Revolutionäre Ethik, Knast und Träume
Interview mit Yessie Macchi, MLN-Tupamaros, Uruguay
In dem kürzlich erschienenen Buch "Aber wir haben immer auf das Leben gesetzt..." berichten zwölf Frauen von ihren politischen Aktivitäten, von Verhaftung, Folter und Gefängnis in Uruguay. Yessie Macchi ist eine der Interviewten. Gemeinsam mit den Herausgeberinnen Monika Berberich und Irene Rosenkötter stellte sie das Buch kürzlich in Hamburg vor. Mit Yessie Macchi sprach efa.
ak: Wie ist dieses Buch entstanden?
Yessie Macchi: Das ist eigentlich mehr eine Frage an Monika oder Irene, aber gut. Ich habe die beiden über ein gemeinsames Projekt kennengelernt: Zusammen mit anderen deutschen Genossinnen drehten wir einen Film, der die Beteiligung von Frauen im bewaffneten Kampf in Uruguay als sogenanntes "Dritte-Welt-Land" einerseits und in Deutschland als sogenanntes "Erste-Welt-Land" andererseits zum Inhalt hat und aus der jeweils anderen Perspektive erzählt, das heißt, wir haben in Deutschland gefilmt und die deutschen Genossinnen in Uruguay. Wir wollten die Unterschiede und die Übereinstimmungen dieser so unterschiedlichen Kämpfe innerhalb einer bestimmten historischen Epoche aufzeigen, und ich glaube, das ist uns auch gelungen. Der Film wurde recht gut; er heißt "Und plötzlich sahen wir den Himmel". Es entstanden sehr persönliche Beziehungen zwischen den Frauen, die den Film gemacht haben. Wir haben tage- und nächtelang die Auswirkungen der Knasterfahrungen diskutiert. Und dann haben wir überlegt, daß unsere Erfahrungen in Uruguay für die gefangenen Genossinnen und Genossen hier möglicherweise hilfreich sein könnten - egal, ob sie schon rausgekommen sind, demnächst rauskommen oder wie auch immer. Wir dachten, daß wir sie so unterstützen könnten in diesem schwierigen und komplexen Moment der Rückkehr in eine Gesellschaft, die sich historisch an einem völlig anderen Punkt befindet als zum Zeitpunkt der Verhaftung. Das war der Ursprung des Buches. Das ist übrigens die erste Veröffentlichung über uruguayische Frauen im bewaffneten Kampf.
Auch ansonsten kann man beim Thema Frauen im bewaffneten Kampf, wann und wo auch immer, ja nicht gerade über Informationsflut klagen. Vermutlich, weil man lange Zeit auch bei diesem Thema fälschlicherweise davon ausging, daß die Erfahrungen der Männer verallgemeinerbar sind. Die Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, sind Geschichten, die von Frauenerfahrungen berichten, im Kampf, im Knast und in der Zeit danach. Wenn Du an Deine, an Eure Erfahrungen im Knast zurückdenkst, was, glaubst Du, sind die wichtigsten Unterschiede im Vergleich zu den Knasterfahrungen der Männer?
Ich glaube, daß wir Frauen uns nach relativ kurzer Zeit im Knast darüber klar wurden, daß es überhaupt keinen Sinn macht, dieselbe hierarchische Struktur ins Gefängnis reinzutragen, die wir draußen sowohl innerhalb der bewaffneten Gruppen wie auch in den anderen Gruppen hatten. Davon ausgehend versuchten wir - und es gelang uns auch, was das wichtigste ist - gemeinsam zu arbeiten. Ich sag gemeinsam und nicht einheitlich, weil es natürlich Unterschiede zwischen uns gab, auch in politisch-ideologischer Hinsicht. Dennoch haben wir es geschafft, im Knast eine gemeinsame Front zu bilden, die darauf ausgerichtet war, Strategien für den Kampf im Knast zu entwickeln. Im Gegensatz zu den Männern haben wir nie versucht, unsere Standpunkte in die Volksbewegung gegen die Diktatur einzubringen, weil wir wußten, daß wir in der Isolation des Knastes keine angemessenen Einschätzungen darüber erlangen können, welche Strategien für die Kämpfe draußen richtig sind. Wir haben sowohl dem Männerknast wie auch den politischen Bewegungen draußen gegenüber großen Respekt bewahrt. Aber wir haben natürlich umgekehrt auch nicht zugelassen, daß man sich von außen in unsere Kämpfe innerhalb des Gefängnisses einmischt.
