Ein Filetstück wird 30 Jahre
Zur Geschichte des linken Zentrums "alternative" in Lübeck
Dieses Jahr wurde auf der Lübecker Wallhalbinsel der dreißigste Geburtstag des linksalternativen Projektes "alternative" gefeiert, das von den NutzerInnen liebevoll "Walli" genannt wird. Die Geschichte des Wohn- und Kulturprojektes ist mit Sicherheit nicht einmalig. Sie erzählt sich wie die Geschichten so vieler linker Projekte in der Bundesrepublik. Mit Tiefen und Höhen, mit Trauer und Wut und vielen spannenden kleinen Erzählungen. Selten jedoch ist die Geschichte eines solchen Projektes so gut aufgearbeitet worden wie in dem vor kurzem veröffentlichten Band "30 Jahre alternative!".
Lübeck ist nicht Frankfurt oder Düsseldorf, und schon gar nicht Berlin oder Hamburg. Hier ist alles eine Nummer kleiner, ein wenig enger und doch lässt sich die Geschichte der Walli für viele Projekte verallgemeinern. Ob Punks, Skins, Autonome, ob Metal, Hardcore oder Reggae, die Walli hat alle diese Bewegungen und Phasen durchlebt und überlebt. Sie kann Geschichten erzählen über Hausdurchsuchungen im Zusammenhang mit der Zeitschrift radikal, über Solidaritätskampagnen für die Gefangenen der RAF und über Platzbesetzungen und Räumungsdrohungen. Auch Debatten um Sexismus, Hierarchien und Mackertum finden sich auf der Walli.
Begonnen hatte alles mit der Eröffnung eines selbstverwalteten Zentrums mit Teestube, Hinterhofkino und einem Buchladen in der Hüxstraße 69 im Jahr 1978. Nach einer Räumungsklage im Herbst 1983 wurde das Haus im darauffolgenden Winter besetzt. Es folgten Verhandlungen mit der Stadt und schließlich 1984 der Umzug auf die Wallhalbinsel, wo die alternative bis heute besteht.
Passend zum dreißigsten Geburtstag haben sich einige NutzerInnen zusammengefunden und den Band "30 Jahre alternative!" zusammengestellt. Eine lohnenswerte, wenn auch mühselige Arbeit, wie einer der Herausgeber im Gespräch verdeutlicht: "Wir haben Gespräche mit vielen alten AktivistInnen geführt und diese dann meist selber verschriftlichen müssen. Aus Archiven haben wir alte Protokolle, Flugblätter und Zeitungsartikel zusammengesucht." Herausgekommen ist dabei eine bunte Mischung mit kuriosen Anekdoten, Zeitungsausschnitten, alten und neuen Fotos und Berichten von witzigen Aktionen. Die teilweise sehr persönlichen Erzählungen von Ehemaligen und immer noch Aktiven ermöglichen zudem ein lockeres Lesevergnügen.
Die Geschichte der alternative wird chronologisch nachgezeichnet, die einzelnen "Epochen" werden in ihrem geschichtlichen Kontext verordnet. Zurückgegriffen wird dabei auch auf Artikel aus der Broschüre "10 Jahre alternative" aus dem Jahr 1988. Das Buch geht auf die vielen Kollektive ein, die auf der alternative aktiv waren, und die Initiativen, von denen Aktivitäten ausgingen: Ein internationales Kulturcafé, das Lübecker Plenum gegen Faschismus, die Bedeutung der Frauenbewegung für die Walli und der Widerstand gegen die Atomkraft ... Die Aufzählung ließe sich noch lange erweitern. Sie verdeutlicht, dass immer wieder neue Menschen auf die Walli kamen, neue Ideen entwickelt wurden und neue Gruppen und Bündnisse entstanden. Ihre Geschichten gibt "30 Jahre alternative" wieder und zieht dabei auch ein Resümee. Die Frage nach der Bedeutung der Walli, nach ihrer gesellschaftlichen Funktion damals und heutzutage gerät dabei manchmal etwas kurz, Fehler und Stärken werden hingegen unter die Lupe genommen.
Der neue Band ist insgesamt sehr umfassend. In einem kurzen Gespräch über das Buch erläutert einer der Redakteure seine Motivation zu dem Buchprojekt: "Ich finde, spannend an der Geschichte der Walli ist, dass das Projekt bereits seit solch einer lange Zeit existiert und auch noch weiter bestehen wird. Es gibt nicht viele linke Zentren in Deutschland, die auf so eine lange Geschichte zurückblicken können. Klar, Lübeck ist sicherlich nicht vergleichbar mit anderen Großstädten. Man kann aber aus der Geschichte der Walli einiges lernen." Denn ähnlich wie andere alternative Zentren war auch die Walli von Umstrukturierungen im Stadtbild, genauer auf der Wallhalbinsel bedroht. Wo früher das Gelände Büsche und verlassene Eisenbahngleise umgaben, befinden sich nun Hotels, Parkplätze und eine Kongresshalle. Die Debatte um diese Veränderungen begann bereits in den 1980er Jahren, als die Stadt das Gelände auf der Wallhalbinsel als "Filetstück" für Investoren entdeckte. Auf die Pläne der Stadt wurde jedoch immer wieder erfolgreich mit Kampagnen für den Erhalt des Wohn- und Kulturprojektes geantwortet. 1989 gelang es schließlich, einen Vertrag für die kommenden zehn Jahre auszuhandeln. Allen weiteren Versuchen der Vertreibung hat die Walli bis heute Stand gehalten, und so existieren auf dem Gelände weiterhin ein Bauwagenplatz, der Konzertclub treibsand, das Café Brazil, die Kneipe VeB und Räume für politische Gruppen.
Die letzte Krise hat die Walli erst vor kurzem gemeistert: Der Regierungswechsel auf kommunaler Ebene hin zur CDU brachte die Walli 2003 massiv in Gefahr. Doch die AktivistInnen und SympathisantInnen reagierten mit einer breit angelegten Kampagne, an deren Ende die CDU trotz ihrer absoluten Mehrheit den Vertrag um fünf Jahre verlängern musste. Mit Großdemonstrationen, 15.000 Unterschriften für den Erhalt und spektakulären Aktionen wie der kurzfristigen Besetzung des Holstentors im Sommer 2005 hatten es die AktivistInnen geschafft, die Stimmung in der Stadt gegen die CDU zu wenden. Inzwischen ist der Erhalt der Walli für weitere fünf Jahre gesichert. Passend zum Jubiläumsjahr verlängerte die Stadt im Herbst 2008 den Vertrag - und das verbunden mit einer Mietminderung.
Jonas Füllner
Alternative Tagungsstätte e.V. (Hrsg.): 30 Jahre alternative! Das Buch. Lübeck 2008, 257 Seiten, 6 EUR.
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