Die Entzauberung der Natur
Marx' anthropozentristischer Ökologismus
In der letzten Nummer des ak wurde der Green New Deal (GND) als neues und prinzipiell hegemoniefähiges Projekt diskutiert. (1) Mit Marx machen die Autoren zu Recht auf die ideologischen Tricks und Kniffe des GND aufmerksam. Was Marx dazu an die Hand gibt, sind die begrifflichen Mittel, die allgemeine Bewegungsform des Kapitals und die vom Kapitalismus verstellten Bedingungen einer nachhaltigen Produktions- und Lebensweise zu erkennen. (2) Indessen langt das Marxsche Instrumentarium nicht aus, um eine sozial-ökologischen Frage angemessen zu analysieren. Der Rückgriff auf Marx übersieht, wie sehr noch Marx selbst derjenigen Tradition verhaftet bleibt, die er recht eigentlich zu überwinden trachtet.
Es zählt zu den geschichtsphilosophischen Grundüberzeugungen Marx' (3), dass die Menschheit durch die kapitalistische Produktionsweise, durch die entfremdete Welt, hindurch muss, um schließlich zu einer Gesellschaftsformation gelangen zu können, in der der Mensch nicht länger ein erniedrigtes und geknechtetes, ein verlassenes und verächtliches Wesen ist. Vor allem im "Manifest der Kommunistischen Partei" verschafft sich dieser geschichtsphilosophisch verbürgte Notwendigkeitsglaube wortgewaltig Ausdruck. (4)
Die Entzauberung und Vernutzung der Natur
Die Autoren begrüßen dort die ungeheure Wachstumsdynamik der neuen Produktionsweise und beschreiben sie geradezu hymnisch. Aber auch der reife Marx berichtet teils fasziniert von dem großen zivilisierenden Einfluss des Kapitals. So ist auch im Hauptwerk von der transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise zu lesen. "Als Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt er (der Kapitalist als personifiziertes Kapital; D.L.; Hervorhebung D.L.) rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen, daher zu einer Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entfaltung jedes Individuums ist". (5)
Mit der zwanghaften Produktion um der Produktion willen, der verkehrten Entfaltung der Kräfte und Bedürfnisse der Menschen sei die wirkliche Grundlage geschaffen, von der aus es zumindest möglich werde (6), den Sprung in eine "höhere Gesellschaftsformation" zu wagen. Die Universalität der Produktion wie auch die Universalität der Bedürfnisse wertet Marx, ganz so wie im "Manifest" (7), eindeutig positiv gegenüber lokaler Selbstgenügsamkeit und Partikularität. Freilich ist die Entfaltung des Individuums das wesentliche Charakteristikum einer zukünftigen Gesellschaft - weder stehen das grenzenlose Wachstum der privatkapitalistischen noch das "Einholen und Überholen" der staatskapitalistischen Gesellschaften im Zentrum des Interesses einer befreiten Menschheit. Gleichwohl ist der (Um-)Weg über den Fanatismus der Verwertung ein notwendiger zur Erreichung der sozialistischen Zukunft. Daher ist das "Akkumuliert! Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten" (8), das auch Müller und Passadakis zitieren, nicht allein kritisch intendiert, sondern beschreibt gänzlich ohne den Gestus des Ironischen den historischen Beruf des Kapitals.
Der triumphalen Fortschrittsdynamik entspricht die "universelle Aneignung der Natur wie des gesellschaftlichen Zusammenhangs selbst durch die Glieder der Gesellschaft ... Die Natur wird erst rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört auf als Macht anerkannt zu werden; und die theoretische Erkenntnis ihrer selbstständigen Gesetze erscheint selbst nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen ... zu unterwerfen. Das Kapital treibt dieser seiner Tendenz nach ebensosehr hinaus über nationale Schranken und Vorurteile, wie über Naturvergötterung, und überlieferte, in bestimmten Grenzen selbstgenügsam eingepfählte Befriedigung vorhandner Bedürfnisse und Reproduktion alter Lebensweise (Hervorhebungen D.L.)". (9)
Der Religionskritiker, der Marx immer auch ist, kann eine solche "Entzauberung" der Natur nur unterstützen. Natur existiert fortan nicht länger als ein "An-sich-Höheres" (10) oder "Für-sich-selbst-Berechtigtes" (11), sondern wird Gegenstand für den Menschen. Dies vollständige Aufgehen der Natur in Gesellschaft wird von Marx nicht nur analytisch, in anderen Worten bloß nüchtern-realistisch beschrieben, sondern apologetisch begrüßt.
