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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 536 / 20.2.2009

Zehn Jahre Chávez

Venezuela zwischen Markt und Sozialismus

Am 2. Februar 2009 jährt sich zum zehnten Mal der Amtsantritt von Hugo Chávez. Seitdem gewannen er und seine UnterstützerInnen bei insgesamt 14 Wahlgängen - nicht zuletzt, weil die Regierung auch eine erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik umgesetzt hat. Doch Marktwirtschaft und traditionelle Verwaltungen setzen dem Projekt deutliche Grenzen, und die Opposition besinnt sich auf die parlamentarischen Spielregeln zurück.

Als vorläufig letzte Wahl fanden im November 2008 Regionalwahlen statt. Mit einer Neuverteilung von 23 Gouverneursposten und 327 Bürgermeisterämtern bot dieser Wahlgang erstmals die Möglichkeit, die politische Verankerung der Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV) von Hugo Chávez zu überprüfen. Unter den 17 Staaten, in denen die KandidatInnen der sozialistischen Partei gewannen, sind mehrere Staaten, in denen vorher oppositionelle Gouverneure regierten. Andererseits verlor die bolivarische Bewegung drei Bundesstaaten und die Hauptstadt Caracas an die Opposition.

Deutlich besser gestalteten sich die Ergebnisse für die PSUV bei den Bürgermeisterwahlen. Sie regiert nun fast alle Städte. Dabei siegte die PSUV auch in 80 Prozent der 100 meistbevölkerten Bezirke, was gegen die These spricht, die Opposition gewinne die Ballungsgebiete zurück und dies leite die Niederlage des Chavismus ein. Vielmehr weisen die Ergebnisse darauf hin, dass die neue sozialistische Partei sich auf lokaler Ebene erfolgreich verankern konnte, während sie bei den Gouverneursposten Schwierigkeiten hatte, sich auf geeignete KandidatInnen zu einigen. Ein weiteres Signal betrifft die von der PSUV unabhängigen linken Parteien: Sie gewannen keinen einzigen Gouverneursposten und nur wenige Bürgermeisterämter.

Erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik

Diese Wahlerfolge sind nicht das Ergebnis von irrationalem Wahlverhalten; vielmehr hat sich die Wirtschafts- und Sozialpolitik der letzten Jahre als außerordentlich erfolgreich erwiesen. Besonders für die unteren Schichten der Bevölkerung konnten spürbare Verbesserungen erreicht werden.

Seit dem Krisenjahr 2002/2003 hat sich die Größe der venezolanischen Wirtschaft annähernd verdoppelt, wobei der private Sektor schneller wuchs als der öffentliche. Auch wenn die Zuwächse indirekt auf die gestiegenen Einnahmen aus Ölexporten zurückzuführen sein dürften, wuchsen die anderen Wirtschaftsbereiche noch schneller als der Öl-Sektor. Nach Angaben der venezolanischen Zentralbank lag das Wirtschaftswachstum im Jahr 2008 bei etwa fünf Prozent, d.h. seit 20 Quartalen wächst die venezolanische Wirtschaft durchgehend.

Anderes als viele Nachbarländer nutzte die Regierung den Aufschwung zu Investitionen in eine gerechtere Arbeits- und Sozialpolitik. So konnte der Gini-Koeffizient zur Messung der Ungleichheit in der Verteilung von Reichtum deutlich gesenkt werden. Mit gegenwärtig 0,41 Punkten erreicht das Land den besten Stand in seiner Geschichte und den niedrigsten Wert in Lateinamerika. Der Prozentsatz der in Armut lebenden Bevölkerung sank bis 2008 um 18 Prozent und der Prozentsatz der Menschen, die in extremer Armut leben, um 31 Prozent.

Die unteren Einkommen steigen auch durch eine sinnvolle Arbeitsmarktpolitik. Mit der neuen Arbeitsgesetzgebung erschwerte die Regierung Entlassungen und führte Mindestlöhne ein, die regelmäßig erhöht werden. Gleichzeitig starteten breite Beschäftigungsprogramme für den öffentlichen Sektor. Die Arbeitslosenrate ist mit sechs Prozent die niedrigste seit zehn Jahren, wobei sich auch die Qualität der Beschäftigung verbessert hat: So ist die Zahl der formell Beschäftigten seit 1999 um etwa zehn Prozent gestiegen.

Mit der Unterstützung demokratischer Unternehmensformen hat sich eine gemischte Wirtschaftsstruktur durchgesetzt, in der private, genossenschaftliche, kommunale und staatliche Eigentumsformen existieren. Neben öffentlichen Dienstleistungen förderte die Regierung hauptsächlich Landwirtschaft und Technologieentwicklung. Eines ihrer wichtigsten Ziele war die Erlangung der Nahrungsmittelsouveränität, um teure Lebensmittelimporte zu ersetzen. Ein großer Teil der neu gegründeten "sozialistischen Betriebe" ist im Bereich Landwirtschaft angesiedelt, so dass die venezolanische Wirtschaft hier deutliche Zugewinne erreichen konnte.

