ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 540 / 19.6.2009
Kein himmlischer Friede
Soziale Konflikte - 20 Jahre nach den Tian'anmen-Protesten
Am 4. Juni 1989 schockierte China die Welt. Ein blutiger Einsatz der Armee beendete die seit Wochen anhaltende Protestkundgebung auf dem Tian'anmen-Platz in Peking. Die Verantwortung trug Deng Xiaoping, dessen Reformpolitik zuvor allenthalben höchste Bewunderung erntete. Deng rechtfertigte die schätzungsweise zweitausend Toten jener Tage als ein im Vergleich zum Blutvergießen vergangener Zeiten geringes und zum Erhalt von Stabilität und Ordnung notwendiges Opfer. In westlichen Medien wurde die Aktion als Einschreiten des "totalitären kommunistischen Regimes" gegen eine von StudentInnen getragene Bewegung für Freiheit und Demokratie dargestellt. Die Realität sozialer Konflikte in China war und ist komplexer.
Die Massenversammlung auf dem "Platz des Himmlischen Friedens", in der sich die Erosion des realsozialistischen Universums manifestierte, war aus Trauerfeierlichkeiten für den am 15. April 1989 verstorbenen ehemaligen KP-Generalsekretär Hu Yaobang hervorgegangen. Hu, 1981 als energischer Reformer von Deng Xiaoping an die Parteispitze gebracht, war wegen seiner zu liberalen Haltung 1987 auf Betreiben konservativer Parteiveteranen zum Rücktritt gezwungen worden. Sein Nachfolger Zhao Ziyang verhielt sich aus der Sicht der Hardliner ebenfalls zu weich und wurde nach der Niederschlagung der Bewegung abgesetzt. In die Zeit der Proteste fiel ein Staatsbesuch von Michail Gorbatschow, der auf dem Rückflug nach Moskau die Einschätzung äußerte, Chinas Führung habe die Lage nicht unter Kontrolle. Dies mag den Anstoß zu einer gewaltsamen Machtdemonstration gegeben haben, die in dieser Form in der Geschichte der Volksrepublik China beispiellos war.
1989 demonstrierten Studierende und ArbeiterInnen
13 Jahre zuvor hatte es eine ähnliche spontane Protestversammlung von mehreren Tagen Dauer mit möglicherweise sechsstelliger TeilnehmerInnenzahl gegeben. Im April 1976, als Mao Zedong noch lebte, gab das chinesische Totenfest den Anlass zu einer Ehrung des im Januar verstorbenen Ministerpräsidenten Zhou Enlai, der zweifellos gerne den 1966 in der Kulturrevolution als "Machthaber auf dem kapitalistischen Weg" gestürzten, 1973 rehabilitierten Deng Xiaoping als Nachfolger gesehen hätte. In Wandzeitungen und Diskussionen äußerten sich damals neben Deng-AnhängerInnen vor allem auch ehemalige AktivistInnen der Kulturrevolution, die sich durch die radikalen Eiferer um Maos Frau Jiang Qing missbraucht und verraten fühlten. Der zur Parteilinken gerechnete Innenminister und geschäftsführende Regierungschef Hua Guofeng ließ die Kundgebung auflösen. Deng wurde bezichtigt, Drahtzieher des "konterrevolutionären Zwischenfalls" gewesen zu sein, und aller Ämter enthoben.
Als Mao am 9. September 1976 starb, konnte Hua sich als berufener Nachfolger darstellen. Tatsächlich war er ein Kompromisskandidat, der auf Drängen des Apparats und der Militärveteranen die extreme Linke ausschaltete und die "Viererbande" um Maos Witwe verhaften ließ. Sein Kalkül, den "Revisionisten" Deng gleichfalls außen vor zu lassen und an einer formell orthodox maoistischen Linie festzuhalten, konnte nicht aufgehen - zu groß war Dengs Reputation im Parteiapparat.
In die Parteispitze zurückgekehrt, wurde Deng zu Huas Gegenspieler - und zum Hoffnungsträger der Demokratiebewegung, die im Frühjahr 1978 in Wandzeitungen und Untergrundzeitschriften Forderungen zur Beseitigung "feudal-faschistischer" Strukturen und Vorschläge zur demokratischen Reform des Sozialismus vortrug - vielfach unter Berufung auf das jugoslawische Modell der Arbeiterselbstverwaltung. Auch hier waren die AktivistInnen überwiegend ehemalige RotgardistInnen aus der Kulturrevolution und gebildete FacharbeiterInnen - diese hatten im damaligen China das höchste Sozialprestige. Deng gab der Bewegung Rückendeckung, solange sie ihm dazu nützte, Hua Guofeng zu schwächen. 1979, als er seinen reformorientierten Kurs durchgesetzt hatte, ließ er ihr jedoch ein Ende setzen: Seine Vorstellungen von Modernisierung, Steigerung von Leistung und Effizienz schlossen demokratische Partizipation in der Produktion aus. Allerdings setzte der von Deng ins Politbüro geholte Reformer Hu Yaobang geschichtspolitisch die positive Neubewertung des "Zwischenfalls" von 1976 durch.