Und wir haben horizontal gearbeitet, ohne jede Hierarchie, was wirklich nicht ganz einfach war. Stell Dir vor, ein Hochsicherheitsgefängnis mit Isolationszellen, wo es so gut wie unmöglich ist, zu kommunizieren und Aktionen zu planen. Wir haben uns trotzdem bei jeder repressiven Aktion des Feindes Zeit genommen, uns zu koordinieren und uns über die Gegenmaßnahmen zu einigen. Das war die eine Seite unseres Kampfes: keine Aktion des Feindes unbeantwortet zu lassen. Die andere war unser Prinzip, keine Genossin aus der gemeinsamen Front herausfallen zu lassen, um jede einzelne, wenn es sein muß, zu kämpfen. Vielleicht wäre es für uns bequemer gewesen, einfach zu gehorchen. Aber wir wußten, daß wir dieses Foltergefängnis, das zu den schlimmsten in der Geschichte Lateinamerikas gehört, nur überleben können, wenn wir immer wieder die Initiative für den Kampf ergreifen. Und dafür brauchte es untereinander eine große Toleranz und Akzeptanz der vorhandenen Differenzen. Das macht zur Situation im Männerknast einen enormen Unterschied aus: Sie haben ihre Diskussionen um politische Differenzen im Knast weitergeführt und damit die Spaltungen aufrechterhalten. Klar, wir hatten auch unsere eigenen Treffen als MLN oder die Frauen von der KP als KP. Aber wir haben eben gemeinsam gekämpft und auch gemeinsam politisch diskutiert und dabei zugelassen, daß Genossinnen aus anderen Gruppen unser Denken beeinflussen - eine einzigartige und unwiederholbare Erfahrung.
Glaubst du, daß die Erfahrung dieser Gemeinsamkeit im Knast es den Frauen leichter gemacht hat, danach ins Leben draußen zurückzukehren?
Nein, das glaub ich nicht. Sieh mal, im Knast mußt du deine Persönlichkeitsstruktur aufrechterhalten und festigen im Kampf gegen die feindliche Umgebung. Dafür mobilisierst du alle dir zur Verfügung stehenden Verteidigungsmechanismen. Und in dem Moment, wo du aus dem Knast rauskommst, bewahrst du diese Struktur, weil du es nicht mehr anders kannst. Irgendwann kommt ein Moment, wo du dich "destrukturieren" mußt und merken, daß du frei bist. Das ist für Männer genauso schwierig wie für Frauen. Diese "Destrukturierung" kann Jahre dauern, kann sein, daß sie nie gelingt oder nur auf furchtbare Weise, wie das bei vielen von uns der Fall war. Denn in dem Moment, wo du deine Verteidigungsmechanismen aufgibst, kommt all das hoch, was du im Knast weggesteckt hast, der Schmerz, das Leiden, die Angst. Bei uns Frauen kam da dann noch etwas anderes dazu: Die Erfahrung der Gemeinsamkeit, die wir drinnen gemacht hatten, prallte auf eine Realität, in der sich die männlichen Machtstrukturen innerhalb unserer politischen Gruppen neu aufbauten, die Hierarchie, der Vertikalismus. Plötzlich hingen wir in etwas drin, was für uns schon ein Anachronismus war. Wir fühlten uns angesichts dieses Wiedererstarkens männlicher Strukturen entwaffnet; viele Genossinnen zogen sich zurück ins Privatleben, andere blieben und litten an den Widersprüchen - oft genug ohne die erforderliche Kraft, in Konfrontation zu gehen. In diesem Sinne war die Rückkehr ins Leben draußen für uns Frauen doppelt schmerzhaft. Wir mußten uns in eine Welt einfügen, die wir weitgehend hinter uns gelassen hatten.