Angesichts solcher Urteile hat das Misstrauen gegen den Marxschen Humanismus, wie es vor allem seitens Louis Althusser laut wurde, seinen "überraschend gesunden Sinn"; in ihm äußern sich berechtigte Vorbehalte gegenüber dem Pathos des Menschen als dem selbstherrlichen Subjekt der Geschichte. (12) Als solches nämlich reflektiert sich der Mensch noch in Marx' kritischer Theorie.
Zwar hat die naturwüchsige Produktion den immensen Nutzen gegenüber traditionellen Produktionsweisen, dass sie auf eine stete Steigerung der Produktion drängt. Zugleich nimmt das "subjektlose Subjekt" Kapital keinerlei Rücksicht: weder auf die ProduzentInnen noch auf die Grundlage aller Produktion - die Natur. Beides haben Marx und Engels im Blick. Insofern wäre es freilich auch verfehlt sie so hinzustellen, als redeten sie allein einer blanken Steigerung der Naturbeherrschung, das heißt der naiv-vollständigen Subsumtion von Natur unter menschliche Zwecksetzungen das Wort.
So finden sich, wenn auch oftmals am entlegenen Ort, zahlreiche Hinweise im Werk, die auf ein ökologisches Bewusstsein schließen lassen - ja vor allem Engels kommt das Verdienst zu, mit Nachdruck auf die ökologischen Konsequenzen der kapitalistischen Produktionsweise hingewiesen zu haben. (13) Im ersten Band des Kapitals hält Marx fest, dass "die kapitalistische Produktion ... daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (entwickelt), indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und (Hervorhebung D.L.) den Arbeiter". (14)
Gleichfalls im ersten Band des Hauptwerks spricht er die aktuelle Einsicht aus, dass die kapitalistische Produktion "mit dem stets wachsenden Übergewicht der städtischen Bevölkerung ... den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde (stört), d.h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteil zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter". (15) Nicht zuletzt zeigt er, dass "selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, ... nicht Eigentümer der Erde (sind). Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias (gute Familienväter, D.L.) den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen". (16)
Beispiele, die sich durch etliche weitere ergänzen ließen. Insgesamt also gehen Marx und Engels als Materialisten davon aus, dass das gesellschaftliche Sein, worin die Menschen leben, eingelassen ist in ein umfassenderes Sein der Natur, deren Bestand zu erhalten ihnen bei Strafe des eigenen Untergangs auferlegt ist. (17) Den Menschen betrachten sie als ein leibliches Sinneswesen, das auf Natur angewiesen ist.
Dennoch oder besser gerade vor diesem Hintergrund bleibt aber das Verhältnis des Menschen zur Natur im Marx-Engelsschen Materialismus ein asymmetrisches. Natur wird immer schon im Horizont ihrer gesellschaftlichen Aneignung gesehen. Alles Seiende erscheint als Gegenstand von Bearbeitung, von Praxis. Das ist der "Anthropozentrismus der Marxschen Naturkonzeption" (18); und in diesem Licht stehen m.E. auch die ökologischen Erwägungen. In Marx kreuzen sich sozusagen zwei Diskurse: zum einen die durchaus weitsichtigen Diagnosen über die Schädlichkeit der kapitalistischen Entwicklung; zum anderen aber, und das wird etwa in der Rede vom "guten Familienvater" deutlich, findet sich in Marx ein Denken, das von Herrschaftsverhältnissen - im Geschlechter- wie im Naturverhältnis - geprägt bleibt. (19)
Bei Marx kreuzen sich zwei Diskurs
Diese Verschränkung kommt auch in einer anderen berühmten Passage zum Ausdruck. Nach Marx beginnt "das Reich der Freiheit ... erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache jenseits (Hervorhebungen D.L.) der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion". (20) Die Befriedigung der Bedürfnisse werde demnach immer ein Ringen mit der Natur bleiben, unabhängig von Gesellschaftsform und Produktionsweise. Erst jenseits dieser Sphäre von Herrschaft und Mühsal beginne die eigentliche Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten, die sich als Selbstzweck weiß. Solches Denken aber schreibt nur die Ideologie der Naturbeherrschung fort, nach der die Menschen zu wählen haben "zwischen ihrer Unterwerfung unter Natur oder der Natur unter das selbst". (21) Tertium non datur - ein Drittest ist nicht gegeben! Was dieser Gegenüberstellung von Freiheit und Notwendigkeit entgeht, ist ein Gedanke von Freiheit, die sich in der Gestaltung des Naturverhältnisses zu bewähren hätte.
