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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 540 / 19.6.2009

Neue Kämpfe am "Fließband der Welt"?

Ein Interview über Chinas umherschweifende ProduzentInnen

Ralf Ruckus ist in den vergangenen Jahren mehrfach nach China gereist, um die Situation der schnell wachsenden Schicht junger ArbeiterInnen, die vom Land in die Städte wandern, direkt vor Ort kennen zu lernen. Er hat ein Buch über die "Dagongmei", die Arbeiterinnen in Chinas Weltmarktfabriken, übersetzt, das 2008 auf deutsch erschienen ist. (1) Darüber wird er im Juni auch auf mehreren Veranstaltungen sprechen (siehe ak-Kalender). Im Frühjahr war Ralf Ruckus erneut in China. Mit ak sprach er über die Kämpfe der WanderarbeiterInnen, die Folgen der Krise und die politischen Perspektiven einer zunehmend rebellischen ArbeiterInnenschicht.

ak: 1926 - lange vor dem Triumph der KP China über die konservativen Kräfte im Land - überraschte Mao Zedong auch seine eigenen ParteigenossInnen mit einer Klassenanalyse, in der er Proletarier, Kleinbauern (die große Mehrheit der chinesischen Bevölkerung) und das Kleinbürgertum zu den Verbündeten der Kommunistischen Partei im Kampf gegen die Bourgeoisie rechnete. Nach dieser Rechnung standen 395 Millionen "Verbündeten" maximal 5 Millionen "Gegner" der Revolution gegenüber. Maos Schlussfolgerung: "Ein Niesen von 395 Millionen genügt, um sie hinwegzufegen. 395 Millionen - vereinigt euch!" Wie würdest du die Klassenverhältnisse in China heute beschreiben?

Ralf Ruckus: Sozial betrachtet als umgedrehtes "T". Das unterscheidet sich kaum von den Verhältnissen in den 1920er Jahren, aber die Zusammensetzung hat sich verändert. Von den über 1,3 Milliarden BewohnerInnen heute gehören kaum 100 Millionen zur herrschenden Klasse (Parteikader, Unternehmer, hohe Beamte/Militärs, Manager) und der "Mittelschicht" (höhere Angestellte, Selbstständige mit mittlerem Einkommen, Teile der Intelligenzija). Die anderen sind Bauern, ArbeiterInnen, kleine Angestellte, Arbeitslose, wobei der Anteil der ArbeiterInnen im Vergleich zu den 1920ern deutlich gestiegen, der Anteil der Bauern gesunken ist.

Maos Analyse ginge aber aus zwei Gründen nicht auf: Erstens sind die potenziellen nicht unbedingt auch tatsächliche "Gegner". Bei all den Unruhen der letzten Jahre müssen wir sehen, dass das Regime nicht zerbröckelt ist und vor allem die Zentralregierung durchaus noch Legitimation hat und das Vertrauen vieler Bauern und ArbeiterInnen genießt. Zweitens ziehen die potenziellen "Gegner" nicht unbedingt an einem Strang. Heute finden die Kämpfe des städtischen Proletariats, die der Bauern und die der WanderarbeiterInnen meist getrennt statt, auch weil die Erben Maos geschickt sind in der Spaltung der Konflikte.

Im Frühjahr warst Du wieder einige Wochen in China. Was hat sich im Vergleich zu Deinen letzten China-Aufenthalten verändert?

Noch 2008 hatten die meisten Leute die Zuversicht, dass sich ihr Leben weiter verbessern wird. Das gilt insbesondere für Leute unter 35. Sie hatten bis dahin keine längere Krise erlebt. Die Löhne der WanderarbeiterInnen an der Ostküste waren in den Jahren davor deutlich gestiegen. Viele wechselten häufig den Job, auf der Suche nach besseren Bedingungen, Arbeitsangebote gab ja es meist genug. Jetzt ist es schwierig, überhaupt einen Job zu finden. Wer einen hat, akzeptiert oft niedrigere Löhne und schlechtere Bedingungen. In den Städten konnten sich bis 2008 immer mehr Angestellte und gelernte ArbeiterInnen Wohnungen oder gar Autos kaufen. Auch sie spüren die Krise jetzt.

