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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 538 / 17.4.2009

Aufgeblättert

Weltmacht Russland?

Im Vorwort zu seinem neuen Buch beschreibt Kai Ehlers die von ihm bevorzugte Arbeitsweise bei seinen Forschungen zur nachsowjetischen Transformation in Russland so: "Bestandsaufnahmen vor Ort, Reisen durchs private Netz verbunden mit intensiven Gesprächen wurde meine Forschungsmethode. Auf diese Weise lernte ich Innenansichten Russlands kennen, die sonst eher verborgen bleiben" . Sein neues Buch basiert auf einem Briefwechsel und vielen Gesprächen mit seinem Freund, dem Poeten, Schriftsteller und Journalisten Jefim Berschin, zehn Jahre lang Redakteur der bekannten Moskauer Zeitschrift Literaturnaja Gasjeta, bis sie 1998 von Oligarchen übernommen wurde. Zum Verständnis der aktuellen Entwicklungen sind Rückblicke in die Geschichte angebracht, die im kollektiven Gedächtnis der russischen Bevölkerung offenbar fest eingebrannt sind. So wird die Situation Russlands unter Jelzin verglichen mit der "Smuta" , der Zeit nach dem Tod Iwans IV, des Schrecklichen, von 1584 bis zur Krönung Romanows 1613. Das Chaos und die Irrationalität dieser Jahre sieht man auch in der inneren Entwicklung ab 1990, während gleichzeitig die NATO parallel zur Ost-Erweiterung der EU die Einschnürung Russlands betrieb. Dazu gehörte auch eine systematische Destabilisierung durch inszenierte Propaganda über nationale Konflikte in der früheren Sowjetunion. Das ist im wesentlichen Berschins Sichtweise. An den meisten Stellen ergibt sich ein Spannungsbogen, der das Buch leicht lesbar macht. Beispielweise bei der Sicht auf die sowjetische Intervention in Afghanistan: War dies ein "halbhumanitärer Krieg"? Auch das westliche und das östliche Verständnis von Demokratie und Freiheit geben einige Reibungsflächen. Ebenso lässt sich über das Thema Menschlichkeit und Menschenrechte vortrefflich streiten. Ein Zitat aus der Diskussion über den Tschetschenien-Krieg: "Aber über Menschenrechte im Krieg zu sprechen ist sinnlos ... Wenn geschossen wird, ist es bereits zu spät, über Menschenrechte zu sprechen." Ein zentrales Thema ist die Frage: Ist Russland auf dem Weg zu einem Imperium neuen Typs, oder in die Restauration alter Strukturen? Oder handelt es sich bei Russland um ein "Entwicklungsland neuen Typs"? Kann Russland die geplante Überführung der Selbstversorgung in eine vom globalen "Markt" diktierte Fremdversorgung überstehen, wie die WTO sie fordert? Das Buch ergibt ein sehr anschauliches Bild der russischen Situation, wie es für die eigene Meinungsbildung kaum besser machbar wäre.

Karl-Heinz Peil

Kai Ehlers: Russland - Herzschlag einer Weltmacht. Pforte Verlag, Dornach 2009, 300 Seiten 24,80 EUR

Hört die Signale!

