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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 537 / 20.3.2009

Aufgeblättert

Staatstheorie

Der Staat als relevanter und fähiger Akteur feiert in diesen Tagen sein Comeback. Das deutlichste Anzeichen dafür ist die ökonomische Kompetenz, die dem Staat zugesprochen wird - wo doch bis vor kurzem das Heil in der Privatisierung, einschließlich des "Kerns" der nationalstaatlichen Aufgaben, gesucht wurde. Während sich jedoch der politische Streit hauptsächlich um die Frage dreht, ob nur die Verluste der Unternehmen oder die Unternehmen selbst verstaatlicht werden sollen, ist die Analyse und Kritik des (kapitalistischen) Staates nach wie vor marginal. Vielfach wird - wie etwa durch die Linkspartei - staatliche Regulierung mit linker und sozialer Politik gleichsetzt. Insofern ist der von Jens Wissel und Stefanie Wöhl herausgegebene Sammelband als ein wichtiger Beitrag zu einer kritischen Staatstheorie sehr zu begrüßen. Mit Bezug auf den marxistischen Theoretiker Poulantzas wird versucht, das immer noch geltende linke und marxistische Paradigma, wonach der Staat nur der politische Überbau ist, der sich vollständig aus dem ökonomischen Unterbau erklären lässt, zu überwinden. Dabei kommt auch der "Governance"-Ansatz, also die politische Steuerung jenseits der klassischen Instrumente des Nationalstaates, in den Blick und wird, im Gegensatz zum Mainstream in der Politikwissenschaft, als eine Form des "autoritären Etatismus im Neoliberalismus" (John Kannankulam) verstanden. Einige weiße Flecken bleiben jedoch. Die Konzentration auf die politischen Prozesse im "Westen" führt dazu, dass die Debatte um Staatszerfall in der "Dritten Welt" und die darauf folgenden politischen und militärischen Interventionen weitgehend unbeachtet bleiben. Dass momentan im "Westen" nach dem Staat gerufen wird und dass auf den Staat als Ordnungsfaktor in der "Dritten Welt" gesetzt wird, hängt insofern zusammen, als der Staat spätestens mit gesellschaftlichen Krisen wieder zurückkommt - und sei es nur als Krisenverwalter. Es bleibt zu hoffen, dass spätere Publikationen in der hier begonnenen Reihe diese Zusammenhänge näher analysieren.

Ismail Küpeli

Jens Wissel und Stefanie Wöhl (Hg.): Staatstheorie vor neuen Herausforderungen - Analyse und Kritik. Westfälisches Dampfboot, Münster 2008, 167 Seiten, 15,90 EUR

Visuelle Gewalt

Die brennenden Twin-Towers, Guantánamo, Abu Ghraib - diese Begriffe sind unauflöslich mit Bildern verknüpft. Dienen diese Bilder nur der Illustration zu Berichten über politische Ereignisse, oder existiert eine eigenständige politische Dimension der Abbilder von Gewalt? Die Debatten um Zeigegebot bzw. Bilderverbot bezüglich Videoaufnahmen von Geisel-Enthauptungen durch ihre EntführerInnen deuten darauf hin, dass Medienschaffende und -konsumentInnen heute eine Ahnung entwickeln, dass Bilder selbst eine politische Macht entfalten können. Linda Hentschel versammelt in ihrer Aufsatzsammlung "Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror" verschiedene kulturwissenschaftliche, soziologische und philosophische Beiträge zu den Zusammenhängen von Gewaltereignissen, ihrer visuellen Reproduktion und den Eigentümlichkeiten von Gewaltbildern heute und in der Vergangenheit. Tom Holert und Silke Wenk widmen sich der Ikonographie des Konflikts, der in der westlichen Welt als "Krieg gegen den Terror" firmiert, unter besonderer Berücksichtigung der Vorstellungen von Geschlechterrollen, die mittels dieser Bilder transportiert werden. Aus historisch-vergleichender Perspektive nähern sich Kathrin Hoffmann-Curtius (Bilder zur Ermordung Rosa Luxemburgs) und Godehard Janzig (Thermopylai/Stalingrad) unterschiedlichen visuellen Darstellungen von Terror und Gewalt. Gemeinsam ist allen Beiträgen jedoch die Auseinandersetzung einerseits mit der Frage, ob Bilder von Gewalt selbst gewalttätig sind (Judith Butler: Folter und Ethik in der Fotografie), und andererseits der Frage nach möglichen Formen visueller Gouvernementalität. So stellt "Bilderpolitik" den Anfang einer - dringend notwendigen - Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung medienkultureller Debatten im Anschluss an Susan Sontag dar.

