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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 534 / 19.12.2008

Ist TINA tot?

Steht der Kapitalismus (mal wieder) vor dem Abgrund?

Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblockes Ende der 1980er Jahre triumphierten die VertreterInnen und IdeologInnen des Kapitalismus und wähnten sich am Ende der Geschichte: Großspurig und drohend zugleich erklärten sie, zum Kapitalismus gäbe es keine Alternative: There is no alternative! (TINA) Fortan ging nicht mehr das Gespenst des Kommunismus um die Welt, sondern TINA. Wer und was hat TINA zu Fall gebracht? Wird sie wieder aufstehen? Oder wird sie jemand daran hindern?

"Die Pleite des Kapitalismus", so titelte die Frankfurter Rundschau am 9. Oktober 2008. Für gewöhnlich hört man einen solchen Satz nicht von jenen, die den Kapitalismus seit Jahr und Tag für "alternativlos", im schlimmsten Fall für verbesserungswürdig halten. In einer schweren Krise wie dieser schon.

Das fett gedruckte Schuldeingeständnis unterlegte die Frankfurter Rundschau mit einem Satz aus dem "Kommunistischen Manifest" von Karl Marx und Friedrich Engels, den man unter normalen Umständen allerhöchstens im Feuilleton lesen darf: "Die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor."

Es muss etwas Gewaltiges, Erschütterndes passiert sein ... Scheinbar und plötzlich steht alles auf dem Prüfstand: der "Marktradikalismus", die Ideologie des sogenannten Neoliberalismus, die Mär von den "Selbstheilungskräften des Marktes" ...

Es herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass das Epizentrum dieser "Finanzkrise" in den USA liegt. Das hat nicht nur etwas mit der (Schaden-)Freude der MitkonkurrentInnen (in den EU-Staaten) zu tun, sondern vor allem mit den globalen Machtfaktoren. Mittlerweile sind die Stimmen fast vollständig verstummt, die behaupteten, dass hier alles ganz anders, Deutschland also nicht betroffen sei, ebenso wie jene Stimmen, die ihren Traum von der polyzentristischen Welt für die Wirklichkeit hielten. In Wirklichkeit ist die ökonomische und politische Macht der USA nach wie vor so groß, dass fast alle Staatsökonomien davon betroffen sind - direkt oder indirekt.

Politische Konsequenzen aus der Finanzkrise

Wie eng Finanz- und Industriekapital tatsächlich zusammenhängen, wird gerade jetzt peu à peu als Erkenntnis durchgereicht: Man rechnet als zweite Welle mit der größten Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA und Europa.

Weltweit werden Billionen von Euro bzw. US-Dollar an Staatsgeldern dafür aufgewendet, um das Bankensystem zu retten und die Einbrüche in den Produktionssektoren durch "Konjunkturprogramme" abzufedern, um so die Wertschöpfungskette entlang der reißenden Glieder zu bandagieren. Was als Keynesianismus, also staatliche Steuerungen des Wirtschaftslebens verschrien war, kehrt nun zurück: Der Staat als Arzt am Krankenbett des Kapitalismus.

Wie liebevoll und patientenorientiert dabei der deutsche Staat agiert, kann man die letzten Monate beobachten: 500 Milliarden Euro an Steuergeldern wurden bereitgestellt, um die (drohenden) Verluste zu sozialisieren. Wenn arme Menschen ihr Recht auf Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe in Anspruch nehmen, dann thront über allem der harmlos klingende Spruch: "Fördern und Fordern". Im wirklichen Leben dieser Menschen hat dies bei fehlender "Mitwirkungspflicht" Kürzungen des kargen Unterhalts von bis zu 80 Prozent zur Folge!

Geradezu lächerlich ist dagegen die "Mitwirkungspflicht" derer, die diese Staatsgeschenke in Anspruch nehmen: Verzicht auf zusätzliche Boni-Zahlungen und eine Begrenzung der Managergehälter auf 500.000 Euro im Jahr - wobei, der Farce halber, diese Luxus-Beschneidungen nicht zwingend, sondern im "Einzelfall" zu prüfen seien. Und ganz makaber ist der Beschluss der Bundesregierung, das, was vorher Bilanzfälschung gewesen wäre, zu legalisieren: Verluste dürfen fortan herausgerechnet, Bilanzen frisiert werden - dank des neuen Bilanzierungsrechts. (1)

Natürlich ist das nicht alles, verkündete die Bundesregierung und setzte eine Expertengruppe ein, deren Aufgabe es sein soll, Vorschläge zu erarbeiten, die geeignet sein könnten, Lehren aus der Krise zu ziehen ...