Das heißt, im Knast ist es Euch gelungen, die traditionellen Geschlechterrollen zu überwinden, und in dem Moment, als ihr freikamt ...
Da kehrten sie zurück.
Und mit solcher Macht, daß es nicht möglich war, dagegen anzukämpfen?
Ich sag nicht, daß es unmöglich war. Ich sag, daß wir vielleicht nicht in der Lage waren zu kämpfen. Von heute aus betrachtet, dreizehn Jahre später, denke ich, vielleicht hätten wir's gekonnt, vielleicht... . Man muß aber auch sehen, daß wir Frauen eine, wie Du sagst, traditionelle Rolle übernehmen mußten, die für die Familien sehr wichtig war, für die Kinder, für die Geschwister, die Eltern... etwas, was die Männer nicht machen mußten, im Gegenteil, sie hatten immer irgendjemanden, der sie versorgte und beschützte. Auch das Kinderthema, das für die Frauen in Lateinamerika nun einmal eine große Rolle spielt, kam da noch mit rein. All das zusammen hat möglicherweise bewirkt, daß wir es nicht geschafft haben, die Situation gemeinsam anzugehen. Das heißt nicht, daß nicht individuell dagegen gekämpft wurde. Ich hab dagegen gekämpft. Für mich war das in jenen Jahren ein andauernder Kampf. Aber gemeinsam - es war schwierig, die Kollektivität in einer fragmentierten Welt aufrechtzuerhalten.
In dem Buch sprichst du davon, daß es für euch in dem Moment der Freilassung eine schmerzhafte Diskrepanz zwischen dem "gefühlten" und dem "objektiven" Alter gab und daß die Männer weniger darunter zu leiden hatten. Warum?
Na, ganz einfach. Ein Mann mit 40, 50 Jahren, mit seinen Fältchen im Gesicht und seiner heroischen Vergangenheit, ist für viele Frauen ein außerordentlicher Leckerbissen. Eine Frau mit 40, 50 Jahren, mit ihren Fältchen im Gesicht und ihrer genauso heroischen Vergangenheit, ist alt. Schlicht und ergreifend.
Auf einer etwas persönlicheren Ebene würde ich sagen, daß wir als Verteidigungsstrategie viele Gefühle und Sehnsüchte im Gefängnis einfrieren mußten. Einige von uns sind mit vierundzwanzig, fünfundzwanzig verhaftet worden, andere schon mit achtzehn. Von diesem Zeitpunkt an mußten wir uns einfrieren und stehenbleiben in bezug auf unsere emotionale und sexuelle Entwicklung und auch in bezug auf den Kinderwunsch. Und genauso mußte dieses menschliche Grundbedürfnis danach, zu verführen und verführt zu werden eingefroren werden, dieses ganze Spielerische und Romantische, all das, was du zur Selbstbestätigung nicht nur deiner Sexualität, sondern auch deiner Emotionalität brauchst. Du wirst zu etwas, das reagiert, das kämpft und rebelliert, und alles andere ist so vergraben, daß es nicht einmal mehr in deinen Träumen auftaucht. Eine Ärztin von uns, die auch viele Jahre im Knast war, hat nach der Freilassung eine Untersuchung gemacht über weibliche Sexualität im Knast - und eines der Dinge, die sie am meisten überraschte, war, daß dieses Thema noch nicht einmal in den Träumen auftauchte. Verstehst Du, ich red nicht einmal von Masturbation oder sexuellen Beziehungen unter Frauen, sondern davon, daß es noch nicht einmal erotische Phantasien oder Träume gab. Klar, das war die erfolgreiche Arbeit des Feindes. Diese Entpersonalisierung durch Nummern und durch Farben, die den Grad deiner Gefährlichkeit anzeigten, all diese Versuche der "Vermassung" waren auch erfolgreiche Versuche, die Individualität, die Gefühle und die Zärtlichkeit jeder einzelnen von uns zu unterdrücken. Natürlich haben wir dagegen angekämpft. Wir waren untereinander ganz besonders zärtlich zueinander, haben ständig liebevolle Gesten benutzt - etwas, was uns sehr irritiert hat, als wir rauskamen, denn draußen war das nicht üblich - aber in sexueller Hinsicht war da nur Unterdrückung. Wir haben oft Liebeslieder gesungen, aber vor allem auch Lieder über Freundschaft. Wir haben uns sehr geliebt, aber so, wie sich eben Genossinnen lieben, wir hatten sehr klar, daß da keine Art von Verführung oder Erotik mit reinspielt - oder nur ganz selten.
