Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 540 / 19.6.2009

Schneller, höher, weiter dem Abgrund entgegen

Eine Debatte um Wachstumslogik tut Not

Die Linke steht der derzeitigen Wirtschaftskrise bisher relativ konzeptlos gegenüber. Das ist kein Zufall, sondern die Folge einer jahrzehntelangen Vermeidung unangenehmer Diskussionen. Gerne wird übersehen, dass die aktuelle Krise nicht nur existenzielle ökonomische, sondern auch ebenso existenzielle ökologische Aspekte hat. Nur wer das anerkennt, wird begreifen, dass ihre Ursache das Festhalten am Wachstum ist. Der Wachstumsgedanke der Moderne ist in den Köpfen der Linken aller Schattierungen genauso verankert und unhinterfragt wie in denen der KapitalismusanbeterInnen. Damit zu brechen, bringt uns zu alten Fragen, aber auch zu neuen Ufern.

Wenn wir heute nach Lösungswegen aus dieser doppelten Krise suchen, sollten wir zu Beginn einen kurzen Blick zurückwerfen. Vor mehr als drei Jahrzehnten, genauer im Herbst 1973 in der ersten sogenannten Ölkrise, betrat neben einer fulminanten Überakkumulations- und Energiekrise des Kapitalismus die ökologische Krise zum ersten Mal die Medienwelt der bürgerlichen Gesellschaft. Der Club of Rome hatte Anfang der 1970er Jahre die Aufsehen erregende Studie "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlicht. Darin wies er auf die Endlichkeit der fossilen Brennstoffe und mineralischen Ressourcen hin. Des Weiteren warnten die WissenschaftlerInnen vor einer drohenden Bevölkerungsexplosion und den ökologischen Verheerungen infolge des wachsenden weltweiten Konsums im Zuge des sich verbreiternden Wohlstandes.

In einem bemerkenswerten Aufsatz "Zur Kritik der politischen Ökologie" fasste Hans Magnus Enzensberger die damalige Auseinandersetzung um die neue Wissenschaft Ökologie zusammen und wies auf deren kapitalismuskritische Defizite hin. Enzensberger hob den "Klassencharakter" der damaligen Ökologiedebatte hervor: "Erst seitdem auch die Wohnviertel und die Lebensverhältnisse der Bourgeoise den Umweltbelastungen ausgesetzt sind, die der Industrialisierungsprozess nach sich zieht, hat die ökologische Bewegung eingesetzt. Was ihre Propheten mit Schrecken erfüllt, ist weniger die ökologische Verelendung, die bereits seit Menschengedenken herrscht, als deren Verallgemeinerung." (Kursbuch 33/1973) Enzensberger bezog sich dabei ausdrücklich auf die ökologischen Verheerungen, die der Manchesterkapitalismus des 19. Jahrhunderts für die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse anrichtete und die 100 Jahre von der bürgerlichen Welt ignoriert wurden.

Klimawandel und Kapitalismus

35 Jahre später stehen wir vor einem ähnlichen Phänomen. Das kapitalistische Weltsystem hat es im Zuge der weltweiten Neuaufteilung der Arbeit verstanden, die ökologisch miserabelsten Gewerke in die Länder des Trikonts zu verlagern, wie das Abwracken ausgemusterter Schiffe an den Stränden von Bangladesh, die Gewinnung von Bauxit auf Borneo oder die Produktion hochgiftiger Computerteile in den Sweatshops an der chinesischen Ostküste. Wir hier in den Metropolen arbeiten in gläsernen Fabriken und lassen hochwertige Premium-Autos in staubfreien Fabrikhallen zusammenbauen. Schäumende Flüsse, Fischsterben, schwefelhaltiger Kohlestaubregen, Pseudokrupp in den Braunkohleregionen - all das gehört der Vergangenheit an und ist aus dem Bewusstsein nicht nur der Bourgeoisie, sondern auch der ArbeiterInnen verflogen.

Der Kapitalismus duldet keinen Stillstand. Wachstum und Expansion sind seine Grundlage. Diese ständige Expansion hat dazu geführt, dass der Kapitalismus im Übergang zum 21. Jahrhundert endgültig zu einem Weltsystem geworden ist. Ehemalige realsozialistische Staaten wie Russland und China sind zu kapitalistischen Weltmächten aufgestiegen, einige ehemalige "Schwellenländer" wie Brasilien oder Indien sind zu "Global Player" geworden und versuchen das Wachstum nachzuholen, das ihnen bisher verwehrt blieb.

