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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 540 / 19.6.2009

Große Unruhe, kleine Unruhe

WanderarbeiterInnen in China zwischen Revolte und Krise

Anfang 2009 gingen Millionen chinesischer WanderarbeiterInnen nach Fabrikschließungen und Entlassungen aus den Städten zurück aufs Land. Eine temporäre Rückwanderung ist an sich nicht neu. Zwischen ihren Jobs in der Stadt besuchen die WanderarbeiterInnen ihre Familie, erholen sich kurzzeitig im Dorf, manche erledigen auch Landarbeit. Andere haben nicht mehr gelernt, Äcker zu bestellen und Vieh zu hüten. Sie wollen in der Stadt leben, permanent niederlassen dürfen sie sich aber dort nicht. Das verhindert das Registrierungsgesetz ("hukou"), das die chinesische Bevölkerung seit den 1950er Jahren in Stadt- und LandbewohnerInnen spaltet.

Die Geschichte der aktuellen Migration in China ist gerade mal 30 Jahre alt. Bis Ende der 1970er Jahre verhinderte eine strikte staatliche Kontrolle die Landflucht. Der Urbanisierungsgrad blieb mit unter 20 Prozent konstant niedrig (heute fast 50 Prozent). Die Massen auf dem Land mussten Überschüsse für den sozialistischen Industrialisierungsprozess schaffen und nur die Minderheit der städtischen ArbeiterInnen kam in den Genuss der "Eisernen Reisschüssel", der vom Staat garantierten sozialen Versorgung von der Wiege bis zum Sarg. Auf dem Land hatten die Menschen Anspruch auf ein Stück Acker bzw. wurden Mitglied einer Volkskommune, mit minimaler sozialer Absicherung. Die Bedingungen auf dem Land waren (und blieben) wesentlich schlechter als in den Städten.

Mit dem Umbau der sozialistischen Planwirtschaft ab Ende der 1970er wurden die Volkskommunen aufgelöst und Landnutzungsrechte an bäuerliche Familien vergeben. Die landwirtschaftliche Produktivität stieg an, mit ihr die ländliche Überbevölkerung. Die ersten jungen LandbewohnerInnen zogen in die Städte und neuen Industriezentren. Das Regime vergab vorübergehende Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen an LandbewohnerInnen, die einen Arbeitsvertrag in der Stadt nachweisen konnten. Bis heute ähnelt die Situation der WanderarbeiterInnen in den Städten der außereuropäischer MigrantInnen in der EU, mit allen Problemen: Ausschluss von vielen öffentlichen Dienstleistungen, Kontrolle durch Polizei und Behörden, Illegalisierung und mögliche Abschiebung.

In 30 Jahren 200 Millionen WanderarbeiterInnen

Die Niederschlagung der Tian'anmen-Bewegung 1989 ebnete den Weg für weitere Reformen, Industrialisierung und Massenwanderung in den 1990er Jahren. Ab 1992 öffnete die KPCh das Land für ausländische Investitionen und begann den entscheidenden Angriff auf Kombinate und "Eiserne Reisschüssel". Ihre Interessen trafen sich mit denen des internationalen Kapitals: Nachdem die Profite in den Industriemetropolen in den Arbeiterkämpfen der 1960er und 1970er Jahre unter Druck geraten waren, wich das Kapital in periphere Regionen aus (Brasilien, Südkorea...). In den 1980ern gab es dort große Arbeiterunruhen, so dass eine erneute Verlagerung der Produktion, ein "räumlicher fix" (David Harvey), notwendig wurde: Jetzt wollte das Kapital die "billige" Arbeitskraft Chinas ausbeuten.

Mit Hilfe ausländischer Investitionen und des staatlich orchestrierten Ausbaus der Exportindustrien wurde China in den kommenden Jahren zum "Fließband der Welt" und entwickelte sich bis heute zur weltweit drittgrößten Volkswirtschaft, zum global Player mit zunehmender ökonomischer, politischer und auch militärischer Macht.

