Demokratie von unten, Demokratie von oben
Eindrücke einer Reise nach Kabul
Es ist Montag Nachmittag, 14.20 Uhr; im Ghazi Olympiastadion von Kabul - der Ort, an dem die Taliban zur Zeit ihrer Regierungsmacht Strafurteile vollzogen und Frauen hinrichteten - sammeln sich etwa 15 junge Frauen und Mädchen und kleiden sich um. Pünktlich um 14.30 Uhr beginnt ihr Boxtraining. Sie haben zwei sehr gute Trainer, und einige Boxerinnen haben das Ziel, 2012 an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Parallel werden die Mädchen geschult in Methoden der Konfliktschlichtung und Friedensbildung. "Fighting for Peace" heißt das Programm, das vor allem vermittelt, dass Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen aktiv sein können.
Die jungen Boxerinnen übernehmen eine Vorbildfunktion. Ihr Kampf zur Veränderung der Gesellschaft fängt mit der regelmäßigen Teilnahme am Training an. Sie setzen sich damit über Rollentabus und Anfeindungen hinweg und trainieren so ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Sie machen Boxsport. Sie sind stark und selbstbewusst. Sie stellen sich Herausforderungen und können sich durchsetzen. Das ist ihr Weg, für Frieden zu kämpfen.
Eineinhalb Stunden später sitze ich in einer Runde mit zwei Frauen und zehn Männern eines Projekts für partizipatorisches Theater. Es soll Menschen bewegen, ihre Erfahrungen zu erzählen. Es gab Aufführungen unter anderem mit Prostituierten und mit Witwen sowie anderen Angehörigen von Kriegsopfern. (1)
Frieden erkämpfen, aber mit welchen Mitteln?
Die TheatermacherInnen, mit denen ich bei Tee und Gebäck zusammensitze, interessieren sich für antimilitaristische Aktivitäten in Deutschland. Die meisten von ihnen arbeiten in Menschenrechtsgruppen oder in der Beratung für demokratische Rechte. Wir reden über Berührungspunkte. Eine unter ihnen kontrovers diskutierte Frage ist, ob für eine Beendigung des Krieges andere Mittel als friedvolle sinnvoll sind. Jemand sagt, dass der Abzug des deutschen Militärs ein wichtiger Schritt wäre, der auch die USA mit ihrem Einsatz schwächen könnte.
Ein Anliegen ist den meisten meiner GesprächspartnerInnen gemeinsam: Die Kriegsverbrecher müssen vor Gericht gestellt werden. Die Warlords und die Fundamentalisten bis hin zu den Taliban sind weiter einflussreich, viele sitzen in der Regierung. Das muss aufhören, meinen sie. Solange die Verbrecher mit keiner Strafverfolgung rechnen müssen, könne es keine Zukunft geben. Eine Frau von der Revolutionären Frauenorganisation Rawa spricht von der "so called democracy", weil Islamisten in der Regierung sitzen, die sich noch vor wenigen Jahren ausdrücklich gegen Demokratie ausgesprochen haben, etwa Burhannudin Rabbani. Er habe sein Gesicht gewendet und mache nun im so genannten Demokratieprojekt mit, weil das den Erhalt seiner Macht sichere.
Über die 2007 gegründete Organisation Social Association of Afghan Justice Seekers lerne ich Zainab, Maryam, Sidiya und Zainab kennen. Diese vier Frauen unterschiedlichen Alters erzählen mir ihre Leidensgeschichten stellvertretend für die vielen Kriegsopfer und ihre Familien, die sich für Aufklärung und Gerechtigkeit einsetzen. Einige Erlebnisse werden im Zeitraffertempo und mit schützender Distanz, andere sehr detailliert und unter Tränen geschildert. Sie enden bei der Aufzählung der Namen der verantwortlichen Kriegsherren und der gesellschaftlichen Positionen, in denen diese heute sitzen. Am internationalen Tag der Menschenrechte im Dezember 2008 haben die vier Frauen vor der UN-Mission in Kabul gegen das im vergangenen Jahr erlassene Amnestiegesetz demonstriert. Ihre Forderungen nach Anklage aller Kriegsverbrechen der letzten 30 Jahre schließt dabei ausdrücklich die gegenwärtigen Verbrechen durch die NATO-Truppen ein.