Also, um auf Deine Frage zurückzukommen: Als wir aus dem Knast rauskamen, mußten wir all das auftauen. Aber es waren in der Zwischenzeit dreizehn, vierzehn, fünfzehn Jahre vergangen, in denen wir uns nicht weiterentwickelt haben. Das heißt nicht, daß nicht viele Frauen dieses Problem für sich gelöst hätten. Viele haben es sehr einfach gelöst, indem sie sich mit ihrem alten Gefährten, der auch in Freiheit gekommen war, zusammentaten. Aber viele Paare, die all die Jahre im Knast überstanden hatten, trafen sich im Moment des Wiedertreffens nicht wirklich und trennten sich bald darauf. Viele Frauen konnten ihr Beziehungsleben nicht wieder aufnehmen und lebten in emotionaler Einsamkeit weiter. Damit meine ich nicht das Soziale, sondern das Persönliche. Und außerdem war es auch so, bei mir zum Beispiel, wenn jemand mit dir eine Beziehung anfangen wollte, konntest du nie sicher sein, ob er wirklich dich als Person meint oder dich als Legende, als Mythos. Das hat bei mir immer zu einer enormen Verunsicherung geführt: Wen wollen sie, das Image oder mich? Da haben die Männer weniger Probleme mit. Wenn eine Frau sie wegen ihres Images will - wunderbar, um so besser.
Ich könnte mir auch vorstellen, daß viele Männer diesen Widerspruch zwischen Image und Persönlichkeit vielleicht nicht so kraß empfinden.
Ich würd es sogar noch schärfer formulieren: Sie empfinden ihn nicht. Basta. Oder nur ganz wenige. Die Frauen, ja. Ich zumindest hab immer gespürt, daß da ein großer Unterschied ist zwischen dem Mythos und dem, was ich bin, was ich in all den Jahren in der Gefangenschaft in mir entdeckt habe, gute wie weniger gute Seiten, Stärken, Schwächen, das Authentische und das Nicht-Authentische; schließlich bist du da sehr auf dich geworfen und mußt mit dir, so wie du bist, zusammenleben - und plötzlich bist du damit konfrontiert, daß alle Welt dich mit einem Bild identifiziert. Das ist schwierig zu lösen. Denn da gibt es auch noch ein weiteres Problem, eine Falle: Du mußt das auch in dir selbst lösen. Weil du das Bild natürlich auch verinnerlichst. Du mußt dich bewegen, du, nicht das Image. Das ist schwierig, weil da ein enormer sozialer Druck ist, der dich permanent auffordert, deine eigene Legende zu sein.
Ich stell mir das gerade im Moment des Kennenlernens nicht leicht vor, zumal es ja nicht nur ein Image ist, was du vor dir herträgst, sondern dieses Bild hat natürlich auch seine Berechtigung und seine Wirklichkeit, so daß es vermutlich schwer ist, genau auszumachen, wo hört das Image auf und wo fang ich an.
Das stimmt. Du mußt lernen, du selbst zu sein, ohne deine Bedingungen und deine Geschichte zu verleugnen. Du kannst nicht hingehen und sagen, jetzt ist jetzt und die Vergangenheit ist vorbei. Aber es ist wichtig, dich in der Gegenwart zu verorten und in der Gegenwart die Authentizität zu retten. Das ist übrigens auch ein ethisches Problem. Da ist nämlich auch viel Opportunismus in diesem Image-System. Es kann dir so unglaublich viel erleichtern, dieses Image. Und es braucht Ehrlichkeit, sich dem zu stellen. Und das ist nicht bloß ein psychologisches Problem, sondern auch ein politisches.