Darauf drängt die Kulturkritik der "Dialektik der Aufklärung", die für den historischen Materialismus insofern eine erhebliche Bereicherung darstellt. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schließen in dieser Hinsicht an einige Einsichten Walter Benjamins an, der bereits 1928 auf das Problem der Naturbeherrschung mit den Worten hingewiesen hatte, "wer möchte aber einem Prügelmeister trauen, der Beherrschung der Kinder durch die Erwachsenen für den Sinn der Erziehung erklären würde? Ist nicht Erziehung vor allem die unerlässliche Ordnung des Verhältnisses zwischen den Generationen und also, wenn man von Beherrschung sprechen will, Beherrschung der Generationenverhältnisse und nicht der Kinder? Und so auch Technik nicht Naturbeherrschung: Beherrschung vom Verhältnis Natur und Menschheit" (Hervorhebungen D.L). (22)
Damit stünde weniger eine romantische Wiederverzauberung von Natur auf der Tagesordnung, als vielmehr Natur in ihrer Eigensinnigkeit anzuerkennen; Natur als etwas anerkennen, das gerade nicht vollständig in den gesellschaftlichen Versuchen ihrer Aneignung aufgeht. Es ginge um einen Ansatz, der versucht, das Subjekt-Objekt-Schema des Erkenntnis- sowie des Arbeitsprozesses und der damit gesetzten Scheidung von Mensch und Natur zu entkommen.
Dirk Lehmann
Anmerkungen:
1) Müller, Tadzio/Passadakis, Alexis: Das Märchen. Überlegungen zum Green New Deal im Angesicht der (grünen) Krise, ak 536, S. 13
2) Haug, Wolfgang Fritz (2008): Sechs Einsprüche, ökologische Marx-Kritik betreffend. In: Das Argument 279/2008, S. 849
3) Schmidt, Alfred (1993): Vorwort zur Neuauflage 1993. Für einen ökologischen Materialismus, in: Ders.: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt/Main, S. IV
4) MEW 4, S. 461ff.
5) MEW 23, S. 618
6) Freilich ist die Marxsche Geschichtsphilosophie eine insofern revidierte, als mit der kapitalistischen Produktionsweise lediglich die Voraussetzungen in der Welt sind, die den Austritt der Menschheit aus der Vorgeschichte erlauben. Zur objektiven Möglichkeit hinzutreten muss die subjektive Aktivität des Proletariats.
7) MEW 4, S. 466
8) MEW 23, S. 621
9) Marx; Karl 1953: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-1858, Berlin, S. 313
10) Ebd.
11) Ebd.
12) Schmidt, Alfred 1982: Humanismus als Naturbeherrschung, in: Zimmermann, Jörg (Hg.): Das Naturbild des Menschen, München, S. 304
13) Fetscher, Iring 1980: Überlebensbedingungen der Menschheit. Zur Dialektik des Fortschritts, München, S. 139
14) MEW 23, S. 529f.
15) Ebd., S. 528
16) MEW 25, S. 784
17) Schmidt 1993, S. IX
18) Ebd.
19) Görg, Christoph 1999: Gesellschaftliche Naturverhältnisse, Münster, S. 57
20) MEW 25, S. 828
21) Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno 1995: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main, S. 38
22) Benjamin, Walter 1980: Einbahnstraße. In: Ders.: Gesammelte Schriften IV.I, Frankfurt/Main, S. 146f.