Selbstverständlich werden PolitikerInnen und Wirtschaftsbosse nicht müde zu betonen, dass nicht das kapitalistische System der Fehler sei, sondern Übertreibungen und Auswüchse, die man nur korrigieren müsse. Geradezu esoterisch beschwören sie die Krise als Chance zur Erneuerung, um gestärkt daraus hervorzugehen. So gab der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) im Orchestergraben der Deutschland AG bereits kurz nach dem Aufspannen des staatlichen Rettungsschirmes die Richtung vor: "In einigen Monaten wird es schon wieder darum gehen, dass sich der Staat zurücknimmt aus Respekt vor den grundsätzlichen Stärken des Marktes." (FAZ, 22.10.08)

Bisher geht diese Rechnung auf. Bleibt es bei diesem Fahrplan, wird es zu keiner Krise des Kapitalismus kommen, sondern zu einer längst überfälligen Korrektur innerhalb des Weltkapitalismus - zugunsten europäischer Staaten, die nun institutionell das festschreiben wollen, was ihnen an ökonomischer und politischer Macht längst zugefallen ist.

Krise des Kapitals oder Kapitalismus in der Krise

Susan George, Politikwissenschaftlerin und bis 2006 Vizepräsidentin von attac Frankreich, hatte genug von der gehörlosen Babydoll-Puppe TINA und stellte ihre Gegenspielerin TATA vor: There Are Thousands of Alternatives. Tausende von Gegenvorschlägen und Forderungen wurden inzwischen zusammengetragen, und zumindest die Vorstellungen von attac haben gelegentlich und am Rande in der bürgerlichen Öffentlichkeit Gehör gefunden. Noch bevor man die Finanzkrise offiziell einräumte, hatte attac im Juni 2008 ein "Statement zur Finanzkrise und zu demokratischen Alternativen" verfasst.

Die Forderungen und Vorschläge sind nicht neu: Besteuerung aller Arten von Finanztransaktionen, progressive Besteuerung von Kapitaleinkommen, Resozialisierung von privatisierten öffentlichen Gütern (Energie, Gesundheit, Bildung), Verschärfung der Eigenkapitalvorschriften für Banken, Regulation von Derivaten, Stärkung nationalstaatlicher und internationaler Institutionen. Manche dieser Forderungen haben Eingang in die "Empfehlungen" der Beratergruppe gefunden, die der Bundesregierung aus der Finanzkrise helfen sollen. Schließlich zielen all diese Maßnahmen nicht auf die Abschaffung, sondern auf die Stabilisierung und Optimierung des kapitalistischen Systems.

Von Basisgruppen und Teilen der Gewerkschaft kommen die Forderungen nach Abschaffung des Leiharbeiterstatus und prekärer Arbeitsverhältnisse, der Ein-Euro-Jobs, der Hartz-IV-Gesetze bis hin zur Agenda 2010, begleitet von den Forderungen nach Mindestlohn und einem bedingungslosen Grundeinkommen. Ganz zweifellos würde die Verwirklichung dieser Forderungen das Leben von Millionen von Menschen erträglicher machen. Einige dieser Forderungen finden in den Reihen der parlamentarischen Opposition Gehör, doch der Druck auf die Große Koalition ist weder parlamentarisch noch außerparlamentarisch groß genug, um diese zu zwingen, dem nachzugeben.

Wenn heute also einige der attac-Forderungen auf der Regierungsagenda stehen, dann sicherlich nicht, weil der Druck von unten so stark ist oder die Forderungen das System sprengen würden. Im Gegenteil: Sie stellen eine notwendige Balance zwischen Finanz- und Produktionssektoren her, um jene "unterirdischen Gewalten" wieder zu bändigen, die dem kapitalistischen System innewohnen. Das Ziel all dieser "Zügelungen" ist ein einfaches: Die Renditeerwartungen und -möglichkeiten zwischen Finanz- und Produktionskapital sollen wieder angeglichen werden! Das Ergebnis für eine antikapitalistische Linke wäre dann ein makabres: Es würde sich fortan wieder lohnen, in Menschen statt in Erwartungen zu "investieren". Im Zentrum des Kapitalinteresses stände fortan wieder die Ausbeutung des Menschen, mit Renditeerwartungen, für die man sich gegenüber der Konkurrenz nicht länger schämen müsste! (2)