Ja, es hat auch mit dem zu tun, was du "männliche" Politik nennst....
Und damit, die Wahrheit zu leugnen. Und andersrum: In dem Moment, wo du dich mit all deinen Stärken und Erfolgen und mit deinen Schwächen und Niederlagen zu erkennen gibst, handelst du ethisch und politisch zugleich. Aber dafür mußt du bereit sein zur Selbstkritik und zur ständigen Überprüfung dessen, was du tust. Das kann sehr schmerzhaft sein. Diese fehlende Selbstkritik ist in Lateinamerika schon oft verhängnisvoll gewesen. Sei es, daß sich herausstellt, daß Revolutionäre ihre eigenen Töchter vergewaltigen oder Genossen ihre Genossen umbringen - ich mein das jetzt allgemein, das soll keine Anspielung auf konkrete Ereignisse sein. Aber diese Wahrheiten müssen offengelegt werden. Die Menschen in den Ländern müssen diese Dinge erfahren, auch wenn es noch so weh tut. Wir in der MLN haben uns immer bemüht, unsere eigene Geschichte kritisch zu hinterfragen. Vielleicht manchmal sogar zu selbstkritisch, aber mir ist es lieber so herum, als daß es zu wenig selbstkritisch ist.
Das ist das Thema der "revolutionären Ethik", das du auch in der Veranstaltung angesprochen hast. Was genau meinst du mit diesem Begriff?
Der Begriff ist ein Ergebnis der Analyse der revolutionären Bewegungen in Lateinamerika. In den 60er Jahren, ausgehend von der kubanischen Revolution, schien es sehr leicht zu sein, eine Revolution zu machen. Man brauchte bloß zwanzig, dreißig Leute, ein paar Waffen, einen erklärten Antiimperialismus. Eines der wenigen Länder, wo - meines Wissens - wirklich in der Tiefe analysiert worden ist, was revolutionärer Kampf bedeutet, ist Uruguay. Bereits im ersten MLN-Dokument haben wir die Frage der Gewalt diskutiert, und das ist von uns Frauen stark beeinflußt gewesen. Ich glaube, die Waffe ist für den Mann so etwas wie eine phallische Verlängerung. Es gibt viele Männer, die Waffen toll finden, ganz einfach, weil sie Waffen toll finden. Da können sie noch so revolutionär sein - Waffen sind einfach ein Moment der Männlichkeit, der Allmacht. Und ich hab nur ganz wenige Frauen kennengelernt, denen es gefällt zu schießen, um zu schießen. Und das sagt dir eine, die wahrhaftig viel geschossen hat und Schießlehrerin der MLN war. Also, ich glaube, wir Frauen befürchten zu Recht, daß die Gewalt schnell in etwas sehr Merkwürdiges, fast schon Perverses umschlagen kann und man gar nicht mehr so recht weiß, was genau sie dann mit revolutionärem Kampf zu tun hat. Ich glaube auch im Gegensatz zu Frantz Fanon nicht- den ich im übrigen sehr schätze -, daß der bewaffnete Kampf läutert. Er hat im Gegenteil hohe soziale und persönliche Kosten. Ich weiß, die revolutionäre Gewalt ist in vielen Momenten notwendig. Aber man muß genau wissen, wann, warum und in welcher Form sie notwendig ist. Und es muß klar sein, daß es nicht einen einzigen überflüssigen Schuß geben darf. Nicht einen einzigen. Ich denke, viele revolutionäre Bewegungen in Lateinamerika hätte es gar nicht gegeben, wenn sie vorher gründlich über die revolutionäre Ethik diskutiert hätten. Bei dieser Ethik geht es übrigens nicht nur um Gewalt, sondern auch zum Beispiel um Korruption und Opportunismus. Ich bin froh, daß wir diese Diskussionen in Uruguay bis heute kontinuierlich führen.
