Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 540 / 19.6.2009

Kommerzialisierung des Gesundheitswesens

Risiken und Nebenwirkungen wettbewerbsorientierter Kostendämpfung

Die gesundheitspolitische Debatte ist geprägt von drei Diskursen: von Rationierungsdiskursen der Ärzteschaft, von Ökonomisierungsvorwürfen der Krankenhausärzte und -ärztinnnen an die Adresse der GesundheitspolitikerInnen und von Privatisierungsängsten der Krankenhausgewerkschaften, die sich durch die Auswirkungen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise auf die kommunalen Haushalte ergeben. Diese Konfliktlinien sind Ausdruck eines gesundheitspolitischen Paradigmenwandels. Die wettbewerbsgetriebene Ökonomisierung der meisten Entscheidungsprozesse im Gesundheitswesen untergräbt die solidarischen Grundlagen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und bewirkt eine Kommerzialisierung des deutschen Gesundheitssystems.

In kapitalistischen Geld- und Arbeitsgesellschaften ist "Geld das wahre Gemeinwesen" (Marx). So überrascht es wenig, dass monetäre Ziele von ÄrztInnen für deren Handeln keineswegs unwichtig sind. Der hippokratische Eid, das ärztliche Berufsethos und die ärztliche Berufsordnung stellen Regulative dar, welche die PatientInnen vor negativen Auswirkungen ökonomischer Eigeninteressen von ÄrztInnen schützen sollen. Denn PatientInnen sind von den ÄrztInnen in vielfacher Hinsicht abhängig.

Die Gefahr der Ausnutzung von Patienten-Ängsten durch die ökonomischen Interessen der Ärzteschaft ist also keineswegs neu. Neu ist hingegen, dass die Gesundheitspolitik diese wohlverstandenen ökonomischen Handlungskalküle zum Ansatzpunkt der politischen Steuerung des (öffentlichen) Gesundheitssystems macht. Gewinn- und Kostenkalküle wurden seit etwa 15 Jahren zu den entscheidenden Handlungsparametern von ÄrztInnen, Krankenhäusern und Krankenkassen gemacht. Ihre Beachtung soll zu einer effizienten und qualitativ hochwertigen öffentlichen Krankenversorgung in Arztpraxen, Krankenhäusern und Apotheken führen - unter den Bedingungen der Begrenzung der öffentlichen Mittel (Budgetierung) einerseits und einer zunehmenden administrativen Kontrolle der Leistungen andererseits. Diese auf den ersten Blick paradox erscheinende "wettbewerbsbasierte Kostendämpfungspolitik" in der öffentlichen Krankenversorgung der GKV führt zu einem "ökonomischen Re-Framing" der kognitiven und affektiven Entscheidungsgrundlagen der meisten AkteurInnen im deutschen Gesundheitswesen.

Versicherte als MarktteilnehmerInnen

Seit Januar 1997 haben alle Versicherten der GKV die Möglichkeit, ihre Krankenkasse zu wechseln. Obwohl in der Folge nur wenige Versicherte einen Kassenwechsel vollzogen haben, wurde der eigene Beitragssatz zum wichtigsten Handlungsparameter der Krankenkassen. Insbesondere die "teuren" Krankenkassen haben, wie die (meisten) Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOKs), auf vielfältige Weise versucht, ihre Kosten zu senken, z.B. indem sie im Arzneimittelmarkt auf Generika statt auf Originalpräparate setzten. "Teuer" waren die AOKs bis dahin nur, weil sie bis zur Einführung des Kassenwettbewerbs dazu verpflichtet waren, alle Pflichtversicherten aufzunehmen und sich nicht wie viele Ersatzkassen die "günstigen Versicherungsrisiken", also gut verdienende und (meist) gesündere Angestellte der Mittelschicht, herauspicken konnten.

