Durchmarsch des rechten Lagers
Israel im Jahr 2009: Problemlösungen auf später vertagt
Wieder einmal haben Parlamentswahlen in Israel die Verhältnisse eher noch komplizierter gemacht, als sie es zuvor bereits waren. Der Wahlsieg der Kandidatin der Kadima-Partei, Tsipi Livni, über den Likud-Vorsitzenden Benjamin Netanjahu ist zu knapp ausgefallen, um eine erfolgreiche Regierungsbildung zu garantieren. Denn die zwölf im neuen Parlament vertretenen Parteien sorgen für ziemlich unübersichtliche und im Einzelfall schwer kalkulierbare Mehrheitsverhältnisse. Unübersehbar ist der Durchmarsch des rechten Lagers gegenüber einer völlig dezimierten und orientierungslosen zionistischen Linken.
Mit dem Versuch einer Regierungsbildung ist Livni nach der Rücktrittsankündigung des amtierenden Ministerpräsidenten Olmert im vergangenen Herbst bereits einmal gescheitert, wodurch die vorgezogenen Neuwahlen am 10. Februar überhaupt erst notwendig wurden. In der neuen Zusammensetzung der Knesset sind Koalitionsbildungen keinesfalls einfacher geworden. Auch der Einfluss der Weltwirtschaftskrise auf die politische Dynamik in der Region sowie die Linie der neuen US-Administration hinsichtlich des israelisch-palästinensischen Konflikts sind bislang noch zu unklar, als dass sich tragfähige Prognosen zur zukünftigen israelischen Politik treffen ließen.
Das siegreiche rechte Lager besteht aus mehreren konkurrierenden Parteien. Während Teile des Likud und der Arbeitspartei gemeinsam mit der wirtschaftsliberalen Shinui im Jahr 2005 zu Kadima mutierten und seitdem gerne als Mitte-Rechts-Partei beschrieben werden, finden sich im heutigen Rumpf-Likud dessen stramm nationalkonservative StammwählerInnen wieder. Der eigentliche Wahlsieger dieses Jahres, Avigdor Liebermanns nunmehr 15 Mandate starke Partei Yisrael Beitenu ("Israel ist unsere Heimat"), ist eine stark an europäische Neofaschisten erinnernde und offen rassistisch argumentierende Partei, die überproportional stark von EinwanderInnen aus den GUS-Staaten gewählt wird. Alle drei Parteien gemeinsam bringen in der neuen Knesset 70 Mandate (von 120 Parlamentssitzen) auf die Waagschale. Sie alle teilen ein neo-liberales Wirtschaftsprogramm, befürworten niedrige Steuern, weitere Privatisierungen des öffentlichen Sektors, lehnen eine entschiedenere Trennung von Staat und Religion ab, um nur einige Gemeinsamkeiten zu nennen.
Nicht zufällig haben sowohl Livni als auch Netanjahu noch in der Wahlnacht Liebermann deutliche Avancen gemacht. In der Frage nach der Zukunft der israelischen Besatzung in der Westbank verfolgen sie zwar unterschiedliche Linien. Besonders innerhalb der Kadima-Partei scheint sich langsam und insgeheim die Einsicht zu verbreiten, dass ein Rückzug aus der Westbank und weitere bedeutende Zugeständnisse an die palästinensische Bevölkerung letztlich alternativlos sind, um die Existenz Israels nachhaltig zu sichern, während Likud und Yisrael Beitenu sich derweil lieber als die wahren Verteidiger israelischer Sicherheitsinteressen bzw. der Groß-Israel-Idee in Pose werfen. Da derzeit jegliche Perspektive auf ernsthafte politische Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern fehlt, kommen derlei Unterschiede aber gegenwärtig kaum zum Tragen
Die drei großen rechte Parteien profitieren vom fortgesetzten Siechtum der ehemaligen Quasi-Staatspartei Ma'arach (Arbeitspartei), die sich mit nunmehr 13 Mandaten dem Status einer Splitterpartei annähert; ihr linksliberaler Ableger Meretz mit 3 Mandaten ist das bereits. Diese beiden Parteien haben den Oslo-Prozess der 1990er Jahre getragen. Im Rückblick erscheint insbesondere die Regierungszeit Rabins 1992-1995, in deren Verlauf die Oslo-Verträge geschlossen wurden, als ein letztes programmatisches Aufbäumen der Arbeitspartei im Kampf um die politische Hegemonie in der israelischen Politik, die zuerst bei den Wahlen von 1977 durch Menachem Begins Likud gebrochen wurde. Seitdem geben mit Ausnahme der frühen Oslo-Jahre revisionistische und nationalreligiöse Parteien den Ton in der israelischen Politik an.