Für die Industrialisierung wurden massenhaft neue Arbeitskräfte gebraucht. Die KPCh organisierte den Nachschub, indem sie die Migration ankurbelte. Der Einsatz der WanderarbeiterInnen hat für das ausländische Kapital wie auch für das chinesische Regime den Vorteil, dass sie diesen nicht dieselben Bedingungen bieten müssen wie städtischen ArbeiterInnen. Die WanderarbeiterInnen arbeiten, wohnen und essen in den Fabriken und Wohnheimen und bekommen einen Lohn, der ansonsten nicht zum Leben in der Stadt reicht. Gleichzeitig können die WanderarbeiterInnen als Drohung und Druckmittel gegen die im Sozialismus "privilegierten" städtischen ArbeiterInnen eingesetzt werden. Ab 1997 wurden vor allem kleine und mittlere Kombinate demontiert oder geschlossen, über 50 Millionen städtischer ArbeiterInnen entlassen.

Die Zahl der WanderarbeiterInnen stieg bis heute auf geschätzte 200 Millionen, in etwa je zur Hälfte Männer und Frauen. Zum Teil sind sie ständig in der Stadt oder unterwegs, mit seltenen Besuchen "zu Hause" (FabrikarbeiterInnen). Es gibt aber auch saisonale Wanderung mit zwischenzeitlicher Landarbeit (Bauarbeiter). In der Regel sind WanderarbeiterInnen junge Leute aus den ländlichen Regionen des chinesischen Hinterlandes, die mit 16 oder 17 Jahren in nahe Kleinstädte oder in die Exportzonen und Großstädte der Ostküste ziehen.

Dort machen die WanderarbeiterInnen alle schlecht entlohnten, dreckigen, langweiligen und gefährlichen Jobs: in Fabriken, auf dem Bau, als Sexarbeiterinnen und Hausangestellte, in Hotels, Restaurants, Wachdiensten, als KleinhändlerInnen. Ihre Arbeitsbedingungen sind geprägt von einer Mischung aus sozialistischem Disziplinierungsregime und tayloristischen Produktionsmethoden ("Fabrikdespotismus"), niedrigen Löhnen, Lohnrückständen, langen Arbeitstagen, Stress und Übermüdung, Unfällen und giftigen Arbeitsumgebungen, schlechten Wohnheimbedingungen und schlechter Verpflegung. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen Sweatshops und hochmodernen Fabriken, sklavereiähnlichen Verhältnissen und relativ hohen Löhnen für ArbeiterInnen mit besonderen Fähigkeiten.

Die erste Generation der WanderarbeiterInnen, die in den 1980er oder 1990er Jahren in die Städte und Industriezonen kam, musste sich erst zurechtfinden. An den ersten beiden Kampfzyklen der Reformära war sie kaum beteiligt: den Streiks und Mobilisierungen in den Städten in den 1980er Jahren mit der Zuspitzung 1989; und den Bewegungen gegen Entlassungen und die Umstrukturierung der Kombinate in den Rostgürteln Ende der 1990er Jahre.

Die zweite Generation beginnt zu kämpfen

Die zweite Generation der WanderarbeiterInnen begann, sich zu wehren. Auslöser der Konflikte kann alles sein, was den ArbeiterInnen stinkt: Die Ohrfeige des Vorarbeiters, Ungeziefer im Kantinenessen, Stromausfall im Wohnheim, das Ausbleiben der anstehenden Lohnzahlung. Oft sind es gar nicht die beschissenen Bedingungen an sich, sondern eine Verletzung der Würde der ArbeiterInnen, die das Fass zum Überlaufen bringen.

Ab 2003 stieg die Zahl der Kämpfe, vor allem dort, wo viele ArbeiterInnen zusammen schuften und ihre Durchsetzungsmacht größer ist: in der Fabrik, auf dem Bau. Sowohl formal legale Konflikte nahmen zu (Vorsprachen bei der staatlichen Arbeitsbehörde, Petitionen, Gerichtsverfahren) als auch "illegale" Kampfformen: Sabotage, Bummelstreiks, Arbeitsniederlegungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Blockaden. Oft beginnen die Kämpfe mit Aktionen im Betrieb, mit konkreten Forderungen nach Verbesserungen. Wenn das nicht erfolgreich ist, gehen die ArbeiterInnen zur Arbeitsbehörde und verlangen, dass sie in ihrem Sinne eingreift. Da die Arbeitsbehörde Teil des lokalen Staates ist und damit den Kapitalisten nahe steht, bringt das meist nichts ein. Das gilt auch für die lokale Gerichtsbarkeit, an die sich manche ArbeiterInnen danach wenden. Viele Konflikte enden hier, weil den ArbeiterInnen die finanziellen Mittel und der lange Atem fehlen, die sie hier bräuchten. Aber etliche Auseinandersetzungen eskalieren auch, führen zu Streiks, in manchen Fällen zu Randale und Polizeieinsätzen.