Nicht mehr nach dem Gesundheitsfonds: Nunmehr gibt es einen vom Staat festgelegten bundeseinheitlichen Beitragssatz für alle gesetzlichen Krankenkassen. Der produziert zwar "Gewinner-" und "Verliererkassen", setzt aber dem "Rosinenpicken" durch unterschiedliche Beitragssätze ein Ende. Zentraler Handlungsparameter der Krankenkassen ist jetzt der Zusatzbeitrag, der direkt von den Versicherten eingezogen werden muss (begrenzt auf ein Prozent seines Bruttoerwerbseinkommens), wenn die Krankenkassen mit den durch den Gesundheitsfonds zugewiesenen Mitteln nicht auskommen. Der Zusatzbeitrag signalisiert - der Theorie nach - den Versicherten, dass ihre Krankenkasse ineffizient ist, und soll sie dazu veranlassen, zu einer effizienteren Krankenkasse zu wechseln. Die Krankenkassen werden demnach alles daran setzen, den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Sei es durch Streichung von freiwilligen Satzungsleistungen oder - so ist es politisch gewollt - durch die Organisation einer günstigeren Leistungsversorgung vermittels Verträgen mit billigeren Leistungsanbietern.

Auch die Versicherten sollen zur "Kostendämpfung" im Gesundheitssystem angeregt werden und können beispielsweise Selbstbehalte und Prämienzahlungen als Wahlleistungen wählen, die bei einer geringen Inanspruchnahme des Gesundheitssystems am Ende des Jahres zur Rückerstattung der Prämie führen können. Krankenkassen versuchen mit diesen Instrumenten verstärkt, sich "gute Versicherungsrisiken" (jung, gesund, wohlhabend) abzuwerben. Die Praxisgebühr und die erhöhten Zuzahlungen sollen ebenfalls verhindern, dass PatientInnen "zu viel Leistungen" nachfragen und dadurch "zu hohe Kosten" verursachen.

Niedergelassene ÄrztInnen können in Deutschland entweder gesetzlich und privat versicherte oder nur privat versicherte PatientInnen behandeln. Allerdings ist diese Trennung gesundheitspolitisch unter Beschuss. Bislang konnten niedergelassene ÄrztInnen für die gleiche Leistung privat versicherten PatientInnen höhere Geldbeträge berechnen. Dies ist zwar nach wie vor so, aber die Unterschiede wurden durch die jüngsten Reformen angeglichen. Obwohl ÄrztInnen zu den einkommensstärksten Berufsgruppen gehören, laufen sie Sturm gegen diese Politik und kritisieren auch die generelle Kostendämpfungspolitik als "gesetzlichen Zwang zur Rationierung".

Doch diese Argumentation ist nicht überzeugend, denn zunächst einmal steht jedem GKV-Versicherten das im fünften Sozialgesetzbuch normierte "medizinisch Notwendige" zu. Das ist keine irgendwie verstandene Minimalversorgung, sondern stellt einen sozialrechtlichen Anspruch dar, den die ÄrztInnen zu erfüllen haben.

Wenn manche ÄrztInnen und private Krankenversicherungen behaupten, mit der GKV könnte nur die Basisversorgung, nicht aber auch die beste Versorgung für PatientInnen geleistet werden, so ist das schlicht falsch. Tatsache ist allerdings, dass auf Grund der staatlichen Kostendämpfungspolitik die auf GKV-Rechnung arbeitenden VertragsärztInnen insgesamt geringere Steigerungsraten haben. In Verbindung mit der neu beschlossenen Honorarreform für die GKVen führt dies zu einer Umverteilung innerhalb der niedergelassenen Ärzteschaft und "belastet" vor allem bislang sehr gut verdienende ÄrztInnen. Diese versuchen zunehmend, diese (relative) Einkommensunsicherheit durch die Anwerbung von (mehr) Privatpatientinnen oder die Ausweitung der privaten Leistungszahlungen auch bei gesetzlich Versicherten zu kompensieren. Hierfür werden sog. individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) angeboten, die nach Auffassung der Ärzteschaft "sinnvoll sind". Allerdings handelt es sich bei diesen IGeL um medizinische Leistungen, die auf Grund von (wissenschaftlich belegten) Zweifeln hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und wegen oder wegen der nicht vorhandenen medizinischen Notwendigkeit nicht von der GKV erstattet werden.