Allerdings greifen auch die Gegenmaßnahmen der Regierung: Die Krise sei eine Angelegenheit des Westens und für China eine Chance, weiter aufzuholen, verkündet sie. Stimulus-Programme für die Wirtschaft ergänzt sie durch Ausgabe von Discount-Vouchern für den Kauf von Konsumartikeln. So hoffen jetzt viele ArbeiterInnen, dass es schnell wieder besser wird.

Bis zu 200 Millionen Chinesinnen und Chinesen wandern zur Arbeit vom Land in die Stadt. Welche Versprechen bzw. welche Hoffnungen lassen all diese ArbeiterInnen wandern?

Sie wollen Geld verdienen, um ihre Familie zu unterstützen, für Schulgebühren, medizinische Behandlungen, den Hausbau im Dorf, die Versorgung der Alten. Der Lohn für WanderarbeiterInnen in den Ostküstenstädten ist deutlich höher, als das Einkommen, das sie in ihrer Heimat erzielen könnten, und wichtiger Bestandteil des Familieneinkommens. Aber die jungen LandbewohnerInnen wollen auch am "modernen" Leben teilnehmen, der Enge des Dorfes entkommen, sich Klamotten, Make-up und Mobiltelefon leisten können, neue Freundschaften finden, "ihren Horizont erweitern", wie sie selbst sagen. Für die jungen Frauen geht es zudem darum, der patriarchalen Gängelung im Dorf zu entfliehen, der Kontrolle (meist) männlicher Familienmitglieder über ihr Leben und ihre Sexualität. Sie wollen ihr Leben selbst gestalten können.

Erfüllen sich ihre Hoffnungen?

Ja und nein. Einerseits geht es ihnen besser als ihren Eltern und Großeltern, die noch das einfache Leben auf dem Land zur Zeit des Maoismus - oder gar den Hunger der 1960er Jahre - erlebt haben. Aber sie müssen sich Lohn, Konsumartikel und größere Kontrolle über das eigene Leben bitter erkaufen, mit miesen Arbeitsbedingungen, langen Überstunden, Gängelung durch die Chefs. Viele sind nach einigen Jahren krank und ausgelaugt.

Gibt es Aufstiegschancen für WanderarbeiterInnen?

Nur sehr begrenzt. Die meisten bleiben auf miesen Jobs hängen. Wenige schaffen es, sich besondere Qualifikationen anzueignen und entsprechend mehr zu verdienen, andere werden VorarbeiterInnen. Aber sie haben wesentlich schlechtere Chancen als die städtischen ArbeiterInnen, die leichteren Zugang zu Technikerschulen und Ausbildungsplätzen haben und die auch eher als VorarbeiterInnen eingestellt werden.

Viele WanderarbeiterInnen haben auch den Traum, einen eigenen Laden zu eröffnen, in der Stadt oder im Dorf. Wenige können das umsetzen, und dann laufen die Geschäfte meist schleppend, viele gehen bankrott.

Gibt es gemeinsame Erfahrungen der WanderarbeiterInnen, die ihr Bewusstsein prägen?

Viele sehen sich zunächst als Leute aus bestimmten ländlichen Herkunftsgebieten, die in der Stadt arbeiten und dort ausgegrenzt und diskriminiert werden. Aber eine gemeinsame Erfahrung ist die Ausbeutung. Wer in Fabriken und auf Baustellen, in Haushalten und Restaurants schuftet, sieht sich als Objekt ständiger Kontrolle, Antreiberei und Unterdrückung. Das setzt sich fort in der Beziehung zum Staat, vor allem den lokalen Behörden. Diese Erfahrungen schaffen das Gefühl, gemeinsame Gegner zu haben, gegen die sie sich wehren müssen, die "Chefs" oder "Kapitalisten". In den Kämpfen der WanderarbeiterInnen wird deutlich, dass ihr Bezug auf Familie und ländliche Herkunft zurücktritt und sie sich immer mehr als ArbeiterInnen wahrnehmen.

In welchem Verhältnis stehen die WanderarbeiterInnen zum alten städtischen Proletariat in China?

