Arbeiten bis zum Tod
Die Rente, der Lohn und das Märchen von der demographischen Zeitbombe
Das Zusammenspiel der demokratischen Institutionen ist wieder perfekt: Die Zentralbank macht sich Sorgen um die Staatsfinanzen und schlägt die Rente mit 69 vor. Ökonomieprofessoren loben die Idee. Die Gewerkschaft protestiert lautstark. Die Regierung lehnt den Vorschlag ab. Und die Medien bereiten die Bevölkerung darauf vor, dass es irgendwann natürlich so kommen wird.
Die Bundesbank, die für die Stabilität des Geldes und des Finanzsystems zuständig ist, macht sich im Monatsbericht von Juli Sorgen um die staatlichen
Rentenausgaben. Wird das gesetzliche Renteneintrittsalter nicht bis 2060 auf 69 Jahre angehoben, so die "Währungshüter", dann wachsen die Löcher in der Rentenkasse. Das bedeute, dass Deutschland im Verhältnis zu seiner Wirtschaftsleistung immer mehr für das Auskommen der unproduktiven Alten ausgeben müsse. Stiegen dadurch die staatlichen Zuschüsse zur Rentenkasse, belaste dies die Staatsfinanzen. Stiegen dadurch die Beiträge zur Rentenkasse, wüchsen damit die "Lohnnebenkosten", was die Unternehmen belaste.
Im Interesse des Standortes fordert die Bundesbank daher, dass die Menschen später in Rente gehen. Denn damit zahlten sie länger in die Kasse ein und holten weniger raus. So weit, so schlecht, so scheinbar einleuchtend.
Politik und Gewerkschaften reagierten erwartungsgemäß ablehnend: "Das ist Quatsch", sagte Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD). "Der dümmste Vorschlag, den ich in den letzten Jahren gehört habe", hieß es von der Gewerkschaft ver.di. Die FDP fand, die Bundesbank solle "die Bürger nicht mit solchen Parolen verunsichern".
Die Rentner-Zeitung Die Welt (26.7.09) hingegen wies darauf hin, dass "die Bundesbanker nur eine Forderung formuliert haben, die unter Ökonomen gängig ist". Zum Beispiel beim Mannheimer Ökonomieprofessor Axel Bösch-Supan, der auch dem Arbeitgeber-Think-Tank Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zuarbeitet: "Ein höheres Renteneintrittsalter bringt mehr Entlastung für die Rentenversicherung als Beitragserhöhungen oder Leistungskürzungen", sagte Bösch-Supan. Die Medien stimmten zu: "Der Vorstoß der Bundesbank kommt im rechten Moment." (FAZ, 22.7.09) Die Süddeutsche (22.7.09) schränkte lau ein, die Bundesbank habe "die richtige Idee zum falschen Zeitpunkt".
Warum die Rentenkasse ein Problem hat, darüber herrscht seit Jahren Einigkeit: Schuld sei die "demographische Zeitbombe". Immer weniger produktive Junge müssten immer mehr unproduktive Alte durchfüttern. "Wir arbeiten immer weniger, beziehen immer länger Rente und produzieren immer weniger Kinder, die mit ihrer Arbeit wiederum unsere Rente finanzieren müssen." (Die Welt, 26.7.09) Schon an dieser Problemstellung stimmt fast nichts.
Umverteilung von Mangel statt gutes Leben im Alter
Stellen wir uns den Standort Deutschland als Dorfgemeinschaft vor (was er nicht ist, aber egal). Hier arbeiten die Jungen auf dem Feld, die Alten sitzen zu Hause, am Abend essen alle den Feldertrag auf. Nun gibt es immer mehr alte Konsumenten und immer weniger junge Produzenten. Das ist erstens nicht so schlimm, da es zugleich ja auch immer weniger Kinder gibt, die mitversorgt werden müssen. Schließlich ist ja Kindermangel. Zweitens: Sollte das Problem dennoch weiter bestehen, könnte man immer noch die Millionen aufs Feld schicken, die (aus unerfindlichen Gründen) "arbeitslos" sind.
Drittens - das ist am wichtigsten - ist es gar nicht entscheidend, wie viele Arbeitende auf eineN NichtarbeiterIn kommen. Das reine Zahlenverhältnis sagt nichts aus. Im Jahr 1900 kamen in Deutschland auf 100 Erwerbstätige 8,3 über 65-Jährige. 1950 waren es 14,3 und 1980 kamen auf 100 Arbeitende 23,3 Rentner. Diese Alterung konnte finanziert werden und gleichzeitig ein umfassender Ausbau des Sozialstaates. Warum?
Weil nicht die Zahl der Arbeitenden zählt, sondern wie viel sie produzieren. Und die Arbeit ist immer produktiver geworden. Wächst die Produktivität jedes Jahr nur um 1,25 Prozent, dann stellt jedeR Arbeitende in 50 Jahren 80 Prozent mehr her. Wäre Deutschland also eine große Dorfgemeinschaft, in der alle von dem leben, was produziert wird, dann wäre für alle genug da. Doch so funktioniert der Sozialstaat nicht.
Der Sozialstaat zwackt die Rente nicht von der Menge der produzierten Güter (Bruttoinlandsprodukt) ab. Sondern vom Lohn. Er zieht "an der Quelle" Lohnbestandteile ein - die Lohnnebenkosten - und zahlt damit Renten. Diese Praxis verdankt sich einer staatlichen Berechnung mit dem Lohn: Er ist stets zu niedrig. Für ein Leben nach der Arbeit ist er nicht vorgesehen. Schließlich ist der Lohn nur dazu da, die Arbeitskraft zu reproduzieren. Unternehmen zahlen nicht fürs Nichtstun.