Dieser Zuwachs schlägt sich jedoch nicht in einer besseren Versorgungslage und in sinkenden Preisen nieder. Gründe dafür dürften einerseits die durch die positive Einkommensentwicklung gestiegene Nachfrage sein. Alleine zwischen 2004 und 2006 hat sich das Einkommen der Armen in Venezuela inflationsbereinigt mehr als verdoppelt, so dass die Nachfrage nach Lebensmitteln deutlich schneller stieg als die Produktion.

Zweitens schöpft die Privatwirtschaft durch Erhöhungen der Verbraucherpreise die Einkommenszuwächse wieder ab. So sind die Preise für nicht preisgebundene Lebensmittel nach Angaben des Instituts Datanálisis in den letzten fünf Jahren um 355 Prozent gestiegen.

Ein dritter Faktor ist, dass private Unternehmen die Preisbindungen umgehen, indem sie Lebensmittel horten bzw. versuchen, sie illegal ins Ausland zu verkaufen. Die künstliche Verknappung folgt auch politischen Logiken: So entstanden bestimmte Versorgungslücken, etwa bei Kaffee, regelmäßig vor politisch wichtigen Abstimmungen.

Das zentrale Strukturproblem der venezolanischen Wirtschaft bleibt allerdings die mit 30,9 Prozent außerordentlich hohe Inflationsrate. Diese lässt sich nach Einschätzung von ExpertInnen langfristig nur mit einer weiteren Senkung der Importe erreichen. Voraussetzung für eine solche Importsubstitution ist allerdings eine schnellere Entwicklung der Binnenproduktion.

Probleme mit dem (Welt-)Markt

Angesichts dieser Bilanzen hat es jede Opposition in Venezuela schwer. Dementsprechend konzentriert sich ihre Kritik auf "weiche Faktoren" wie etwa die ineffektive öffentliche Verwaltung. Die Oppositionsparteien setzen seit 2006 auf einen neuen staatsbürgerlichen Diskurs. Sie versuchen aggressive Polemiken zu vermeiden und sprechen gezielt das Sicherheitsbedürfnis der Mittelschichten an. Ihre wichtigste Forderung betrifft eine effektivere Bekämpfung der Kriminalität, wobei sie sich den Ball mit den privaten Medien zuspielen, die systematisch Kriminalitätsfurcht schüren.

In der Vorwahlzeit zeigte sich außerdem, dass sich die bis dahin zerstrittenen Parteien in 17 Bundesstaaten auf gemeinsame KandidatInnen einigen konnten. Außerdem koordinieren sich Oppositionsparteien eng mit den BesitzerInnen großer privater Medien und politischen BeraterInnen aus dem Ausland. Insgesamt lässt sich im Oppositionslager seit den Präsidentschaftswahlen 2006 eine Tendenz zur Reparlamentarisierung erkennen, in dem Sinne, dass sich die Parteien ernsthaft an Wahlen beteiligen. Bis dahin hatte die Opposition mit dem Putschversuch 2002 und der Erdölsabotage 2003 auf Zwangsmaßnahmen gesetzt. Im August 2004 scheiterte sie mit einem Abwahlreferendum gegen Hugo Chávez und im Winter 2005 nahm sie an den Parlamentswahlen gar nicht erst teil.

Das neue staatsbürgerliche Bewusstsein der Opposition bedeutet aber keineswegs, dass ihre AnhängerInnen inzwischen auf Gewalteinsatz verzichten. Unmittelbar nach ihrem Wahlsieg in den Bundesstaaten griffen AnhängerInnen und FunktionärInnen der verschiedenen rechten Oppositionsparteien Einrichtungen der bolivarischen Bewegung an. Insgesamt kam es zu mehr als 70 derartigen Übergriffen. Die bolivarische Bewegung antwortete in den folgenden Tagen mit Massendemonstrationen zur Verteidigung der Sozialprogramme.

Dabei kann sich die Opposition auf einen militanten Kern der Studentenbewegung stützen, der kurzfristig zu kleineren Demonstrationen mobilisiert und Einrichtungen angreift, die als "chavistisch" begriffen werden. Dieses studentische Spektrum ist zwar politisch nicht bedeutend, aber die Aktionen werden von privaten Fernsehsendern begleitet, die die Reaktion der Polizei auf militante Angriffe als Einschränkung der Meinungsfreiheit durch die Regierung anprangern. Diese Berichte schlagen sich bis in europäische Medien nieder.