Und wie sind da Eure Erfahrungen in den Diskussionen mit den männlichen Genossen? Ist es möglich, all diese Dinge offen zu besprechen?
Doch, ja. Wir haben diese Fragen von Anfang an gemeinsam diskutiert. Es gibt viele Genossen, die dasselbe ethische Konzept des Kampfes haben und genauso denken wie wir Frauen. Andere natürlich nicht. Da gibt es die, für die die Waffe eben eine phallische Verlängerung ist, oder auch die, die wie wild irgendwelche Aktionen planen und durchführen - das ist nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich. Das ist ein Problem, das uns bis heute kontinuierlich begleitet. Jetzt zwar nicht mehr in Bezug auf den bewaffneten Kampf, sondern in der Frage, in welcher Form wir Politik machen.
Und auch in bezug auf die internen Organisationsstrukturen?
Na klar, immer. Aber ich muß auch sagen, daß nicht alle Frauen so denken wie ich. Viele haben das männliche Politik-Modell verinnerlicht. Unser Kampf zielt also nicht nur auf Männer ab. Das ist ein Kampf ums Bewußtsein, nicht ein Problem von Männern und Frauen. Es ist eine Frage des Bewußtseins um die Geschlechterfrage und damit auch eine Frage des revolutionären Bewußtseins.
Hier sind die Erfahrungen von vielen Frauen in "gemischten Strukturen" die, daß es bei den Genossen bisweilen eine recht große Differenz zwischen Theorie und Praxis gibt. Soll heißen, auf einem abstrakten theoretischen Niveau kann man sich möglicherweise recht schnell einigen, einige Männer sind dann ausgesprochen feministisch. Nur wenn es um die praktische Umsetzung geht, hakt es dann. Und das ist einer der Gründe, warum sich hier nicht wenige Frauen für eine autonome Organisierung entschieden haben...
Das ist eine sehr europäische Erfahrung. In Lateinamerika und Uruguay ist das noch nicht passiert, auf politischer Ebene zumindest. Wir sind uns über diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis bewußt. Aber unser Ziel ist der gemeinsame Kampf von Männern und Frauen. Und uns Frauen kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu: Nämlich dafür zu sorgen, daß der Kampf so breit wie möglich und so demokratisch und respektvoll wie möglich geführt wird. Aber natürlich wollen wir auch das Bewußtsein der Männer verändern. Zu unseren Veranstaltungen laden wir auch Männer ein, weil wir wichtig finden, daß sie auch diesen Bewußtwerdungsprozeß durchlaufen.
Sprichst du deshalb von einer weiblichen Vision und nicht von Feminismus?
Ich glaube, daß es in Uruguay eine große Verunsicherung über den Terminus Feminismus gibt. Da muß man sehr vorsichtig sein. Dennoch spreche ich von einer weiblichen und einer männlichen Form, Politik zu machen. Ich glaube, nur wenige der Genossinnen würden ihre Erfahrungen im Knast als feministisch bezeichnen, obwohl sie das waren, vor allem in den letzten Jahren. Aber was klar ist, daß die meisten Frauen ein Bewußtsein darüber haben, daß es notwendig ist, die Machtstrukturen zu verändern.
Monika Berberich, Irene Rosenkötter (Hg.): "Aber wir haben immer auf das Leben gesetzt...". Hamburg 1998, Verlag Libertäre Assoziation, 269 S., 29 DM
Yessie Macchi wurde 1946 in Montevideo geboren. In den 60er Jahren schloß sie sich der Nationalen Befreiungsbewegung Tupamaros an, wurde mehrfach verhaftet, zum letzten Mal 1972 und rotierte von 1973 bis 1976 durch verschiedene Kasernen. Die restliche Haftzeit verbrachte sie wie alle anderen Frauen im Gefängnis Punta de Rieles bis zur Freilassung im März 1985. Danach arbeitete sie als Journalistin bei Radio Panamericana, einem freien Radio, das den Tupamaros nahestand, und ist heute in dem Projekt ACA/ComcoSUR mit der Vernetzung von alternativen Medienprojekten bzw. Frauenprojekten in verschiedenen Ländern betraut.