Wir können zwei Teile des städtischen Proletariats unterscheiden: Durch die Demontage der Kombinate ab Mitte der 1990er Jahre sind Millionen städtischer ArbeiterInnen aus der lebenslangen Anstellung und Sozialversorgung rausgefallen. Viele gehören heute zu den städtischen Armen und konkurrieren mit den WanderarbeiterInnen um dieselben Jobs, z.B. als Hausangestellte, in Fabriken, als Kleinselbstständige. Manche vermieten auch ihre Wohnung in der Innenstadt an WanderarbeiterInnen, bessern so ihre kleine Rente auf. Daneben gibt es die "Gewinner" der Reformen, jüngere ArbeiterInnen, die als Techniker ein besseres Einkommen haben oder sich erfolgreich selbstständig machen. Sie beschäftigen Wanderarbeiterinnen als Hausangestellte oder in ihren Kleinunternehmen (wie Restaurants). In beiden Gruppen sind Ressentiments und rassistische Einstellungen gegenüber WanderarbeiterInnen, den sogenannten "Bauernarbeitern" (mingong), verbreitet, auch wenn sich die Situation in den letzten Jahren gebessert hat. Die WanderarbeiterInnen spüren die Ausgrenzung und Diskriminierung. Die Leute aus der Stadt treten ihnen als Vorarbeiter, Chefs und Vermieter gegenüber. Zuweilen entstehen im Widerstand gegen die Ausbeutung in den Fabriken und auf dem Bau aber auch Allianzen.

Ähnelt die chinesische Wanderarbeit damit nicht in vielerlei Hinsicht der "GastarbeiterInnen"-Migration in Westeuropa seit den späten 1950er Jahren? Auch in Westeuropa waren die ArbeitsmigrantInnen rechtlichen und materiellen Benachteiligungen ausgesetzt. Dennoch lockte das Versprechen vom leicht verdienten Geld bzw. der Traum, sich durch die Arbeit in den Fabriken Europas in der Heimat eine eigenständige Existenz aufzubauen. Als sich die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr und sozialen Aufstieg zerschlug, wurden die ArbeitsmigrantInnen, die fordistischen Massenarbeiter, zum zentralen Subjekt in den Fabrikkämpfen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre.

Ja, das können wir vergleichen. Auch viele sogenannte GastarbeiterInnen waren "Bauernarbeiter", auch sie wurden prekär beschäftigt und untergebracht, weil geplant war, dass sie nach Erledigung des Jobs wieder in ihre Heimat zurückkehren. Ob wir die gegenwärtigen Kämpfe in China später als "den WanderarbeiterInnen-Kampfzyklus" bezeichnen können, werden wir sehen. In jedem Fall sind die WanderarbeiterInnen heute ein zentrales Subjekt der Kämpfe, neben den Bauern.

Verbinden sich diese Kämpfe - beabsichtigt oder unbeabsichtigt - mit einem politischen Projekt?

Das ist schwierig und spannend zugleich. Die Repression jeder politischen Organisierung durch KP und Staat blockiert ein solches Projekt. ArbeiterInnenmacht entsteht auf betrieblicher Ebene, abhängig von der konkreten Arbeit und den Bedingungen in einem Betrieb und Sektor. Diese Macht hat in den letzten Jahren in vielen Bereichen deutliche Lohnerhöhungen durchgesetzt und zwang das Regime, neue Vermittlungsinstanzen für Arbeitskonflikte zu schaffen und die Arbeitsgesetze zu verbessern. Aber diese ArbeiterInnenmacht lässt sich bisher nicht in Repräsentanz übersetzen und institutionalisieren. Zwar versucht das Regime, die Staatsgewerkschaften als Vertretungsinstanz auch der WanderarbeiterInnen zu etablieren, aber die versagen dabei, weil die meisten WanderarbeiterInnen die Staatsgewerkschaften zu Recht weiter für eine Institution des Regimes halten.

Wer sind (potenzielle) Bündnispartner der neuen ArbeiteraktivistInnen?

