Zu viel und zu wenig
Europäische Linke, Kommunismus und italienische Anomalie
"Zu viel und zu wenig" - die Formel von Fausto Bertinotti bringt das Problem im Gebrauch des Begriffs "Kommunismus" auf den Punkt. "Kommunismus" meint eine historische Perspektive, aber gegenwärtig ist schwer zu sagen, wie diese in aktuelle Politik zu übersetzen ist. KommunistInnen wollen mehr, als momentan politisch umsetzbar ist; ihre tagespolitischen Forderungen unterscheiden sich wenig von dem, was andere Strömungen der Linken anstreben. Dass Parteien mit "kommunistischer Identität" zurzeit in Europa keine wesentliche Rolle mehr spielen, ist daher nicht verwunderlich. Was aber bleibt in einem Land wie Italien, wo kommunistische Traditionen eine bedeutende Rolle gespielt haben, davon zu bewahren?
Überall in Europa sind Prozesse der Umgruppierung und Neuformierung der Linken im Gange: Die Anpassung der Sozialdemokratie an den neoliberalen Mainstream hat auf der Linken einen Raum geöffnet. Die kommunistische Tradition kann ihn nicht füllen, weil die Bedingungen, unter denen sie existierte, sich in vieler Hinsicht verändert haben.
Parteien, die sich "kommunistisch" nennen, haben reales Gewicht innerhalb und außerhalb der Parlamente nur noch in zwei Ländern der südlichen Peripherie des Kontinents: in Griechenland und Portugal, wo orthodoxe Traditionsparteien noch über eine soziale Basis und Mobilisierungsfähigkeit in alten industriellen und agrarischen Milieus verfügen. Ihre Politik zielt dort vor allem auf die Verteidigung nationalstaatlicher Souveränität. Einen Sonderfall in der nach Osten erweiterten Europäischen Union stellt ansonsten noch Tschechien dar, wo die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens, zentristisch zwischen Tendenzen der Nostalgie und Erneuerung lavierend, sich als drittstärkste politische Kraft etablieren konnte. In Frankreich ist die einst starke PCF nur noch ein Schatten ihrer selbst, während trotzkistische und linkssozialdemokratische Strömungen in ihren Bemühungen um neue Parteibildungen bislang getrennt agieren. In Spanien agiert die PCE seit langem unter dem Dach der Vereinigten Linken.
In Italien hat sich seit 1991 eine beispiellose Umgruppierung des gesamten Parteienspektrums abgespielt, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges hatte seit Anfang der 1960er Jahre eine durch die Treue zum westlichen Bündnis zusammengehaltene Dauerkoalition aus Christdemokraten, Sozialisten, Sozialdemokraten und Liberalen die Kommunisten von der Regierung ferngehalten; auf der Rechten waren die Neofaschisten eine offiziell geächtete, wenngleich über dunkle Kanäle nicht ungefährliche Randgruppe. Die PCI entwickelte sich unter "eurokommunistischen" Vorzeichen faktisch zu einer sozialdemokratischen Reformkraft - wobei das, was sie von "moskautreuen" Parteien unterschied, gar nicht primär die reformistische Strategie war, sondern die zunehmende Distanzierung von der Sowjetunion.
Die vielen Gesichter des italienischen Kommunismus
Das Ende des "realen Sozialismus" ratifizierte die PCI durch ihre Umwandlung in eine "demokratische Linke". Die Sozialisten und Christdemokraten gingen im Korruptionssumpf unter. Von rechts traten im Norden rassistische Separatisten auf den Plan; die Neofaschisten wurden durch eine ideologische Modernisierung gesellschaftsfähig. Silvio Berlusconi einte die Rechte im Zeichen der "Freiheit" (wobei die alten antikommunistischen Ressentiments weiterhin gute Dienste leisteten), während Romano Prodi die Reformkräfte der linken Mitte sammelte - die dem neoliberalen Sog freilich nicht entgingen. Die alte bürgerliche Mitte verteilte sich auf diese beiden Lager. Seither prägt das politische Geschehen ein "Bipolarismus", der auf beiden Seiten immer wieder Konflikte durchläuft und doch unverrückbar scheint. Inzwischen haben die Linksdemokraten sich mit linksliberalen Kräften zu einer "Demokratischen Partei" nach US-amerikanischem Vorbild vereinigt, was zum Ausstieg des dezidiert sozialdemokratischen Flügels führte. Die Grünen sind im Vergleich zu Deutschland oder Frankreich verhältnismäßig schwach geblieben, stehen dafür aber weiter links.