In China, Indien und Brasilien wiederholt sich jetzt im Zeitraffer die Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus in Europa. Kennzeichnend dafür ist eine ungeheure Ausbeutung und Verarmung des Proletariats und der Kleinbauern, die in die Fabriken, die Sweatshops oder die Megaslums der Megastädte getrieben werden. Kennzeichnend ist aber auch der Raubbau an der Natur, die Zerstörung, die Verwüstung ganzer Landstriche und Flüsse - ganz so wie es Marx vor 150 Jahren beschrieb: "Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen des Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter."

Der kapitalistische Akkumulationszwang verhindert einen effektiven Klimaschutz. Stößt mit dem Klimawandel und dem zu Ende gehenden Ölzeitalter der globale Kapitalismus an seine eigenen Grenzen, die Grenzen seines Wachstums? Einleuchtend ist, dass die Spirale von steigendem Ressourcenverbrauch und Raubbau der Natur so nicht endlos weitergehen kann. Schon heute werden 1,4-mal so viele Waren produziert, wie die Erde in einem Jahr abbauen bzw. regenerieren kann.

Der Wachstumsimperativ kann nur noch schwerlich durch immer neue Wellen von Expansion und neokolonialer Unterwerfung eingelöst werden - einfach weil schon fast alle Territorien erobert und alle Völker der Erde dem Diktat des Kapitals ausgeliefert sind. Es gibt kein unendliches Wachstum in einer endlichen Welt. Die globale Konkurrenz zwischen den KapitalistInnen macht das ganze System gesellschafts- und klimapolitisch irrational. Die Versuche, diesen Wachstumszwang durch ein virtuelles Wachstum am Finanzmarkt zu kompensieren, gingen auch nur eine begrenzte Zeit gut. Jetzt haben wir dafür den Kladderadatsch.

Eine andere Variante scheint auch nicht erfolgversprechender zu sein: Einige NGOs, viele Grüne und LinksparteianhängerInnen sprechen von einer notwendigen "Effizienzrevolution", um Ressourcen "nachhaltiger" zu verwerten. Sicherlich lässt sich damit das Ende des Erdölzeitalters ein paar Jahrzehnte hinauszögern. Doch auch eine noch so effiziente und umweltschonende Technologie kann die aktuelle strukturelle Krise des Kapitalismus nicht überwinden. Denn jede neue Technologie im Dienste des Kapitals ist eine von der kapitalistischen Verwertungslogik bestimmte Technologie. Die Technologie dient dazu, den Produktionsprozess, die Verwertung der natürlichen Ressourcen und der Ressource Mensch zu optimieren. Wissenschaft, Forschung und Technik und ihre Anwendungen in Form von Maschinen sind nicht neutral. Sie können daher auch nicht einfach in den Dienst zur Rettung des Planeten und des Klimas gestellt werden. Auch noch so tolle Ökosegelfrachter und hocheffektive Eisenbahnen heben die Absurdität der globalen Warenzirkulation nicht auf. Hier wie in vielen anderen Sektoren der kapitalistischen Ökonomie gilt: Weniger ist mehr, lokal geht vor global.

Kritik des kapitalistischen Industriesystems

Die Linke in der Metropole war in der Vergangenheit - ganz in der marxistischen Tradition - technikfixiert und entsprechend fortschrittsgläubig. Anstatt die technologische Entwicklung wie bisher einfach wertfrei hinzunehmen, müsste sich die heutige radikale Linke dazu aufraffen herauszufinden, wie eine von der kapitalistischen Verwertungslogik unabhängige Wissenschaft und Technologie aussehen kann. Auch wenn diese zum jetzigen Zeitpunkt nur vage zu skizzieren sind, ist ein generelles "zurück zur Natur" wohl ausgeschlossen.

Aber es geht nicht nur um eine Technologiekritik und Kritik des kapitalistischen wie realsozialistischen Industriesystems. Auch ein grüner Kapitalismus, wie er jetzt von Thomas L. Friedman u.a. im Schlepptau von Barack Obama gefordert wird, bedeutet nur die Verlängerung der alten Misere - und ist ein Widerspruch in sich: Solange der in der kapitalistischen Produktionsweise systematisch eingebaute Widerspruch zwischen Gebrauchswert- und Tauschwertproduktion nicht aufgehoben wird, solange wird die Gesundheit für die ArbeiterInnen und die Ökologie immer nachrangig bleiben. Der Doppelcharakter der Arbeit, die unbedingte Notwendigkeit für jeden Kapitalisten Mehrwert zu produzieren, führt in immer wieder neue ökologische Katastrophen - global gesehen. Wir beobachten seit zwei Jahrzehnten, dass die Umweltverschmutzung externalisiert wird und ein profitabler Exportschlager für die Metropolenländer geworden ist. Die Chemieindustrie produziert ihren Dreck hauptsächlich in den Ländern des Trikonts, die industrielle Landwirtschaft verpestet mit Pestiziden auf riesigen Gensojafeldern Wasser und Boden usw.