Den ArbeiteraktivistInnen und -militanten bieten sich zwei mögliche Bündnispartner an, die beide nur aus wenigen Leuten bestehen, aber in der politischen Debatte durchaus Bedeutung haben: Labor-NGOs und neo-maoistische Gruppen (wobei die sich nicht so glatt trennen lassen). Beide begreifen sich als "antikapitalistisch", kritisieren den "Neoliberalismus" des chinesischen Regimes, unterstützen Streiks und andere Kämpfe von ArbeiterInnen.

Die Labor-NGOs sind in der Regel internationalistisch, haben Unterstützung von linken Gruppen und Organisationen in Hongkong und im Ausland. Sie organisieren Beratungszentren, greifen in Kämpfe ein, helfen mit Rat und Geld, tragen Informationen über Konflikte weiter. So weit, so gut. Aber einige von ihnen setzen auf institutionalistische Lösungen. Manche wollen die Staatsgewerkschaften umkrempeln und zur Vertretung der WanderarbeiterInnen machen, andere auch "unabhängige" Gewerkschaften als Vertretungsinstanz etablieren. Sie verkennen die strukturelle Einbindung von Gewerkschaften im Sinne eines Klassenkompromisses in den kapitalistischen Staat, ob in China oder im Westen, ihre integrierende und befriedende Funktion. Diese NGOs setzen auch auf die Verbesserung der Arbeitsgesetze und bleiben staatsfixiert, verlangen von der Regierung die Überwachung der Einhaltung dieser Gesetze.

Und die "Neo-MarxistInnen"?

Die neo-maoistischen Gruppen sind Teil der sogenannten "Neuen Linken". Sie gibt es innerhalb und außerhalb der KPCh, an einigen Universitäten, in einigen NGOs und in Communities der ehemaligen StaatsarbeiterInnen. Sie sind näher an der staatlichen Macht und weiter weg von den Arbeiterkämpfen als die meisten Labor-NGOs. Problematisch ist ihr positiver Bezug auf einen Kulturrevolutions-Maoismus, der die Probleme der ArbeiterInnen und Bauern in der Zeit bagatellisiert oder ignoriert. Statt die Geschichte des "Großen Sprungs nach vorn", der Kulturrevolution wie auch der Tian'anmen- und anderer Bewegungen ausgehend von den konkreten Bedingungen der ProletarierInnen und Bauern in China zu analysieren, versuchen sie, Mao zu rehabilitieren, indem sie schicke Mao-Zitate anbringen, die seine linken Tugenden beweisen sollen, oder seine Popularität unter den proletarischen und bäuerlichen Massen als Beleg seiner Führergröße sehen.

Gefährlich werden solche Rehabilitierungsversuche, wenn sich Neo-Maoisten als "linke" Alternative zur "neo-liberalen Regierung" etablieren wollen, und dabei Konzepte für einen starken ("sozialeren") chinesischen Staat vorlegen. Damit ist die Richtung vorgegeben: Integration und Befriedung der Kämpfe, Ausrichtung auf materielle Forderungen, Unterstützung eines starken, regulierenden Staates und letztendlich eines imperialistischen Chinas (gegen die USA).

Was schlägst Du vor?

Die Herausbildung von Klassenmacht zu fördern. Beide Gruppen verkennen - absichtlich oder nicht-, dass nicht Organisationen oder deren Einfluss auf den Staat Klassenmacht ausmachen, sondern die Fähigkeit der ArbeiterInnen, Kämpfe zu führen, die sich nicht befrieden lassen. In diesen Kämpfen können ArbeiterInnen die Kontrolle über ihre eigenen Geschicke übernehmen und Formen sozialer Organisierung jenseits kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse - wie auch sozialistischer Partei- und Avantgarde-Modelle - probieren. Ob und wie sie das tun, müssen wir uns jeweils anschauen. Entscheidend ist, die Fähigkeit zum Kämpfen zu unterstützen und der Repräsentation und politischen Einbindung der Kämpfe in ein gewerkschaftlich-etatistisches Projekt eine Absage zu erteilen.

Wie organisieren sich die WanderarbeiterInnen bisher?