Das Ende der alten Kommunistischen Partei führte 1991 zu dem bemerkenswerten Vorgang einer rifondazione comunista: Unter diesem Namen trat - im Zeichen von Hammer und Sichel - eine "Partei der kommunistischen Neugründung" (PRC) an, die alle willkommen hieß, die an der Perspektive des Kommunismus festhielten: ehemalige SympathisantInnen des "realen Sozialismus", dogmatische und undogmatische TrotzkistInnen und die Milieus der Neuen Linken innerhalb und außerhalb der alten PCI. Die wichtigste aus dem Linksradikalismus der 1970er Jahre hervorgegangene Organisation, die sich der PRC anschloss, war die Democrazia Proletaria (DP), deren Intellektuelle von Anfang an eine wichtige konzeptionelle Rolle spielten. Der Kommunismus hatte und hat in Italien viele Gesichter und geistige Potenziale. In Italien war auch die "alte Schule" des Parteikommunismus, geprägt von Gramsci und Togliatti, offener, reflektierter, realistischer, geistig souveräner und weniger dogmatisch als anderswo. Dadurch war in der PRC ebenso wie zuvor bereits in der PCI die Koexistenz mit einer Neuen Linken möglich, deren Bezugsrahmen nicht der "reale Sozialismus" war.
Rifondazione Comunista war nie eine "Programmpartei"
Die PRC war nie eine "Programmpartei", sondern eine basisnahe Milieu- und Aktionspartei mit intellektueller Ausstrahlung; in dem umfassend gebildeten Gewerkschafter Fausto Bertinotti fand sie einen Protagonisten, der diese Aspekte sozusagen in Personalunion zu vereinen vermochte. Die Frage der Haltung zum Bipolarismus des neuen Parteiensystems bereitete gleichwohl Probleme: 1996 wurde die Tolerierung von Prodis Mitte-links-Regierung beschlossen, die Bertinotti 1998 aufkündigte, während ein Teil der pragmatischen TraditionalistInnen um den Parteigründer Armando Cossutta (vormals in der PCI der Wortführer der "Moskau-Fraktion") unter Berufung auf die Lehren der antifaschistischen Einheit weiterhin die linke Mitte stützte und dazu die "Partei der italienischen Kommunisten" (PdCI) gründete. Dem Sturz der ersten Prodi-Regierung folgte die Wiederkehr Berlusconis an die Macht. Unter Bertinotti vollzog die PRC die Öffnung zu den neuen sozialen Bewegungen im Zeichen der Globalisierungskritik. In der Hoffnung, dass die Stärke der Bewegungen einer neuen Regierungsalternative Handlungsspielräume nach links eröffnen würde, beteiligte die PRC sich dann direkt an der zweiten Regierung Prodi, wobei zugleich die Zusammenarbeit mit anderen Linkskräften intensiviert wurde. Das Ergebnis war ein Desaster: Traditionslinke WählerInnen blieben anschließend zu Hause, während viele "Regierungslinke" lieber gleich für Walter Veltronis Demokraten stimmten. Der Gewinner war wieder einmal Berlusconi.
Was nun? Muss die Lehre aus der Niederlage darin bestehen, die Kräfte der mehr oder weniger antikapitalistischen, gegen den Neoliberalismus opponierenden, für wirksame Sozialreformen kämpfenden und die Hörigkeit gegenüber der Kriegspolitik der letzten US-Präsidenten ablehnenden Linken durch eine neue Bündelung jenseits des kommunistischen Traditionsbezugs zu stärken? Oder braucht die italienische Gesellschaft eine radikale Oppositionskraft, die sich auf die Grundlagen einer "kommunistischen Identität" stützt? Muss die rifondazione in Zukunft eine der Linken insgesamt sein oder primär die Perspektive des Kommunismus als Kraftquell erhalten? Die Auseinandersetzung darüber ist im Laufe des vergangenen Jahres mit feindseliger Heftigkeit geführt worden.
