Aufgeblättert
Die Anfänge des Staates Israel
Tom Segev ist der prominenteste der israelischen "neuen Historiker", die den Mythen der offiziellen zionistischen Geschichtsschreibung harte Fakten und kritische Reflexionen gegenüberstellen. Sein Buch "Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates" erschien im Original schon 1986; seit 2008 liegt erstmals auch eine deutsche Übersetzung vor. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe beschreibt Segev seine Erkenntnisse, als er nach Ablauf der 30-Jahres-Frist bis dahin geheime Regierungsakten und andere offizielle Dokumente studierte: "Das war nicht das, was man mir in der Schule beigebracht hatte! Der Inhalt, der sich mir offenbarte, war weniger ehrenwert und weniger heldenhaft als das, woran ich gewohnt war zu glauben. Da gab es Akten, die Befehle dokumentierten, die Rückkehr der arabischen Flüchtlinge zu verhindern und sie aus ihren Häusern zu vertreiben." Die von oben angeordnete Vertreibung von PalästinenserInnen während des "Unabhängigkeitskrieges", der für die arabische Seite zur "Nakba" (Katastrophe) wurde, hat Segev in seinem Buch sorgfältig belegt. Dass die vorrückende israelische Armee auch auf Beute aus war, ist ein weiterer Aspekt, der dem offiziellen Heldenlied widerspricht. Dabei verwischt Segev keineswegs die Widersprüche innerhalb der israelischen Gesellschaft: So stellt er "Veteranen und Neuankömmlinge", "Orthodoxe und Säkulare" gegenüber. An seinem Befund, dass die etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung umfassende arabische Minderheit keine volle Gleichberechtigung genieße, hat sich seit der Erstausgabe des Buches leider nichts geändert. Dass die Glaubensgemeinschaft der bedingungslosen VerteidigerInnen israelischer Regierungspolitik seine Forschungsergebnisse nicht zur Kenntnis nimmt, ist bedauerlich. An Segev liegt es nicht - er ist ein Aufklärer im besten Sinne.
Js.
Tom Segev: Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates. Siedler-Verlag, München 2008, 414 Seiten, 24,90 EUR
Lebensgeschichte einer Roma
Zoli Novotna ist eine Frau aus dem Volk der Roma. Wenngleich der Roman über sie damit beginnt, dass sie als Kind in den 1930er Jahren gemeinsam mit ihrem Großvater die Ermordung ihrer Familie durch tschechische Hlinka-Garden überlebt, so ist er doch keine klassische Geschichte von Verfolgung und Überleben. Der Roman lässt die LeserInnen vielmehr sinnlich in Zolis Alltagswelt eintauchen, macht den Genuss einer Kindheit in fahrenden Wagen ebenso nachvollziehbar wie die komplexen Weltauffassungen, mit denen Zoli Erfahrungen von Liebe, Geborgenheit oder Diskriminierung verarbeitet. Erst in der Danksagung am Ende nimmt man überrascht zur Kenntnis, dass der Autor in keiner Hinsicht aus der Kultur der Roma stammt und Zolis Geschichte vollkommen fiktiv ist. Zoli entwickelt sich zu einer in Roma-Kreisen bekannten Sängerin. Von ihren Leuten wird sie verstoßen, als sie gegen eine uralte Regel verstößt und ihre Lieder in der Sprache der Gadschi (der Nicht-Roma) veröffentlicht. Der Roman schildert diesen Verstoß zugleich als Antwort auf die Repression, die die Roma während der Zeit des Aufbaus des Sozialismus in der Tschechoslowakei erleben. Zoli hofft mit ihrem Handeln Verständnis und Akzeptanz für ihre Lebensweise zu fördern und tatsächlich ist es eingebettet in einen neuen Diskurs über die Integration auch der Roma in den anbrechenden sozialistischen Fortschritt. Dieser endet schließlich in einem Gesetz zur "Rettung der Zigeuner": Zwangsweise werden sie sesshaft gemacht, ihre Wagen verbrannt, sie selbst in trostlosen Wohnsiedlungen am Rande der Städte untergebracht. Als Verstoßene findet Zoli sich schließlich in der sozialen Isolation wieder, die zu verschiedenen (lebens-)gefährlichen Situationen führt. Sie übersteht diese, nicht zuletzt, indem sie nun allen klischeehaften Vorstellungen über "Zigeuner" entspricht, die sie vorher selbst verabscheute: Sie klaut, lügt, verdreckt, wendet aus Notwehr Gewalt an. Das Buch schließt damit, dass Zoli sich über 40 Jahre später auf Wunsch ihrer Tochter nach Paris begibt und an einer wissenschaftlichen Konferenz zum kulturellen Vermächtnis der Roma teilnimmt. Zolis Perspektive auf die gesellschaftlichen Entwicklungen macht immer wieder das widersprüchliche Ineinander von neuen persönlichen Entwicklungsräumen und entfremdender Anpassung deutlich, die die verschiedenen Formen der wachsenden gesellschaftlichen Partizipation mit sich bringen.
Iris Nowak
Colum McCann: Zoli. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2007, 383 Seiten, 9,95 EUR
"Vergangenheitsbewältigung" zum Nachschlagen
Seit über 60 Jahren müht man sich in deutschen Landen mit "der Vergangenheit" - sei es mittels staatlichem Antifaschismus oder unter dem kollektivpsychoanalytischen Paradigma einer gemeinsamen "Bewältigung" oder "Aufarbeitung". Auf knapp 400 Seiten widmet sich nun ein Lexikon der bundesrepublikanischen Debatten- und Diskursgeschichte über den NS. Zurecht betonen die Herausgeber, dass es sich bei dieser Diskursgeschichte nicht um einen "kontinuierlichen Lernprozess" handelt. Gelungen ist daher auch die Form eines Nachschlagewerks, das zwar zeitlich gegliedert ist, ansonsten aber auf Thesen und Polarisierungen verzichtet. Durch vielfältige Querverweise zwischen den Artikeln rückt vielmehr der jeweilige Zeitgeist in den Blick. Erkennbar wird auf diese Weise jedoch auch, dass es in der BRD trotz wechselnder hegemonialer Tendenzen zu allen Zeiten kontroverse Auffassungen zum "richtigen" Umgang mit der Vergangenheit gegeben hat. Die zentralen gedächtnispolitischen Referenzpunkte der BRD sind fast alle zu finden: von den Nürnberger Prozessen über Willy Brandts Kniefall und Kohls "geistig-moralischer Wende" bis hin zu "Geschichtsfernsehen im ZDF" und deutschen Opfernarrativen. Auch weniger prominente Themen wie der "Faschismus"-Begriff der RAF werden behandelt. Wieder andere Aspekte fehlen allerdings: So gibt es beispielsweise keinen Artikel zur VVN/BdA oder zur Antifa. Vor allem aber fehlt ein Artikel zu den ideologischen Rahmenbedingungen des Kalten Krieges, deren Berücksichtigung nicht nur mit Blick auf die Gedächtnispolitik der DDR, sondern auch auf die der BRD unerlässlich ist. Überhaupt stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, ein solches Lexikon ohne Berücksichtigung der DDR zusammenzustellen. Schließlich haben die beiden deutschen Staaten sich geschichtspolitisch stark aufeinander bezogen. Trotz dieser Einschränkungen ist das Lexikon zu empfehlen, als kritisches Nachschlagewerk oder auch einfach nur zum gelegentlichen Herumblättern.
Cornelia Siebeck
Torben Fischer/Mathias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der "Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. transcript Verlag, Bielefeld 2007, 29,80 EUR