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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 534 / 19.12.2008

Von der Leinwand zum Webstuhl

Hanloser/Reitter: Kritik des Zirkulationsmarxismus

"Nichts liegt bei Marx so vor, als ob man es nur abschreiben und nachsprechen könnte," konstatieren Gerhard Hanloser und Karl Reitter zu Beginn ihrer Streitschrift "Der bewegte Marx". Damit wenden sie sich zunächst einmal gegen die Unart, die gründliche Marx-Lektüre durch das Einpauken einer der zahlreichen Einführungen in "Das Kapital" zu ersetzen, die die ganze darstellerische Komplexität dieses Werks - die Perspektivwechsel, die nur scheinbaren Wiederholungen - in einem möglichst knapp gehaltenen Katalog von Definitionen und Axiomen zum Verschwinden bringen.

Hanloser und Reitter geht es aber nicht nur um ein Plädoyer für die sorgfältige und vollständige Lektüre eines Buches, dem sein Autor immerhin mehrere Jahrzehnte seines Lebens gewidmet hat. Was sie als "Zirkulationsmarxismus" kritisieren, ist das spezifischere Phänomen eines Umgangs mit der Marxschen Kapitalanalyse, bei dem gewissermaßen nur abgeschrieben und nachgesprochen wird, was in den ersten Abschnitten des ersten Bandes steht, bei dem also die dort entwickelten Wert-, Waren- und Fetischbegriffe in den Mittelpunkt gerückt und als das Wesentliche der Kritik der politischen Ökonomie ausgegeben werden.

Gemeint ist somit eine Lektürestrategie, die den von Marx im ersten Band des "Kapital" vollzogenen Übergang von der Analyse der Zirkulationssphäre zur Analyse der Produktionssphäre - vereinfacht gesagt: von der Leinwand zum Webstuhl - ignoriert oder Funktion und Tragweite dieses Übergangs nicht genügend gewichtet. Eine solche Lektürestrategie hat bedeutende Konsequenzen, denn die in den ersten Abschnitten des "Kapital" vorgelegte Analyse der Zirkulationssphäre "kennt weder Klassen, noch Ausbeutung, noch Dynamik. Alle Begriffe, mit denen Marx versucht, diese Dynamik zu erfassen, wie Akkumulation des Kapitals, formelle und reelle Subsumption, tendenzieller Fall der Profitrate, Steigerung der Produktivkraft der Arbeit, sind auf dieser Stufe noch nicht zu entfalten."

Der Zirkulationsmarxismus weigert sich Hanloser und Reitter zufolge aber nicht nur, Marx dorthin zu folgen, wo, wie sie treffend formulieren, aus Gleichen und Freien Ungleiche werden und der Äquivalententausch "in die Aneignung unbezahlter Mehrarbeit kippt". Er ist auch, wie später ausgeführt wird, außer Stande, in den historischen Abschnitten des ersten Bandes, etwa in Marxens Darstellung der ursprünglichen Akkumulation in England, mehr zu sehen als die "Bebilderung einer ansonsten schwierigen theoretischen Materie (...), die etwas Begriffsstutzigen helfen soll, die Aussagen besser zu verstehen." Wo der Kapitalismus nicht in seiner Konflikthaftigkeit und in seinem Prozesscharakter erkannt wird, interessiert historische Darstellung bestenfalls als Mittel zur Begriffsillustration. Wie weit Marx selbst von einem solchen Umgang mit der Geschichte entfernt war, zeigen vielleicht am eindringlichsten seine von Hanloser und Reitter nur kurz erwähnten Studien zur russischen Bauerngemeinde, der Obschtschina. Sie führten Marx gegen Ende seines Lebens bis an die Schwelle einer grundlegenden Revision seiner früheren Prognosen. Auch Fragen nach dem Zusammenhang von Klassenherrschaft und technologischer Innovation, wie sie von den italienischen Operaisten und unter ihnen vor allem von Raniero Panzieri behandelt worden sind, müssen bei einer zirkulationsmarxistischen Lektüre des "Kapital" von vornherein außerhalb des Blickfelds bleiben. Wo sie auf diese Auslassungen des Zirkulationsmarxismus zu sprechen kommen, ist die Streitschrift Hanlosers und Reitters am stärksten.

Den Prozesscharakter des Kapitalismus verstehen

Wer aber sind nun die Zirkulationsmarxisten? Hanloser und Reitter stellen gleich zu Anfang klar, sie seien "nicht der Meinung, dass es den Zirkulationsmarxismus als umfassende, eigenständige Strömung gibt." Es handle sich vielmehr um einen Ansatz, der selten in Reinform zu beobachten sei. Zirkulationsmarxistische "Elemente" und "Aspekte" entdecken sie bei Alfred Sohn-Rethel und Stefan Breuer; als "grundlegend zirkulationsmarxistisch strukturiert" bezeichnen sie die Wertkritik etwa von Robert Kurz, wobei sie sogleich relativierend hinterher schicken, dass es im Umfeld der Wertkritik durchaus auch Bemühungen gebe, geschichtliche Dynamiken ernst zu nehmen. Als kontrovers kann jetzt schon Hanlosers und Reitters Feststellung gelten, auch Michael Heinrich sei dem Zirkulationsmarxismus zuzurechnen. Zwar werden in Heinrichs jüngster Publikation "Wie das Marxsche Kapital lesen?" nur die ersten zwei Kapitel des Marxschen Hauptwerks verhandelt, doch war bei einer Diskussion auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg zu vernehmen, dies sei nur der Auftakt zu einem noch in Arbeit befindlichen umfassenderen Kommentar.

Der Verdacht, der Zirkulationsmarxismus könnte doch nur ein Phantom sein, von dem sich eines Tages wird sagen lassen: "Alle haben von ihm gehört, aber niemand ist ihm begegnet", stellt sich bei skeptischer Lektüre von "Der bewegte Marx" durchaus an mancher Stelle ein. Ein zu vernachlässigendes Phänomen wird der Zirkulationsmarxismus aber nicht schon deshalb, weil er sozusagen kein theoretisches Postfach hat; als eine mit den verschiedensten Ansätzen (und mitunter sogar mit gegenläufigen Denkbewegungen) kompatible Interpretationstendenz sollte er wohl ernst genommen werden. Die Weigerung, das zu tun, wäre so unglücklich wie eine Diskussion, die sich nur um die Denunziation oder Ehrenrettung einzelner Autoren dreht.

Max Henninger

Gerhard Hanloser und Karl Reitter: Der bewegte Marx. Eine einführende Kritik des Zirkulationsmarxismus. Unrast-Verlag, Münster 2008, 64 Seiten, 7,80 EUR