Tobias Pieper: Die Gegenwart der Lager. Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik. Westfälisches Dampfboot, Münster 2008, 425 Seiten, 29,90 EUR