Im Gegensatz zum maoistischen Egalitarismus, der fest auf die kollektive Schöpferkraft einfacher ArbeiterInnen und BäuerInnen vertraute und diese zum Widerstand gegen technokratisch-hierarchische, "kapitalistische" Arbeitsteilungen aufrief, ging Deng davon aus, dass die wirtschaftliche Entwicklung Chinas auf Eliten als Schrittmacher angewiesen ist. Der Aufbau des Sozialismus wurde als Prozess von langer Dauer neu definiert, in dem zunächst Entwicklungspotenziale des Kapitalismus genutzt werden müssten. Die Rolle der Intellektuellen wurde aufgewertet. Damit stellte sich aber auch das Problem, diese neuen Eliten in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur politisch unter Kontrolle zu halten.
Für einen liberalen Kurs stand in den 1980er Jahren vor allem der neue Parteichef Hu, der zugleich mit marktwirtschaftlichen Reformen auch eine politische Demokratisierung befürwortete. Den Gegenpol bildete nach der Ausschaltung der letzten verbliebenen Altmaoisten die Veteranenströmung um den Wirtschaftsfachmann Chen Yun, der vor den gefährlichen sozialen Folgen einer zu schnellen und unkontrollierten Entfesselung der Marktkräfte warnte. Ideologisch agitierten diese "Konservativen" gegen "Verwestlichung", "bürgerliche Liberalisierung" und "geistige Verschmutzung". Deng unterstützte auf wirtschaftlichem Gebiet die Liberalen, politisch eher die Konservativen.
In der Bewegung von 1989 standen an vorderster Front tatsächlich StudentInnen mit in der Grundtendenz liberalen, anti-bürokratischen, allerdings wenig kohärenten Forderungen: Vor einer "Freiheitsstatue" aus Pappmaché wurde die Internationale gesungen. Die von manchen AktivistInnen eher widerwillig akzeptierte Präsenz von ArbeiterInnen, teilweise mit Mao-Bildern und Mao-Bibeln, fand in den westlichen Medien keine Beachtung. Ihr Protest richtete sich gegen die Folgen der wirtschaftlichen Liberalisierung. Der linke Politologe Wang Shaoguang spricht von einem Zusammentreffen zweier Bewegungen mit divergierenden Interessen, die im Widerstand gegen die politische Klasse zusammentrafen. Die meisten Todesopfer waren in den Arbeitervierteln rund um den Tian'anmen-Platz zu verzeichnen, wo die Bevölkerung sich den anrückenden Panzern in den Weg stellte. Bis dahin waren zur Auflösung unerwünschter Demonstrationen stets die parteiloyalen Arbeitermilizen eingesetzt worden. Dies wurde 1989 gar nicht erst versucht. Es stand zu befürchten, dass die Milizen sich weigern würden, gegen ArbeiterInnen vorzugehen.
Dem 4. Juni folgte eine politische Eiszeit. 1992 jedoch gab Deng nach seiner medienwirksam inszenierten Reise in die kapitalistischen "Sonderwirtschaftszonen" des Südens grünes Licht für eine Fortsetzung der Wirtschaftsreformen.
Die Modernisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft erfordert eine Verrechtlichung sozialer Beziehungen und eine Versachlichung der Politik. WissenschaftlerInnen und Kulturschaffende unterliegen keinen ideologischen Vorgaben mehr. Der Nationale Volkskongress entwickelte sich von einer Akklamationsveranstaltung zu einem Parlament, in dem kontroverse Debatten und echte Abstimmungen stattfinden. Das neue Medium Internet, das trotz fortbestehender Zensur nicht zentral steuerbar ist, hat ein neues Niveau der Information und Kommunikation geschaffen. Kein himmlischer Friede lässt sich mehr propagandistisch vorgaukeln: Soziale Konflikte lassen sich nicht mehr ideologisch verdrängen. Die Politik versucht heute, Rahmenbedingungen für eine zivile Austragung von Interessengegensätzen zu schaffen.
Die KP verteidigt auf dem Lande den Status quo
Besonders prekär war lange Zeit die Lage der WanderarbeiterInnen, die seit Mitte der 1980er Jahre als neues Proletariat vom Land in die neuen Wachstumszentren strömten. Ihre Mobilität stand im Widerspruch zu Regelungen, die eine volle Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte nur am Heimatort erlaubten, so dass sie nicht einmal der staatlichen Einheitsgewerkschaft beitreten konnten. Hier sind inzwischen Verbesserungen erfolgt; Mindestlöhne und soziale Grundsicherungen sollen Verelendungstendenzen aufhalten. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit bestehen aber nach wie vor enorme Diskrepanzen.