Der linke italienische Philosoph Gianni Vattimo (geboren 1936, nicht 1968, wie der Rotbuch-Verlag fälschlich behauptet) war nie Kommunist. Jetzt will er es werden, dem Zeitgeist zum Trotz. Seine individuelle Entscheidung verdient ebenso Respekt wie sein Versuch, andere daran teilhaben zu lassen und womöglich zum Mitmachen zu ermuntern. Sein Buch "Wie werde ich Kommunist" (ohne Fragezeichen - wozu auch?!), 2007 im italienischen Original erschienen, liegt seit letztem Jahr auch in Peter O. Chotjewitz' deutscher Übersetzung vor. Da der Autor von den besonderen italienischen Verhältnissen ausgeht, ohne bei ihnen stehen zu bleiben, hat der sachkundige Übersetzer dem Text eine Reihe erklärender Fußnoten beigefügt. Das erleichtert die Lektüre, die der Verlag seinerseits mit völlig überzogenen Erwartungen belastet: "Das Kommunistische Manifest des 21. Jahrhundert" hätte Vattimo geschrieben, behaupten die LektorInnen des Rotbuch-Verlages wider besseres Wissen. Wer das Buch trotz der marktschreierischen Werbung liest, erfährt einiges über den Autor und sein Land. Die für Italien seit "Don Camillo und Peppone" bekannte spannungsreiche Koexistenz von Kommunismus und Katholizismus spiegelt sich auch in der Person Gianni Vattimo: Schon im Vorwort bekennt er sich zu seiner "kathokommunistischen" Orientierung. Vielleicht erklärt sich so sein Hang zum Verkünden nicht weiter begründeter Lehrsätze. Ein Beispiel für viele: "Wir brauchen eine gehörige Portion Anarchismus, um die von der postmodernen Vermassung ausgehende Zersetzung der kleinbürgerlichen Subjektivität und das Programm für eine nicht entfremdete Gesellschaft im Sinne der Kommunisten in Einklang zu bringen." Dass es auf absehbare Zeit schlecht aussieht mit der Revolution, ist Vattimo sehr wohl bewusst. Von revolutionären Befreiungsprojekten hält er wenig: "Unser Projekt besteht darin, die Rechte und ihre gegen die Freiheit gerichteten Gesetze zu zerschlagen. Danach sehen wir weiter." Das klingt sympathisch und ist auch sehr viel konkreter fassbar als der sehr vage Ausblick, mit dem das Buch endet: "Im übrigen braucht die Linke vielleicht nicht so sehr eine Theorie. Sie muss die Signale der Zeit hören, und sie muss diese in kollektiver Anstrengung dechiffrieren, so marginal die Zeichen auch sein mögen." Die Signale hör' ich wohl - allein, mir fehlt der Glaube: an Gianni Vattimos Bedeutung für den Kommunismus des 21. Jahrhunderts.

Js.

Gianni Vattimo: Wie werde ich Kommunist. Rotbuch-Verlag, Berlin 2008, 123 Seiten, 16,90 EUR

Schuld und Verantwortung

"Du hast mir sooft von deinem Schmerz und deiner Trauer erzählt, viel mehr als von dem, was eigentlich geschehen ist, dass ich gar nicht mehr sicher bin, ob ich noch mehr erfahren möchte oder lieber das Wenige, das ich weiß, ganz einfach wieder vergessen will. Jetzt wo du nicht daheim bist, hat sich unverhofft ein anderer Blick in dein inneres Land aufgetan. Und ich bin in der Lage, einen Unterschied zwischen dir und Großmutter auszumachen. In ihr ist die Erinnerung Schmerz, eine Verstümmelung; auch dir fehlt ein Teil, aber du empfindest noch etwas anderes, in dir ist auch Wut und Scham" - so klug interpretiert Rita die Gefühlswelt ihrer unnahbaren Mutter, die geprägt ist von der Ermordung des Vaters durch Francos Truppen. "Inneres Land" könnte gelesen werden als Fortsetzung von Maria Barbals Roman "Wie Steine im Geröll" . (vgl. ak 532) In "Inneres Land" lässt die Autorin die Enkelin und Tochter Rita ihre Geschichte erzählen - eine Familiengeschichte, die mehrere Generationen umfasst; wesentliche Elemente neben Großmutter, Vater und Bruder sind die Nachbarn im Wohnort, die Menschen im Heimatdorf der Mutter, die Freundinnen in Madrid. Rita versucht immer wieder, scheinbar vergebens, die Aufmerksamkeit, die Liebe ihrer Mutter für sich zu gewinnen. Rita zieht die Konsequenz und beginnt sich immer mehr von der Mutter zu lösen, ihr eigenes Leben aufzubauen und zu gestalten. Maria Barbal beschreibt mit Empathie und Feingefühl nicht nur das Mutter-Tochter Verhältnis sondern auch die Folgen eines Traumas, das weder privat noch gesellschaftlich erinnert, geschweige denn bearbeitet wurde. Wie in einem unausweichlichen Kreislauf entstehen immer wieder Unklarheiten und verletzende Missverständnisse. Maria Barbal lässt Rita als Vertreterin der heutigen Generation aus der Perspektive einer sich entwickelnden Persönlichkeit erzählen, aus der Sicht des kleinen trotzigen Mädchens bis hin zur Erwachsenen. Mit der Perspektive auf Unabhängigkeit entwickelt sie das notwendige Selbstbewusstsein, um auch unbequeme Fragen zu stellen und Antworten zu fordern. Ein spannender, vielschichtiger und überaus kluger Roman, der immer wieder die Frage nach Schuld und Verantwortung stellt, auch auf Seiten der Opfer.

Raphaela Kula

Maria Barbal: Inneres Land. Transit Verlag, Berlin 2008, 399 Seiten, 22,80 EUR