In den Konflikten bilden sich auf betrieblicher und lokaler Ebene AktivistInnen heraus. Sie lernen aus der Dynamik der Kämpfe, der Konfrontation mit Managern und Staatsvertretern. "Große Unruhe bringt große Lösung, kleine Unruhe bringt kleine Lösung", sagen sie: Wer sich durchsetzen will, muss so viel Unruhe stiften, dass der Staat einspringt und eine Lösung herbeiführt. Sie wissen, was sie wagen können und was nicht, welche Kampfformen zu einer gewollten Eskalation führen und welche zur entschlossenen Repression seitens des Staates.

Die offene politische Organisierung ist weiter blockiert und die meisten Streiks finden nur in einem Betrieb statt. In manchen Fällen überwinden die ArbeiterInnen aber den "zellularen Aktivismus" (Ching Kwan Lee). Es kommt zu Kämpfen, bei denen Leute von Konflikten in anderen Städten hören und dann selbst loslegen ("copycats", wie bei den TaxifahrerInnen 2008) und Domino-Streiks in mehreren Fabriken eines Industriegebiets. Aber das sind bisher Ausnahmen.

Neuer Sprengstoff durch die Krise?

Die WanderarbeiterInnen konnten mit den Kämpfen zwischen 2005 und 2008 etwa 30 Prozent höhere Löhne durchsetzen, begünstigt durch eine Arbeitskräfteknappheit. Das Regime weiß, dass bloße Repression keine willige Arbeitskraft erhalten kann. Seit den Erfahrungen mit den Bewegungen der städtischen ArbeiterInnen nach 1997 hat es seine Rhetorik verändert und spricht von "Harmonischer Gesellschaft". Es versucht, den sozialen Sprengstoff zu entschärfen, um seine Macht zu erhalten. Die Mittel dazu sind Zugeständnisse und Versprechungen, der Einsatz der staatstreuen Gewerkschaften, Schlichtungs- und Petitionsverfahren.

Mit der Krise, mit Fabrikschließungen und Entlassungen haben sich die Vorzeichen verändert. In den Exportzonen sind die Jobaushänge abgelöst worden von Miet- und Kaufanzeigen für Fabrikflächen und Wohnheime. Die Zahl der arbeitslosen WanderarbeiterInnen soll heute zwischen 20 und 40 Millionen liegen. Dazu kommt wachsende Unterbeschäftigung, Tagelöhnerarbeit, Kleinstselbstständigkeit. Die Löhne sind um 20 Prozent gefallen. Viele Firmen, die gar nicht von der Krise betroffen sind, drücken ebenso Löhne und Bedingungen und die Nichteinhaltung der Arbeitsgesetze nimmt zu.

Die Frage der Rückwanderung ist weiter offen. Eine Umkehrung der Urbanisierungstendenz ist unwahrscheinlich, zu groß ist der Unterschied zwischen dem Lebensniveau auf dem Land und in der Stadt. Zwar sind viele WanderarbeiterInnen Anfang 2009 (wie jedes Jahr vor dem chinesischen Neujahrsfest) in die Dörfer zurückgekehrt, aber dort finden sie auch keine Arbeit und haben keine Perspektive. Auf dem Land gibt es viele Probleme: Die Auspressung durch die lokale Parteimafia, Landvertreibung und Armut führen zu Kämpfen und Aufständen. Viele ArbeiterInnen sind schon wieder auf Wanderschaft.

2008 und Anfang 2009 hat die Zahl der Petitionen, Gerichtsverfahren, Streiks und Demonstrationen weiter zugenommen. Noch mehr als bisher geht es um Lohnrückstände, um Abfindungen nach Entlassungen. Der Staat reagiert weiter mit Versprechungen, Drohungen und Repression. Wie lange das eine Welle "großer Unruhe" verhindern wird, ist offen.

Ralf Ruckus