Die Zahl der vom internationalen Militär getöteten ZivilistInnen nimmt stetig zu. Am 6. Mai 2009 gab es so viele zivile Tote durch einen US-Luftangriff wie nie zuvor seit Beginn der NATO-Militärintervention. Mehr als 150 Männer, Frauen und Kinder starben in Bala-Baluk in der Provinz Farah. Der Landwirtschaftsstudent Hemayon hat an diesem Tag 19 Angehörige verloren. Wie jeden Tag haben sie im Kabuler Studentenwohnheim über die Nachrichten geredet, gemeinsam getrauert und geweint. Ihre Trauer brauchte einen aktiven Ausdruck. So beschlossen sie, auf den Straßen Kabuls zu demonstrieren.
Auch Sifath studiert an der Kabuler Universität. Seit 2008 beteiligt sich Sifath an einem losen Kreis von zehn Studierenden, die über ihre Zukunftsvorstellungen debattieren. Unter ihnen sind junge Frauen und Männer aus den verschiedenen Regionen Afghanistans. Die Trennungslinien zu überbrücken sei nicht einfach, aber genau das sei wichtig, um nationale Einheit zu erreichen. Jetzt haben sie gemeinsam die Demonstration gegen die Bombardierungen und den Terror des US-Militärs organisiert. Weit über 1000 Studierende haben sich beteiligt - trotz des großen Risikos, von der Polizei beschossen und verletzt zu werden.
Keine Illusion in die afghanische Regierung
Das Neue an der Organisierung der Studierenden ist, dass sie dies ohne Aufrufe oder Beteiligung von Parteien und ohne einflussreiche Führungspersonen tun. Schlechte Führer gäbe es genug, sagen sie. Sie meinen, dass sie sich gegen zwei Terroristengruppen wehren müssen: gegen die Taliban und das NATO-Militär. Sie haben auch keine Illusion über die afghanische Regierung: Solange Kriegsverbrecher als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl anerkannt werden, sei diese Demokratie eine Farce. An den bevorstehenden Wahlen wollen sie sich nicht beteiligen.
Die Frauenrechtlerin Malalai Joya unterstützt die Haltung der Studierenden. Malalai zog 2005 als jüngste Abgeordnete ins afghanische Parlament ein und wurde 2007 nach kritischer Darstellung des verbrecherischen Hintergrunds vieler Abgeordneter suspendiert. Ihr wurden alle Geldzahlungen entzogen, sie ist ständigen Todesdrohungen ausgesetzt. Erst eine Stunde vor dem Treffen erfahre ich, wo ich eine Kontaktperson treffe, die mich das letzte Stück zu Fuß zu einem massiv gewachten Haus begleitet. Malalai wechselt ständig ihren Aufenthaltsort. Sie zeigt mir Bilder der Toten von Bala-Baluk. Viele haben große Verbrennungen. Es wird vermutet, dass weißer Phosphor zum Einsatz kam. Malalai betont, wie wichtig es sei, solche Dokumente zu sammeln, damit weder die alten noch die neuen Kriegsverbrechen vertuscht und geleugnet werden können.
Bei der Ausreise lerne ich eine Mitarbeiterin des Britischen Entwicklungsministeriums DFID am Flughafen Kabul kennen. Wir nehmen uns Plätze nebeneinander im Flugzeug. Sie ist "Governance-Beraterin" (2) und interessiert sich sehr für das, was ich in den Gesprächen erfahren habe - besonders jedoch für meine Kontakte. Es passt so genau zum neuen Ansatz ihrer Arbeit. Nach fast acht Jahren top-down Entwicklungsarbeit wurde erkannt, dass den Konzepten die lokale Anbindung fehlt. Sie waren auf politische Parteien und auf NGOs fixiert und müssen nun feststellen, dass der Regierung immer weniger Vertrauen entgegen gebracht wird. Die Bevölkerung hat kaum Möglichkeiten, auf die gesetzten Staatsstrukturen Einfluss zu nehmen, und die Mitarbeiterin des DFID befürchtet, dass die Entwicklung im Chaos enden wird. Deshalb wolle man nun auf die Prozesse setzen, die von unten und unabhängig entstehen. Der neue Begriff für die Zielgruppe ist "Political Society". Doch man wisse nicht, wie man an die jungen Leute, die gerade so viel in Bewegung setzen, herankommen könne.