Auch die traditionell privilegierten ArbeiterInnen der alten industriellen Kernsektoren sind in Bedrängnis geraten: Seit 1997 wurden die Staatsbetriebe marktwirtschaftlich umstrukturiert, teilweise auch privatisiert, was Arbeitsplatzverluste zur Folge hatte. In den "roten" Industriezentren artikuliert sich Protest vor allem über Mao-Nostalgie, sehr zur Freude des linken Parteiflügels, der seit der Jahrtausendwende wieder mit deutlich oppositionellen Tönen auf sich aufmerksam macht.
Das Thema Arbeitsrecht hat in den letzten Jahren breiten Raum in der öffentlichen Diskussion eingenommen. Dabei kam Widerstand gegen die Verbesserung der Rechtssituation von Lohnabhängigen nicht nur von chinesischen Privatisierungsgewinnern und Neoliberalismus-Lobbyisten, sondern auch von ausländischen Investoren. Andererseits ist gerade die Verwaltung der Sonderwirtschaftszone Shenzhen, die Anfang der 1980er Jahre zur frühkapitalistischen Keimzelle des Wirtschaftsbooms wurde, mit beachtlichen Vorstößen zur Stärkung der gewerkschaftlichen Interessenvertretung hervorgetreten. Für das Werben der Politik um Vertrauen stehen Pressemeldungen wie ein Bericht der Nachrichtenagentur Xinhua vom 4. April 2009 über einen Protestmarsch von 1.000 TextilarbeiterInnen aus der nordchinesischen Provinz Hebei gegen Privatisierungen und Stellenabbau, der zur Entlassung des verantwortlichen Betriebsparteisekretärs führte.
Der Konflikt mit der wohl größten Tragweite für die Zukunft der Volksrepublik China ist jedoch der zwischen der Landbevölkerung und den bürgerlichen Eliten, die bäuerliche Proteste für Forderungen nach Privatisierung des Grundeigentums vereinnahmen. In der Landwirtschaft ist seit 1980 das "Haushalts-Verantwortlichkeitssystem" an die Stelle der dirigistischen Kollektivwirtschaft getreten. Das den Gemeinden gehörende Land wird Bauernfamilien zur eigenverantwortlichen Nutzung zur Verfügung gestellt. Die Schwachstelle dieses Systems liegt im unzureichenden Schutz der Besitzrechte der Dorfgemeinschaften. Korrupte Lokalverwaltungen beschlagnahmen immer wieder Ländereien, um sie lukrativer an Investoren zu verpachten. Liberale Intellektuelle sehen die angemessene Lösung des Problems in einer Übertragung der vollen Eigentumsrechte an die bäuerlichen NutzerInnen. Dabei würde eine solche Privatisierung erst recht den Ruin der Kleinbauernwirtschaft und die Proletarisierung der Landbevölkerung beschleunigen. Als linke Alternative wird die rechtliche Stärkung der Dorfgemeinschaften und die Förderung moderner Genossenschaften diskutiert. In dieser brisanten Frage vermag die Partei nur den Status quo zu verteidigen: Eine Privatisierung steht offiziell nicht zur Debatte - ihre Folgen wären unkontrollierbar und würden auf das Ende des "Sozialismus chinesischer Prägung" in der Version von Deng Xiaoping hinauslaufen. Genossenschaften werden gerne gesehen, aber man meidet Verlautbarungen, die "kollektivistisch" wirken könnten.
Die KP Chinas, die sich inzwischen nicht mehr nur als "Avantgarde der Arbeiterklasse", sondern als dem Wohl der Nation verpflichtete Volkspartei und "dreifache Vertretung" der "fortgeschrittenen Produktivkräfte", der "fortschrittlichen Kultur" und der "Interessen der überwiegenden Mehrheit des Volkes" versteht, hat es in den letzten 20 Jahren gelernt, sich zu modernisieren, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft zu bewältigen und sich den Konsens unterschiedlicher Interessengruppen zu sichern - auch wenn es ihr größte Mühe bereitet, dem eigenen Apparat zivilisiertes und rechtsstaatliches Verhalten beizubringen. Mit einer systemkritischen Aktionseinheit aus akademischem Nachwuchs und ArbeiterInnen wie 1989 auf dem Tian'anmen-Platz ist derzeit nicht zu rechnen - eine gemeinsame programmatische Grundlage hätte sie heute noch weniger als damals. Dennoch unterliegt der 4. Juni 1989, ebenso wie Maos Kulturrevolution, nach wie vor einem Tabu. Intellektuelle diskutierten das Thema unlängst in einem Kolloquium. Auch unter Mitgliedern der Akademie der Sozialwissenschaften werden offen bürgerlich-liberale Ansichten vertreten. Im Seminarraum ist alles möglich, solange es folgenlos bleibt.
In den USA sind inzwischen postum die Memoiren von Zhao Ziyang erschienen, der nach seiner Entmachtung die letzten anderthalb Jahrzehnte seines Lebens unter Hausarrest verbrachte. Der ehemalige Parteichef zeigt sich hier als Befürworter von Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie. Ob letztere in China die von jener hervorgerufenen Konflikte besser zu schlichten imstande wäre als etwa im benachbarten Thailand, scheint fraglich.
Henning Böke