Vom Netzwerk attac bis zur Partei DIE LINKE ist unhinterfragt klar, dass die Bewältigung der Finanzkrise ein nationales Anliegen sei. Deshalb hat auch die LINKE im Parlament dem "Rettungspaket" der Großen Koalition im Prinzip zugestimmt - mit ein paar mehr Forderungen an die "Hilfsbedürftigen".

Hetzerisch bzw. unpathetisch gefragt: Was ist eigentlich so schlecht an der Bankenkrise? Warum sollte eine (außerparlamentarische) Linke die verschiedenen Kapitalien und Renditejäger aufhalten, sich gegenseitig in den Ruin zu treiben? Ist es Aufgabe der Linken, sich als besserer Systemdoktor anzubieten? Wäre es politisch nicht sinnvoll, die ganze Kraft darauf zu verwenden, zu verhindern, dass die Krise des Kapitals sozialisiert wird? Warum wird die Krise des Kapitals nicht dazu genutzt, es weiter zu schwächen, anstatt aufzuhelfen?

Als Grund für diese gemeinsame, nationale Anstrengung werden zwei Argumente ins Feld geführt: Erstens sei die (parlamentarische und außerparlamentarische) Linke zu schwach, mehr durchzusetzen. Zweitens ginge es nicht darum, Banken und Großunternehmen zu retten, sondern die Folgen für die abhängig Beschäftigten (Entlassungen, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit) zu mildern.

Zwischen Erneuerung und Überwindung

Keine Frage, die Linke ist ausgesprochen schwach. Nach beschriebener Realpolitik folgt ein großes Loch, danach große Transparente, auf denen "Smash capitalism", "Luxus für alle" oder "Für den Kommunismus" zu lesen ist. Wie man von einem "guten", "gerechten" Kapitalismus zu dessen Überwindung gelangen könnte, weiß niemand. Zweifellos bestände darin die größte Herausforderung, die Lücke zwischen Systemoptimierung und jenen himmelhohen Versprechungen zu füllen.

Eine durchaus reale Möglichkeit wäre, sich nicht an der Rettung von Banken und Großunternehmen zu beteiligen, sondern deren erpresserisches Potenzial zu verringern, das in Großkapitalien mit "systemischen Risiken" liegt! Wenn z.B. Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) im Bankensektor ein "öffentliches Gut" entdeckt, das mit einer De-facto-Staatsgarantie ausgestattet ist, dann sollte man doch diese Andeutung aufgreifen und weitertreiben und die Verstaatlichung (in welcher Form auch immer) des Finanzsektors im Auge haben - ein kluger Schritt auf dem Weg zu einer Vergesellschaftung, die eine Linke als essenzielles Ziel haben sollte.

Alles spricht dafür, dass bereits im nächsten Jahr damit begonnen wird, die Hunderte von Milliarden Euro Staatsschulden durch weitere "Einsparungen" ganz unten einzutreiben. Es wäre sicherlich ein großes aber machbares Ziel, die Sozialisierung dieser Milliardenschulden zu verhindern. Dazu müsste man den Mut haben, aus der Autonomie der Vielfalt (die oft nur Vereinzelung bedeutet) auszubrechen, um gemeinsam einen Prozess zu wagen, der den Widerspruch zwischen Verbesserungen im System und Ziele, die darüber hinausweisen nicht leugnet, sondern zugunsten Letzterer in Bewegung bringt.

Wolf Wetzel

Anmerkungen:

1) So weist der aktuelle Quartalsbericht der Dresdner Bank einen Verlust von 834 Millionen Euro aus. Ohne die neuen Bilanzierungsregeln wäre der Verlust um mehr als 400 Millionen Euro höher! (FAZ, 11.11.08)

2) Die Renditen auf dem Finanzmarkt waren zwei- bis dreimal so hoch wie im Produktionssektor. So hat z.B. Porsche 2007 durch Finanztransaktionen mehr Gewinn gemacht, als durch den Verkauf ihrer Nobelkarossen.