Es ist ein fortdauerndes Ärgernis, wie wenig beide linkszionistischen Parteien es für nötig erachteten, das Scheitern von Oslo zum Anlass zu nehmen für selbstkritisches Nachdenken über die Widersprüchlichkeiten und verpassten Chancen jener Jahre. Stattdessen verschanzt man sich weiterhin larmoyant hinter der bereits im Herbst 2000 nach den gescheiterten Verhandlungen in Camp David vom damaligen Ministerpräsidenten Ehud Barak ausgegebenen Losung, die palästinensische Seite habe ein "einmalig großzügiges" Angebot ausgeschlagen und wolle einfach keinen Frieden. Ergo gäbe es keinen Partner. Und rings herum in der Region stünden die Feinde bereit, um jede Schwäche des jüdischen Staates militärisch auszunutzen. In diesem Fall habe man also keine Wahl, als wieder zu dem zurückzukehren, was Israelis offenbar sowieso am besten können - let's have another war! (1)
Die militärische Niederschlagung der zweiten Intifada 2000-2003, der Libanon-Krieg vom Sommer 2006 und der Gaza-Krieg im Winter 2008/09 wurden ohne Ausnahme sowohl von der Arbeitspartei als auch von Meretz unterstützt. In unübertroffener Scheinheiligkeit hat Meretz sich während des Gaza-Krieges als friedliebende und moderate Kraft zu inszenieren versucht, indem sie zwar die Bombardierung Gazas aus der Luft, nicht aber die Bodenoffensive guthieß. Das hat sie eine Reihe ehemaliger StammwählerInnen gekostet, die stattdessen lieber nicht-zionistische Parteien wie die bi-nationale, aus der kommunistischen Partei hervorgegangene Hadasch wählten. Andere bevorzugten es, angesichts wahrnehmbarer programmatischer Nähe in vielen Fragen ihr Kreuzchen gleich bei Kadima zu machen, um ein in ihren Augen noch größeres Übel - Netanjahu - zu verhindern.
Ehud Barak hingegen versuchte als Verteidigungsminister und höchst dekorierter Ex-General durch eine "professionelle" Kriegführung in Gaza zu glänzen und damit die Wahlchancen der Arbeitspartei zu verbessern. Umfragen in den Kriegswochen schienen dieses Kalkül zu bestätigen, so dass auf den wenigen Demos gegen den Gaza-Krieg dieser in Anlehnung an den 1967er Krieg auch als "Sechs-Mandate-Krieg" tituliert wurde. Es ist fast schon eine Genugtuung zu sehen, dass die israelischen WählerInnen eine so plumpe und zynische Wahltaktik letztlich deutlich abgestraft haben: Noch nie war die Arbeitspartei so tief gesunken wie heute.
Vielleicht dämmert den verbliebenen israelischen SpezialdemokratInnen ja irgendwann einmal, dass die selbe Taktik in der Vergangenheit bereits mehrfach gescheitert ist und das genaue Gegenteil bewirkt hat: So hatte im Wahlkampf des Jahres 1996 Shimon Peres als Kandidat der Arbeitspartei einen scheinbar unaufholbaren Vorsprung vor dem Likud-Kandidaten Netanjahu, dem viele Israelis damals aufgrund seiner Anti-Oslo-Propaganda in den Jahren zuvor eine moralische Mitschuld an der Ermordung Yitzhak Rabins im November 1995 gaben. Doch kurz vor den Wahlen sah Peres sich veranlasst, auf Raketenbeschuss der Hizbollah in Südlibanon mit der Bombardierung eines südlibanesischen Dorfes zu reagieren, in dem sich angeblich Kämpfer aufhielten. Dabei kamen Dutzende von Zivilisten, unter ihnen Frauen und Kinder, ums Leben; es gab einen großen Skandal und viel kritische Presse, doch Peres verteidigte das Vorgehen der Armee als alternativlose Selbstverteidigung, die leider zu Kollateralschäden geführt habe. Wahrscheinlich wollte der Zivilist Peres, dessen Karriere zeitlebens an seinen fehlenden militärischen Meriten kränkelte, vor den Wahlen nicht als Schwächling erscheinen, der das Land nicht verteidigen könne. Die Wahlen aber gewann der ehemalige Elitesoldat Netanjahu, der für ein noch härteres Vorgehen plädiert hatte.