Ein zweiter Bereich politischer Gewalt sind die zunehmenden Aktivitäten von verdeckt in Venezuela agierenden Paramilitärs. So wurden im letzten Jahr mehrere GewerkschafterInnen von Unbekannten ermordet; immer wieder kommt es zu Angriffen auf AktivistInnen aus den sozialen Bewegungen. Zwar wurden im letzten Jahr kleinere Gruppen von kolumbianischen Paramilitärs verhaftet; angeblich operieren aber insgesamt neun Fronten der Paramilitärs in Venezuela. In diesem Zusammenhang ermittelt die Bundespolizei auch gegen lokale Polizeibehörden wegen Unterstützung des Paramilitarismus.

Mit der Verfassung von 1999 hat Venezuela die sozialen Bewegungen in einzigartiger Weise politisch privilegiert. So konnten die GewerkschafterInnen das Arbeitsrecht, Indigene die Autonomie-Gesetzgebung und MedienaktivistInnen das neue Medienrecht unmittelbar mitgestalten. Ab 2002 entwickelte sich eine breite Komitee-Bewegung, die eine neue Politik selbstständig umsetzte. So entstand landesweit ein enges Netz etwa von Gesundheitsstationen und Bildungseinrichtungen. Seit 2006 schließen sich die Komitees zu kommunalen Selbstverwaltungen, den Consejos Comunales, zusammen.

Das Grundproblem der partizipativen Demokratie bleibt, dass sie nur eine Möglichkeit zur Mitbestimmung bietet. Deshalb ist das Niveau der Consejos Comunales regional stark unterschiedlich ausgeprägt. Wo es eine Tradition der Selbstorganisation gibt und die regulären Stadtverwaltungen mangelhaft funktionieren, haben sich die Stadtteilräte schnell verbreitet. Wo die alte Stadtverwaltung gut funktioniert, besteht kein Bedarf an einer Selbstverwaltung.

Opposition: Renaissance des Parlamentarismus

Mit der Verfassungsänderung von 2007 wollte Hugo Chávez der kommunalen Selbstverwaltung mehr Gewicht geben. Obwohl das Referendum damals scheiterte - auch weil die Art seiner Umsetzung nicht gerade partizipativ geraten war -, hält die Regierung daran fest, mit den "Sozialistischen Kommunen" neue Gebietskörperschaften der kommunalen Selbstverwaltung aufzubauen. Auf diesem Weg könnte auch eine Verwaltungsreform umgesetzt werden, denn die alten Verwaltungen sind nicht nur ineffektiv (und korrupt); auch politisch dürften die meisten der Staatsangestellten der Regierung fern stehen. Das Problem mit einer solchen Verwaltungs- und Gebietsreform ist aber, dass die Verfassung von 1999 nur ein Recht auf Mitbestimmung einräumt, nicht aber auf Autonomie, wie es der Änderungsvorschlag von Hugo Chávez im Jahr 2007 formulierte.

Die PSUV hat sich als größte und auch stärkste politische Partei in Venezuela schnell etabliert. Dass die Regierungspartei seit Dezember 2008 fast alle Stadtverwaltungen regiert, schafft organisatorisch eine Grundlage für die Umsetzung der "sozialistischen Gemeinden".

Die Opposition wird versuchen, den Nachweis zu erbringen, dass sie besser in der Lage ist, die Probleme mit Müll und/oder Kriminalität zu bewältigen. Insgesamt wird sie weiter auf eine Mischung aus parlamentarischer Stabilisierung und außerparlamentarischer Destabilisierung setzen, wobei sie sich verdeckt auch weiter "schmutziger" Praktiken bedienen wird.

Bedingt durch die internationale Finanzkrise und die gesenkten Preise für Erdöl werden die öffentlichen Gelder bis auf weiteres knapper ausfallen. Auch wenn der Ölpreis mittelfristig wieder auf über 60 US-Dollar steigt, stehen dem venezolanischen Staat Einsparungen bevor. Hugo Chávez hat bereits angekündigt, dass diese nicht die sozialen Investitionen in Bildung, Arbeit, Gesundheit u.a. betreffen werden.

Außerdem steht den VenezolanerInnen ihr 15. Wahlgang unmittelbar bevor. Am 15. Februar wird in Venezuela ein Referendum darüber stattfinden, ob die Verfassung dahingehend geändert wird, dass der Präsident und alle anderen Amtsträger beliebig oft zur Wahl antreten können. Den Umfragen zufolge würden bis zu 70 Prozent der VenezolanerInnen Hugo Chávez persönlich gerne wieder wählen, aber für eine derartige Verfassungsänderung sprechen sich bisher nur knapp über 50 Prozent aus. Es bleibt weiter spannend in Venezuela.

Malte Daniljuk, 9.2.09