Zudem werden privat versicherte PatientInnen zum Teil auch mit unnötigen Leistungen umworben, was diese aber oft als "bessere Versorgung" wahrnehmen. In der Folge entstehen Wartelisten für gesetzlich Versicherte. Der Protest gegen gesetzlich verhängte Rationierungen durch die (niedergelassene) Ärzteschaft ist folglich unredlich und zielt darauf, einen gesetzlichen Basiskatalog zu etablieren, wodurch mehr Leistungen privat bezahlt werden müssten. Die auf dem jüngsten Ärztetag letztlich gescheiterte Forderung nach privater Vorauszahlung für alle PatientInnen ist ein weiteres Indiz dafür, dass manche ÄrztInnen die eigenen Einkommenssicherungsinteressen wichtiger nehmen als die Bedürfnisse gesetzlich versicherter PatientInnen.

Kommerzialisierung und Healthism gehören zusammen

Der Krankenhaussektor gilt in der GKV als größter Ausgabenposten. Deshalb wurde bereits 1993 ein striktes Budgetierungssystem eingeführt. Unter Rot-Grün kam es zu einer tief greifenden Reform. Es wurde ein neues Vergütungssystem eingerichtet, welches auf dem Prinzip beruht: Gleiches Geld für gleiche Behandlungsleistung. Trotz aller Schwierigkeiten und Einschränkungen im Detail soll fortan die gleiche Krankenhausbehandlung in einem Bundesland zu einem einheitlichen Preis vergütet werden. Seit seiner Einführung in den Jahren 2003/2004 hat dieses System bereits dazu geführt, dass viele Krankenhäuser ihre Kosten senken mussten, um weiterhin "am Markt" bleiben zu können. Der hiermit verbundene und politisch gewollte Zwang zur Kostensenkung führte nicht nur zu betrieblichen Restrukturierungen (Outsourcing, Entlassungen, Ende der Tarifeinheit der Länder), sondern auch zu Fusionen und Konzernbildungen von öffentlichen Krankenhausträgern und der wachsenden Bedeutung privater Klinikkonzerne.

Die jüngsten Tarifsteigerungen für KrankenhausärztInnen führten zu finanziellen Engpässen bei vielen Krankenhäusern, weil diese nur zum Teil auf das Krankenhausbudget angerechnet werden. Ebenso wie die niedergelassene Ärzteschaft versuchen daher zahlreiche Krankenhäuser, zusätzliche Einkommensquellen zu mobilisieren. Das geschieht z.B. durch die Aquise privat zahlender, wohlhabender Kundschaft mittels üppig ausgestatteter Luxusabeilungen oder durch die Ausweitung von Private Public Partnerships in der (Teil-)Finanzierung von neuen Diagnose- und Behandlungstechniken. Auch die (materielle) Privatisierung eines öffentlichen Krankenhauses ist eine Option, wie z.B. die Privatisierung der vorher fusionierten Universitätskliniken von Marburg und Gießen gezeigt hat. Mit der auf die Kommunalhaushalte zurollenden Finanzkrise könnten solche Maßnahmen der Einkommenssicherung für viele Krankenhäuser zum letzten Strohhalm werden - trotz der in den jüngsten Konjunkturpaketen enthaltenen Milliarden für Krankenhausinvestitionen.

Die gesundheitspolitische Strategie, die vermeintliche "Kostenexplosion", die tatsächlich eine Erosion der Finanzierungsgrundlagen der GKV ist, durch mehr Wettbewerb in den Griff bekommen zu wollen, führt dazu, dass verstärkt einzelwirtschaftliche Ausweichstrategien zur Einkommenssicherung verfolgt werden. Die sozialrechtlichen Ansprüche der (gesetzlich versicherten) PatientInnen bleiben allerdings auf der Strecke, wenn die Leistungserbringer zunehmend die Einkommenssicherung in den Mittelpunkt ihrer (Be-)Handlungskalküle stellen.

Vor diesem Hintergrund bekommt die in Ärztekreisen oft zu hörende Forderung nach mehr gesundheitlicher Eigenverantwortung der Versicherten und der PatientInnen einen schalen Beigeschmack. Die in gesellschaftlichen Diskursen verstärkt zu vernehmende Individualisierung von sozial bedingten Erkrankungsrisiken ("selbst schuld") und die ärztliche Aufforderung zu mehr individueller Vorsorge ("Healthism") sind so gesehen nur die Kehrseite eines sich kommerzialisierenden Gesundheitswesens.

Kai Mosebach

Institut für Medizinische Soziologie, Frankfurt/Main