Jens Geiger

Linda Hentschel (Hg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse. bbooks, Berlin 2008, 228 Seiten, 19,90 EUR

Francos Kreuzzug

"Führen wir denn nicht einen Kreuzzug zur Verteidigung der Zivilisation? So hat es Franco ausgedrückt, und er hat auch gesagt, dass Spanien zu sich selbst gefunden hat und dass dieser Krieg unserem Vaterland den Geist und die Lehre des katholischen Glaubens mit all seinen Heiligen und Märtyrern zurückbringen wird. Für all das befinde ich mich hier in diesem Auto" das sind die Gedanken von Rogelio Ceron, Mitglied eines "Säuberungskommandos" der Falangisten. Gerade haben sie vor den Augen der Familie Simon Garcia und seinen 16-jährigen Sohn aus dem Haus geholt; beide werden kaltblütig hingerichtet, ihre Leichen achtlos liegen gelassen. Allerdings fühlt sich Rogelio Ceron in seiner allnächtlichen Routine verunsichert, er fürchtet sich vor dem Blick des zehnjährigen Sohnes, den er als sein eigenes Todesurteil interpretiert. Um sich vor der Rache zu schützen, muss Rogelio Ceron etwas unternehmen. Den Zehnjährigen einfach zu erschießen, verbietet ihm der Ehrenkodex der Falangisten. Ramiro Pinilla erzählt anschaulich Rogelios eigentümlichen Versuch, sein eigenes Leben zu retten: Er erkennt seine Aufgabe und erfüllt sie über beinahe drei Jahrzehnte hinweg mit der größten Sorgfalt - Rogelio Ceron bewacht das Grab der Ermordeten. Dem kleinen Sohn der Familie Garcia gelang es noch in der Mordnacht, Vater und Bruder zu begraben und auf ihrem Grab einen Feigenbaum zu pflanzen, ein beständiges Mahnmal. Frappierend: Nicht nur die Täter legen großen Wert darauf, die Spuren ihrer Taten zu verwischen, auch die Angehörigen der Opfer schweigen: "Meine Kinder mussten es mit ansehen und werden es ihr Lebtag nicht vergessen, aber in diesem Haus wird niemals wieder darüber gesprochen werden. Meine Kinder können nicht vergessen, doch zumindest meine Enkel werde ich nicht zum Vergessen zwingen müssen, weil ihnen nie jemand davon erzählen wird. Es wird sein, als ob es nie geschehen wäre," sagt Aurore Garcia, die Ehefrau nach dem Mord. Aber dem ist nicht so, auch das Schweigen ist keine Lösung, allenfalls eine Reaktion auf die Furcht vor dem Terror. Ramiro Pinilla, 1923 in Bilbao geboren, erzählt in seinem Roman "Der Feigenbaum" schonungslos, überraschend und außergewöhnlich von den Geschehnissen nach dem Sieg Francos. Es gelingt ihm, die Gefühle und Erwartungen von Tätern und Opfern einzufangen, ohne zu beschönigen, geschweige denn zu entschuldigen. Pinilla spürt dem Wirken dieser blutigen Zeit bis in die Gegenwart nach; deutlich wird die Notwendigkeit sowohl der individuellen als auch der gesellschaftlichen Bearbeitung der begangenen Verbrechen, auch wenn die Wirkung ungewiss bleibt.

Raphaela Kula

Ramiro Pinilla: Der Feigenbaum. Roman. dtv, München 2008, 319 Seiten, 14,90 EUR