Viele WanderarbeiterInnen organisieren ihr tägliches Leben weiter nach Herkunftsgruppen (Provinz, Bezirk, Dorf, Familie), vergleichbar mit MigrantInnen-Communities in Europa. Aber in den Betrieben und Wohnheimen schließen sie Freundschaften außerhalb der Herkunftsgruppen. So ist es ihnen möglich, Kämpfe gemeinsam vorzubereiten, Forderungen zu bestimmen, eine Taktik festzulegen, Aufgaben zu verteilen, Kontakte zu Medien herzustellen. Die meisten Kämpfe sind nicht "spontan" oder "unorganisiert", sondern basieren auf Erfahrungen und Organisierungsformen, die gewachsen sind und sich weiterentwickeln. Die Wohnheime werden zum Terrain dieser Organisierung, Wanderung und hohe Fluktuation der ArbeiterInnen sorgen für die Zirkulation der Erfahrungen. Mobiltelefone, Internet-Chatrooms und Emails werden für den Austausch von Informationen und Erfahrungen genutzt.

Welche Strategie verfolgt die Zentralregierung/die KPCh gegenüber den Kämpfen der WanderarbeiterInnen?

Ganz klassisch: Zuckerbrot und Peitsche. Bisher wurden in vielen Kämpfen von Unternehmen und Staat Zugeständnisse gemacht, Löhne erhöht, Bedingungen in den Fabriken, auf den Baustellen, in den Wohnheimen verbessert. Mit der Krise wurde der Spielraum enger: Die Regierung hat im November 2008 jede weitere Erhöhung des Mindestlohns verboten, ein wichtiger Bezugspunkt für die Lohnhöhe vieler ArbeiterInnen. Allerdings übernehmen lokale Staatsfonds in einigen Städten die Lohn- und Abfindungszahlungen für bankrotte Unternehmen, um eine soziale Zuspitzung zu verhindern.

Die Peitsche besteht in Angriffen auf und Verhaftungen von AktivistInnen. Immer wieder schicken lokale Unternehmer und Kader Schläger, machen Repressionsorgane Durchsuchungen und willkürliche Befragungen, werden Leute, die bei staatlichen Behörden Petitionen überreichen wollen, festgenommen und verprügelt, andere zwangspsychiatrisiert.

Durch die Krise haben bisher geschätzte 20 Millionen WanderarbeiterInnen ihren Job verloren. In einem Artikel auf der Webseite gongchao.org stand, es ergäben sich zwei Szenarien, falls die Krise anhält: a) Die WanderarbeiterInnen wollen nicht mehr zurück aufs Land, bleiben in den Städten und müssen sich dort - eventuell zusammen mit den städtischen Armen - Alternativen für Einkommen und Unterkunft aneignen oder erkämpfen. b) Die ArbeiterInnen gehen zurück aufs Land, haben dort aber keine Perspektive. Die ländliche Krise würde sich durch die ausbleibenden Zahlungen aus der Stadt verschärfen. Auch hier könnte eine explosive Situation entstehen, zumal die ArbeiterInnen mittlerweile Kampferfahrungen aus ihren Arbeitsstätten mit aufs Land bringen. Wie würdest du nach Deinen jüngsten Eindrücken die Entwicklung einschätzen?

Im Mai 2009 war das noch nicht entschieden. Viele WanderarbeiterInnen waren im Frühjahr zurück im Dorf, sind aber wieder losgezogen, weil sie für die Landarbeit nicht gebraucht werden, der Familie auf der Tasche liegen, keinen Job finden. Sie gehen in die nahen Kleinstädte oder zurück in die Exportzonen, versuchen sich mit Gelegenheitsjobs oder Kleinhandel durchzuschlagen, leben von Erspartem. Noch warten viele ab, was sich weiter tut. Wenn sich die Lage nicht verbessert, sind soziale Zuspitzungen wahrscheinlich.

Wir werden sehen, ob das zu einer Destabilisierung des Regimes führen wird. Seit Jahren erleben wir viele kleine Wellen von Arbeiterunruhen, die große, entscheidende Welle hat es nicht gegeben. Vielmehr hat sich das Regime seit 1989 als erstaunlich stabil erwiesen und geschicktes Krisenmanagement betrieben. Sollten aber Land- und Stadtrevolten zunehmen und unbeherrschbar werden, könnte das Regime die Unterstützung der Mittelklasse und Intelligenzija, den Gewinnern des Reformprozesses, verlieren. Die weitere Entwicklung wäre dann offen.

