Solidarität mit wem?
Ein überfälliger Sammelband zu Graswurzelengagement in Israel/Palästina
Seit Beginn der Zweiten Intifada im Oktober 2000 hat sich in Israel/Palästina eine in beiden Gesellschaften politisch äußerst marginale, durch ihre Aktionen jedoch durchaus öffentlich präsente Graswurzelbewegung entwickelt, die sich gewaltfreien Widerstand auf die Fahnen geschrieben hat. Antimilitarismus, Anarchismus, Feminismus, Queer Theory und radikaler Humanismus durchdringen sich auf vielfache Weise. Höchste Zeit, sich jenseits hiesiger ideologischer Grabenkämpfe mit der israelisch-palästinensischen radikalen Linken auseinander zu setzen.
Deutsche können grausam sein, wenn es um Israelis und PalästinenserInnen geht. Nie werde ich das Treffen mit einer linken Reisegruppe in Tel Aviv vergessen: Um sich über den Nahostkonflikt zu informieren, hatte man diverse linkszionistische Friedens- und Koexistenzprojekte in Israel bereist. In die Westbank zu fahren schien zu gefährlich, von Gaza ganz zu schweigen. Also besuchte man eine palästinensischen Menschenrechtsorganisation in Ostjerusalem, um auch "die andere Seite" zu hören. Wieder unter sich echauffierte man sich darüber, dass sich die palästinensischen GesprächspartnerInnen "nicht vom Terrorismus distanziert" hätten. Ich wandte ein, es gäbe aus palästinensischer Perspektive vielleicht erstmal wichtigeres zu erzählen, wenn Gäste kämen - Besatzungsherrschaft, Siedlungsbau, alltägliche Schikanen, die Trennungsmauer usw. Und: "Da sterben dauernd Leute!" - "So what!?" entgegnete mein deutscher Gesprächspartner, der einen Israelbutton an der Jacke trug.
Ähnlich gnadenlos, wenn auch etwas wohlwollender, geht man hier zu Lande mit der nichtzionistischen israelischen Linken um. Wobei nichtzionistisch vor Ort zunächst einmal nicht viel mehr bedeutet als antinationalistisch und antirassistisch zu sein.
Unter der Überschrift "Lechts und Rinks. Und wie man das verwechseln kann, wenn es um Israel geht" (Konkret 12/2005) tadelte Stefan Grigat die israelische radikale Linke besserwisserisch als naive HumanistInnen, die dem arabischen Antisemitismus Vorschub leisteten. Allerdings, so gesteht er milde zu, könne Israel dieses Kritikpotenzial durchaus gebrauchen - schließlich wolle es ein "Licht unter den Nationen" sein.
Wer einmal länger in Israel/Palästina gelebt und sich mit den dort lebenden Menschen und deren Lebensrealitäten auseinander gesetzt hat, hat vieles zu diskutieren - mit PalästinenserInnen, vor allem aber mit israelischen Linksradikalen. Zum Beispiel über den moralischen (und taktischen!) Sinn und Unsinn von Shoah-Vergleichen, über die Realität des Antisemitismus, über Geschichte und Wesen des Zionismus usw.
Nichts als naiver Humanismus?
Wer dort einmal gelebt hat, weiß auch, was für ein langer Weg es für das israelische Subjekt ist, sich inmitten eines dauernden Kriegszustandes von der eigenen Sozialisation und Gesellschaft (die sich in Israel mehr als anderswo auch als Kollektiv imaginiert) zu emanzipieren. Es handelt sich um Menschen, die in diesen Konflikt hineinsozialisiert wurden. Die nicht selten ihren Armeedienst in den besetzten Gebieten geleistet haben, sich aber an irgend einem Punkt einer weiteren Teilnahme an dieser Realität verweigerten.
Insofern gilt es, die Positionen der radikalen Linken in Israel/Palästina ernst zu nehmen als Stimmen von ExpertInnen, die vor Ort leben und täglich mit Krieg und Unrecht konfrontiert sind. Dafür bietet der von Sebastian Kalicha herausgegebene Sammelband "Barrieren durchbrechen! Israel/Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus" eine gute Grundlage.
Kalicha hält sich jenseits von einer kritischen Solidarität mit den im Buch präsentierten Initiativen weitgehend zurück: In der Einleitung und einem eigenen Artikel erklärt er diskursive Kontexte und politische Hintergründe - vor allem den Bau der "Barriere" oder "Mauer" als Kristallisationspunkt gemeinsamen israelisch-palästinensischen Widerstandes - so differenziert wie möglich. Er gibt einen umfassenden Überblick über politische Gruppen, die im gewaltfreien Widerstand gegen Besatzung und Mauerbau aktiv sind und geht auf Geschichte, Taktiken und Probleme des gemeinsamen israelisch-palästinensischen Kampfes ein.
Das Buch ist dann in drei weitere Abschnitte aufgeteilt: Unter "Gewaltfreiheit und Antimilitarismus" schreiben PalästinenserInnen über ihre Erfahrungen mit dem gewaltfreien Kampf sowie ihre Zusammenarbeit mit israelischen AktivistInnen. Israelische Aktivistinnen skizzieren den spezifischen Zusammenhang zwischen Feminismus und Antimilitarismus in der israelischen Gesellschaft sowie die Frauen-Friedensbewegung in Israel.
Unter der Überschrift "Kriegsdienstverweigerung" werden die Geschichte der israelischen Verweigererbewegung ebenso aufgezeigt wie individuelle Konsequenzen, die Kriegsdienstverweigerer und -verweigerinnen auf sich nehmen müssen. Im letzten Teil geht es um "Anarchismus": Einem Hintergrundartikel folgen zwei Beiträge über die israelische Gruppe Anarchists against the Wall, die gemeinsam mit palästinensischen Dorfkomitees im Widerstand gegen die Trennungsmauer eine tragende Rolle spielt.
Israelisch-palästinensische Realitäten on the ground
Ein letzter Artikel widmet sich dem queer-Widerstand und dem Zusammenhang zwischen dem Kampf gegen die Besatzungsherrschaft und der Befreiung der israelischen Gesellschaft.
Neben informativen Einblicken in israelisch-palästinensische Realitäten on the ground wird in dem Buch etwas deutlich, dass es in der deutschen Linken zumindest zu respektieren gilt: Den israelischen AktivistInnen geht es nicht nur um Solidarität mit den PalästinenserInnen, mit denen sich trotz der von beiden Seiten anerkannten Asymmetrie im gemeinsamen Widerstand auch gute Freundschaften entwickelt haben. Es geht ihnen vor allem um ihre eigene menschliche Existenz und erträgliche Zukunft vor Ort. Hat man als Außenseiter des Konflikts dieses persönliche Existenzrecht einmal anerkannt, dann gibt es eine gemeinsame Basis für solidarische Diskussion und Kritik.
Cornelia Siebeck
Sebastian Kalicha (Hg.): Barrieren durchbrechen! Israel/Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus. Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2008, 277 S., 19,80 EUR.