Was den von seinen Ämtern aus Altersgründen zurückgetretenen, aber weiterhin als Ideengeber aktiven Fausto Bertinotti angeht, so scheint dieser sich insofern getäuscht zu haben, als er vorschnell von einer Europäisierung der Linken - insbesondere mit der deutschen Linkspartei als Modell - ausging, in der "kommunistische Identität" keine signifikante Rolle mehr spielt. Aber er kann sich natürlich darauf berufen, dass auch in Lateinamerika die Linkskräfte, die tatsächlich Geschichte machen, nicht mehr "kommunistisch" heißen, sondern auf breiten popular-demokratischen Bündnissen beruhen.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Konstellation des mittlerweile ein halbes Jahr zurückliegenden VII. Parteitags komplizierter war, als die Oberfläche des Streits vermuten ließ. Denn in der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse und der daraus resultierenden Aufgaben lagen die Positionspapiere der beiden stärksten Plattformen gar nicht weit auseinander. Beide Strömungen knüpften an die in den "bewegungsorientierten" Jahren gewonnenen Erkenntnisse über die vielfältigen Widersprüche des gegenwärtigen Kapitalismus in Ökonomie, Arbeitswelt, Ökologie, Geschlechterverhältnissen usw. an. Sie divergierten bloß in der "Parteifrage". Den Ausschlag zugunsten einer eher "identitären" Orientierung gab als Zünglein an der Waage eine kleine Plattform orthodox-leninistischer TraditionalistInnen, die allerdings mit der "Linkswende" unter der Führung von Paolo Ferrero noch lange nicht zufrieden sind.(1) Kein Wunder, schließlich war Ferrero früher Mitglied der undogmatischen DP.
Planmäßige Zerstörung der "roten" Massenkultur
Ein Blick auf die beteiligten Personengruppen bestätigt, dass wir es auf beiden Seiten keineswegs mit homogenen Blöcken zu tun haben. Ferrero und seine alten DP-GenossInnen gehörten 2002 auf dem V. Parteitag zu den engsten Verbündeten Bertinottis. Inzwischen arbeiten sie überraschenderweise mit dem gemäßigten Teil der um die Zeitschrift l'Ernesto gruppierten PCI-Traditionsströmung (Wortführer: Claudio Grassi) zusammen, der ihnen von der historischen "Identität" her eher fern steht. Die "Ernesto-Strömung", die sich in die Tradition von Lenin, Gramsci und Togliatti stellt, lange Zeit Bertinotti mit kritischer Distanz unterstützte und 2005 auf dem VI. Parteitag unter dem Namen Essere comunisti ("Kommunisten sein") als Opposition antrat, hat sich ihrerseits also in einen pragmatischen und einen stärker ideologisch-dogmatischen Flügel gespalten - letzterer wiederum strebt eine Wiedervereinigung mit der gemäßigt-traditionalistischen PdCI an. Auch wenn es demnächst zu einer Parteispaltung kommen sollte, wird das kommunistische Erbe auch bei denen, die es unbedingt im Namen ausweisen wollen, umkämpft bleiben.
In Italien war die ArbeiterInnenbewegung durch eine historische Anomalie geprägt: In dem spät und ungleichmäßig industrialisierten Land war Antonio Gramsci fest von der fortschrittlichen Bedeutung des Fordismus überzeugt. Andererseits blieben Traditionen des Widerstands gegen die Zumutungen der Proletarisierung, der fremdbestimmten Lohnarbeit am Fließband selbst lebendig, an die eine Militanz links von der KP anknüpfen konnte. Insofern existierte die Bewegung des Kommunismus in Italien immer im Plural. Geblieben ist die Anomalie: Ein schwach entwickelter Fordismus schlug in eine katastrophale neoliberale Prekarisierung um. Geblieben ist aber auch Gramscis Einsicht, dass die Strategie des Klassenkampfs auf breite hegemoniefähige Bündnisse setzen muss. Wie diese heißen, dürfte vorerst zweitrangig sein.
In der "italienischen Anomalie" gedieh vor allem in den 1960er und 1970er Jahren eine "rote" Massenkultur, an der die PCI und die links von ihr stehenden Gruppierungen gleichermaßen Anteil hatten. Der "Berlusconismus" hat diese Kultur zerstört. Die Möglichkeit, dass vielleicht in Zukunft wieder etwas Vergleichbares entstehen könnte, mag von der Existenz basisnaher Parteien der Linken abhängen, aber es muss nicht unbedingt eine einzige sein. Sicher ist zumindest eines: Auch wenn keine den Kommunismus im Namen führende Partei im Parlament ist, wird der fanatische Antikommunismus der Kreise um Berlusconi bleiben. Zumindest dadurch wird der Kommunismus nicht ganz in Vergessenheit geraten.
Henning Böke
Anmerkung:
1) Insofern würde ich die von Js. in ak 530 vorgetragene Deutung des VII. Parteitags als Rückkehr zum "Traditionalismus" etwas relativieren.