Du sagst, es bestehe die Chance, dass sich in dieser Krise eine tatsächlich globale ArbeiterInnenklasse formieren könnte. Wie meinst Du das?

Wir erleben derzeit eine Zunahme sozialer Konflikte und Kämpfe in vielen Regionen der Welt. Die Bedingungen der beteiligten ProletarierInnen und Bauern unterscheiden sich stark, innerhalb einer Region wie zwischen Ländern des Nordens und Südens. Aber die Krise ermöglicht uns, ein Zusammenwirken und -kommen der Kämpfe überhaupt wieder zu denken. Die weltumspannende soziale Revolte Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre fand auch auf Grundlage vollkommen unterschiedlicher sozialer Bedingungen statt. Heute haben wir den Vorteil, dass es mehr Kommunikationswege und Austauschmöglichkeiten gibt als damals. Viele Menschen sind in der Lage, eigenständig an Informationen über die Situation und sozialen Auseinandersetzungen ranzukommen, von Erfahrungen in anderen Regionen zu lernen. Die sogenannte Anti-Globalisierungsbewegung Anfang dieses Jahrzehnts hat Möglichkeiten (und Grenzen) globaler Bezüge und Mobilisierungen aufgezeigt. Noch ist nicht ausgemacht, ob es tatsächlich eine Globalisierung sozialer Kämpfe und darin die Herausbildung einer Weltarbeiterklasse geben wird, schließlich sind auch andere, erschreckende Perspektiven sozialer Ausgrenzungs- und Verteilungskämpfe denkbar. Aber ich halte es für wichtig, die Ansätze einer solchen Klassenformierung zu unterstützen und stark zu machen, auch gegen die nationalistischen und staatsfixierten Programme der reformistischen Linken.

Wo siehst Du Verbindungen zwischen der Situation der chinesischen WanderarbeiterInnen und der Situation der Erwerbstätigen hier?

Verbindungen gibt es überall, wo ArbeiterInnen hier und dort in derselben Produktionskette stecken. Und Leute hier konsumieren eine Menge Sachen, die in China produziert werden. Ich denke, wichtig ist jetzt, hier mehr Informationen über die Bedingungen und (!) Kämpfe von ArbeiterInnen in China zirkulieren zu lassen. Die Krise bietet eine Chance, weil viele Leute gerade direkt betroffen sind und über Fragen der Krise und Ausbeutung diskutieren.

Wie kann sich eine klassenkämpferische Linke hier zu Lande Deiner Meinung nach auf Bewegungen in China beziehen?

Die erste Frage ist, ob es eine klassenkämpferische Linke schafft, sich überhaupt auf Bewegungen, Arbeitskämpfe etc. zu beziehen, auch hier zu Lande. Bisher halten sich viele aus den sozialen Auseinandersetzungen raus oder versuchen ihnen von außen Forderungen aufzustülpen, wie die Grundeinkommenskampagne, Organizing u.a.m. Die zweite Frage ist dann, wie wir Bezüge herstellen zu den sozialen Kämpfen in China. Ich sehe hier ein großes Bedürfnis, die Kämpfe in China zu verstehen, aber wir sind gerade zu wenige, um das auch in direkte Aktionen umzusetzen. Ein Beispiel: Im Dezember 2008 gab es bei einer Osram/Siemens-Tochter in Foshan in der Provinz Guangdong einen Streik gegen Lohnkürzungen. Streik und Demonstration der ArbeiterInnen wurden von der Polizei brutal aufgelöst, einige ArbeiterInnen festgenommen, etliche entlassen. Gleichzeitig brummt die Fabrik, und die ArbeiterInnen müssen täglich 12 Stunden schuften, oft 7 Tage die Woche. Die Fabrik stellt Energiesparlampen her, auch ein Ausblick auf das, was uns der "grüne" Kapitalismus bringen wird. Hier gibt es also einen direkten Bezug zu Konflikten hier, bei Osram/ Siemens und darüber hinaus.

Ralf, vielen Dank für das Gespräch!

Anmerkung:

1) Pun Ngai/Li Wanwei: Dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Assoziation A, Hamburg-Berlin 2008.