Ich verweigere die Kontaktvermittlung. Ihre neuen Ideen klingen richtig, doch sie bleibt als Regierungsmitarbeiterin Teil einer Kriegsfraktion, die in engster zivil-militärischer Vernetzung agiert, wie sie selbst detailliert beschreibt. Ein gutes Beispiel hierfür ist ihr Kollege, mit dem sie die Unterkunft in Kabul teilt. Er war sechs Monate beim "PRT" (Provincial Reconstruction Team) im südafghanischen Helmand - als einzige Zivilperson. In diesen Wiederaufbauteams werden Projekte, wie der Bau von Schulen oder Brücken, vom Militär in Kooperation mit Hilfsorganisationen durchgeführt. Inzwischen verweigern immer mehr Organisationen die Zusammenarbeit, weil sie humanitäre Hilfe und militärische Strategie vermischt und so die Hilfsorganisationen zu potenziellen Angriffszielen macht.
Der Blick der professionellen Entwicklungs-StrategInnen
Meine Sitznachbarin erzählt, wie die gemeinsame Erfahrung der beengten Unterkunft eine enge Verbundenheit zwischen Soldaten und Aufbauhelfern entstehen lässt. Die zivilen Helfer erleben, wie Soldaten, deren Bekanntschaft sie gemacht haben, verwundet oder getötet werden. Sie empfinden das Los der Soldaten als das härtere und wollen diese entlasten, wo sie können. So erging es ihrem Kollegen, der ein Selbstmordattentat im PRT nur knapp überlebte. Zwei Soldaten hatten sich auf ihn geworfen, um ihn vor der Explosion zu schützen.
"Stabilität" lautete das Programmziel dieses Einzelkämpfers für Entwicklungsaufbau in Helmand. Erst nach der "Stabilisierung" der Region sollten weitere Wiederaufbaumaßnahmen folgen. Der Helfer stellte die Vorgehensweise nach seinem Einsatz massiv in Frage. Nun macht die Governance-Beraterin neue Konzeptvorschläge. Sie rät, die verschiedenen Ebenen des Wiederaufbaus von Anfang an miteinander zu verknüpfen. Bildung könne nicht erst in einer späteren Phase stattfinden, denn die ausgebildeten jungen Leute würden gebraucht. Doch ohne Perspektiven auf Einbindung seien sie eine potenzielle Gefahr für die Stabilität des Landes.
Die Vernetzung mit dem Britischen Militär stellt sie nicht in Frage, doch wiederholt betont sie die Unabhängigkeit des DFID von der Außenpolitik. Allein von der US-amerikanischen Vorgehensweise grenzt sie sich ab, weil sie ohne Konzept und von außen agiere. Doch auch ihr Blick bleibt derjenige einer Expertin, die von außen das Gute bringen will. Sie redet von "den Afrikanern", mit denen sie nicht mehr arbeiten möchte, weil sie Hilfsgelder einforderten ohne selber etwas aufzubauen. Dagegen sei "Asien" interessanter, die Menschen eigenwilliger und motivierter. "Die Afghanen" werden von ihr vor allem als unfähig und ungebildet porträtiert. Deshalb passen die politisch debattierenden Studierenden, die sich selbst organisieren und demonstrieren, wohl auch nicht ins Bild. Sie handeln jenseits der Kontrolle der professionellen "EntwicklerInnen", sind unberechenbar und - solange sie sich nicht als "Political Society" in die dominanten Entwicklungskonzepte einordnen - in ihren Augen eine Gefahr.
Doch das Mut machende Moment liegt genau in der Eigenständigkeit dieser neuen Bewegung, in einer Haltung, die umfassende Veränderungen erwartet - nicht in der Vereinnahmung durch Governance-Strategien. Die Frauenrechtlerin Malalai Joya drückt es so aus: "Die Studentendemonstrationen gegen die jüngsten Luftangriffe, die Proteste hunderter afghanischer Frauen, die gerade in Kabul stattfanden, zeigen, wie der Weg zu einer echten Demokratie in Afghanistan aussehen kann."
Mechthild Exo
Anmerkungen:
1) Mit "Krieg" sind hier sämtliche militärischen Konflikte der letzten 30 Jahre gemeint, die sowjetische Besatzung ebenso wie die Herrschaft der Taliban und anderer Kriegsherrn und die des NATO-Militärs.
2) Das Wort "Governance" beschreibt nicht nur die Regierung sondern auch das "Wie" des Regierens.