Zweitens sei hier an das Ende der Regierung Barak im Jahr 2000 erinnert, als der damalige Ministerpräsident es vorzog, den Oslo-Prozess in Camp David gegen die Wand fahren zu lassen, anstatt sich den anstehenden schwierigen Entscheidungen wie der Aufteilung Jerusalems, einer Regelung der Flüchtlingsfrage und einem Stopp israelischer Siedlungen in Westbank und Gaza zu stellen. Anschließend inszenierte er sich zu Hause als Verteidiger legitimer israelischer Interessen gegen die undankbaren PalästinenserInnen und stufte PLO-Chef Arafat vom politischen Juniorpartner wieder zum leibhaftigen Teufel zurück, gegen den mit aller Gewalt vorzugehen sei. Die Wahlen gewann dann aber Ariel Sharon, der die Rolle des Bulldozers einfach überzeugender verkörperte.
Wenn frustrierte LinkszionistInnen auch nach der diesjährigen Wahl die Schuld für die eigene Niederlage auf die PalästinenserInnen, diesmal in Form der Hamas, schieben, deren unnachgiebiges Beharren auf einem Ende der Besatzung und fortgesetzter Raketenterror verantwortlich für den Aufstieg Liebermanns & Co sei, so ist dies ein ebenso lächerlicher wie empörender Versuch, von der Verantwortung für das eigene Handeln abzulenken. Die Arbeitspartei und ihr Satellit Meretz befinden sich in einer beispiellosen Legitimitätskrise, die eine zwingende Folge ihrer politischen Konzeptlosigkeit und der Widersprüchlichkeit ihrer Positionen ist. Parteien aus dem revisionistischen und nationalreligiösen Spektrum haben nie im selben Maße wie die Arbeitspartei den Anspruch Israels verkörpert, sowohl universalistischen Werten und demokratischen Grundsätzen zu folgen als auch eine moderne Neuauflage antiker jüdischer Staatlichkeit in der Region zu sein. Der fortdauernde Konflikt mit den PalästinenserInnen in den besetzten Gebieten und die zunehmend selbstbewussten Forderungen der etwa 20% der israelischen Gesamtbevölkerung umfassenden palästinensischen Minderheit innerhalb des Staatsgebietes nach Gleichberechtigung bringen die darin enthaltenen Widersprüche immer stärker zum Vorschein. Bislang haben die "Oslo-Parteien" keine Antwort auf das Scheitern ihres letzten programmatischen Versuchs gefunden, beiden Ansprüchen gerecht zu werden, und stehen der Eskalation des Konfliktes hilflos gegenüber bzw. forcieren sie sogar selbst.
Eine weitere Dimension der Sinnkrise ist die Wirtschaftspolitik: Oslo war Teil einer neo-liberalen Strategie zur Integration Israels in der Region, welche die Verarmung breiter israelischer Bevölkerungsschichten in Kauf nahm und ganz bewusst die Herausbildung einer einigermaßen lebensfähigen palästinensischen Wirtschaft torpedierte. (2) Während letzteres in der israelischen Bevölkerung auf keinen nennenswerten Widerspruch stieß, wurde die israelische Sozialdemokratie auch aufgrund der innenpolitischen Effekte ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik für immer weitere Teile der Bevölkerung unwählbar.
Es ist allerdings eher unwahrscheinlich, dass die Arbeitspartei die von ihrem Vorsitzenden Barak in der Wahlnacht empfohlene Neuorientierung in der Opposition dazu nützen wird, ihren Kurs auf dieser Ebene zu überdenken. Am einfachsten und konsequentesten wäre es dann wohl, wenn die Arbeitspartei schlicht mit Kadima fusionierte, wie es einige Stimmen bereits fordern, um einen neuen Zentrumsblock gegen den Likud und Yisrael Beitenu zu positionieren. Doch Blockbildung kann fehlende politische Konzepte nicht ersetzen. So bleibt als Fazit dieser denkwürdigen Knessetwahlen, dass die israelische Politik sich zunehmend radikalisiert, die linkszionistischen Parteien am Ende eines langen Weges angelangt sind und eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes im Dunkeln liegt.
Achim Rohde
Anmerkungen:
1) Siehe die gleichnamige Installation des israelischen Künstlers David Reeb aus dem Jahr 1997
2) Vgl. Mark LeVine: Impossible Peace. Israel/Palestine Since 1989. Zed Books, London 2008