In der Klimadebatte und bei den neusten Vorschlägen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise offenbart sich, dass der Klassencharakter der Ökologiefrage nach wie vor besteht; mit dem Unterschied zu den 1970er Jahren, dass jetzt auch die führenden GewerkschafterInnen und Teile der Linken den herrschenden Diskurs mittragen. Vorrangig geht es (wie in der "Agenda 2009", vgl. ak 539) um Umverteilen, Entprivatisieren und Hebung der Massenkaufkraft sowie Arbeitsplatzerhalt. Klimawandel und die damit verbundenen sozialen Folgen für die Armen kommen eher in Nebensätzen vor, von einer radikalen Wachstums- und Konsumkritik ganz zu schweigen.

Wir sollten uns noch mal vor Augen führen, zu welch absurden Blüten die bisherige Wachstumspolitik geführt hat. Nur ein Beispiel: Daimler, Porsche und BMW verdienten jahrelang mit den spritfressenden Sport Utility Vehicles (SUV) die höchsten Profite und konnten damit auch ihren Stammbelegschaften gute Löhne zahlen. Jetzt schreiben alle großen deutschen Autokonzerne rote Zahlen und begehen "Lohnraub". (junge Welt, 29.4.09) Ganz offensichtlich haben hier die deutschen ManagerInnen und Gewerkschaften die Veränderungen auf dem Weltmarkt verschlafen. Ganz offensichtlich sind Autos grundsätzlich in vielerlei Hinsicht umweltschädlich. Also weg damit!

Warum haben so viele Angst vor Minuswachstum?

GesellschaftskritikerInnen wie André Gorz, Ivan Illich oder Barry Commoner entwickelten in den 1970er Jahren Vorschläge für eine global gerechtere und ökologische Gesellschaft jenseits von Profit und Kommerz. Gorz schrieb etwa in "Ökologie und Freiheit": "Die Verbindung zwischen ,mehr` und ,besser` ist aufgelöst. ,Besser` kann durch weniger erreicht werden. Es lässt sich besser leben, wenn weniger gearbeitet und weniger konsumiert wird, vorausgesetzt, es werden dauerhaftere Dinge hergestellt, die weder Schäden noch unüberwindliche Knappheit erzeugen, sobald alle zu ihnen Zugang haben. Allein das verdient, gesellschaftlich produziert zu werden, was für einen jeden auch dann etwas Gutes bleibt, wenn alle in dessen Genuss kommen - und umgekehrt."

Gorz formuliert hier so etwas wie einen Kant'schen Imperativ für den guten Konsum. Natürlich geht das weltweit nur jenseits der kapitalistischen Verwertungs- und Wachstumslogik. Aber wir hier in der Metropole können schon heute damit anfangen, ohne uns der Illusion hinzugeben, damit die Klimakrise bewältigen zu können, wie manche NGOs es propagieren. Wir müssen einfach anfangen, Ideen zu sammeln, nach praktischen Ansätzen suchen und Experimente wagen, um soziale Lernprozesse zu initiieren. Die Mittel wären Entschleunigung, Dezentralisierung der Produktion, Überschau- und Kontrollierbarkeit durch die ProduzentInnen und KonsumentInnen.

Ein solidarischer Umgang mit den knappen Ressourcen und Gebrauchswerten geht schon heute und wird zum Teil in den Ländern des Südens regional praktiziert. Vor allem in den indigenen Gemeinden ist ein System verbreitet, das wir hier in Europa bis ins 19. Jahrhundert als Allmende kannten: Auf Dorfgemeinschaftsflächen werden Äcker bestellt, Wiesen und Wälder gemeinsam benutzt und gepflegt.

Auch in den Ländern des Nordens wäre Minuswachstum mit Wohlstandsgewinn möglich. Beispiel Rüstungsindustrie: Beim britischen Rüstungskonzern Lucas Aerospace wurden in den 1970er Jahren Vorschläge von der Belegschaft erarbeitet, wie eine Waffenschmiede in einen gebrauchswertorientierten Betrieb umgewandelt werden kann. Ähnliches wäre auch im Bereich der Mobilität möglich. Zwar wären die gemeinsame Nutzung von Autos und der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs mit einem Minuswachstum für die KapitalistInnen verbunden, der Wohlstandsgewinn, hier in Form von gestiegener Lebensqualität, wäre dafür unvergleichlich. Mir scheint die Angst vor Minuswachstum ist nur unserer mangelnde Fantasie und Experimentierfreudigkeit geschuldet.

Hauke Benner