Der kapitalistische Grundsatz, dass nur leben darf, wer auch lohnarbeitet, wird vom Sozialstaat nicht abgeschafft. Nur modifiziert. Der Staat greift in das Lohnsystem ein - aber nicht mit zusätzlichem Geld. Sondern nur mit seiner Macht: Da der Lohn in allen Einzelfällen nicht dafür reicht, fürs Alter vorzusorgen, konfisziert der Sozialstaat Teile des Lohns und verteilt sie an Rentner, Kranke, Arbeitslose. Was in allen Einzelfällen nicht funktioniert - der Lohn reicht fürs ganze Leben - soll mittels staatlicher Zwangsumverteilung für die Gesamtheit der Lohnabhängigen klappen. Das tut es auch. Aber schlecht. Denn der Sozialstaat streckt lediglich die knappe Lohnsumme. Was er umverteilt, sind Mangel und Armut.
Zwar könnte die Rentenkasse aufgefüllt werden, indem schlicht der Lohn erhöht wird. Doch das soll nicht sein. Schließlich konkurrieren alle Standorte über niedrige Arbeitskosten. Damit ist die Knappheit der Rentenkasse politisch durchgesetzter kapitalistischer Sachzwang und keine Folge "gebärunwilliger" Frauen oder ungenügender "Nettoreproduktionsraten" von Liebespaaren.
Der Sozialstaat hängt vom Lohn ab. Folge: Je mehr Leute Sozialleistungen wie Rente oder Arbeitslosengeld brauchen, umso knapper die Sozialkassen und umso weniger ist der Sozialstaat in der Lage, dieses Bedürfnis zu bedienen. Das ist kein "Dilemma" des Sozialstaates, sondern sein Konstruktionsprinzip. Da ist es kein Zufall, dass sich im Rentensystem aller kapitalistischen Großnationen immer größere Löcher auftun. Denn die Unternehmen schaffen durch Rationalisierung Millionen Arbeitslose. Niedriglohnjobs breiten sich aus und mit ihnen prekäre Arbeitsverhältnisse, bei denen nicht in die Sozialkassen eingezahlt wird. Die Arbeitskraft wird biegsam (lat.: flexibel) für die Bedürfnisse der Unternehmen gemacht. Dies spüren die ArbeiterInnen in Form von Entlassungen, sinkenden Einkommen, vermehrten "Erwerbslücken" im Arbeitsleben und leeren Sozialkassen.
Statt Lohnerhöhungen oder einer Vermehrung sozialversicherungspflichtiger Jobs findet die Regierung andere Lösungen für dieses Problem. Erstens: Senkung der "Lohnnebenkosten". Dass der Sozialstaat knapp bei Kasse ist, heißt heute, er ist zu teuer - fürs Kapital. Zur Lösung des Rentenproblems brauche es nicht höhere, sondern niedrigere Löhne und Sozialabgaben. Denn das führe zu einer "Verbesserung der Wachstums- und Beschäftigungsperspektiven" (Bundesbank).
Reformperspektive Altersarmut
Zweitens: Rentenkürzung. In Deutschland haben die Reformen der Jahre 2001 und 2004 (u.a. Riester- und Nachhaltigkeitsfaktor) die Rentenansprüche um satte 20 Prozent gesenkt. Ein Übriges tut die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Ebenso wie die geforderte weitere Erhöhung auf 69 führt sie nicht dazu, dass die Menschen länger arbeiten. Schon heute hat nur jedeR Dritte 60- bis 65-Jährige einen Arbeitsplatz. Fast die Hälfte aller Jobsuchenden im Deutschland ist über 55. Ein noch höheres Renteneintrittsalter bedeutet also erstens eine niedrigere Rente; und zweitens mehr alte Arbeitslose - was die Konkurrenz um Jobs erhöht und dadurch weiteren Druck auf das allgemeine Lohnniveau auslöst. Das wird wohl so gewollt sein.
Drittens: "private" Vorsorge. Die Reformen haben dazu geführt, dass die gesetzliche Rente nun nicht mehr zur Sicherung des Lebensstandards im Alter reicht. Diese Rentenlücken "sollten durch den Ausbau der (privaten) kapitalgedeckten Altersvorsorge geschlossen werden", rät die Allianz, Marktführer bei Lebensversicherungen. (Wirtschaft & Märkte, 07/2008) "Private" Vorsorge über Lebensversicherungen oder Riester-Verträge heißt: Der Mensch soll aus seinem Netto-Lohn zusätzlich fürs Alter sparen. Das bedeutet, seine Altersrente wird abhängig von den Kapriolen der Börse. Damit ist sicher gestellt, dass die Alten nicht mehr bekommen, als die Geschäfte der Finanzwirtschaft hergeben. Für die deutsche Finanzwirtschaft ist das ein Wachstumsprogramm. Banken und Versicherungen kassieren üppige Provisionen aus der Verwaltung des knappen Lohns.
Für die Lohnabhängigen bedeutet "private" Vorsorge eine reine Nettolohnsenkung. Aus ihrem verfügbaren Einkommen müssen sie mehr fürs Alter zurücklegen. "Privat" heißt hierbei nur: Die Unternehmen zahlen nicht, sie werden nicht mit den Kosten zum Erhalt der unproduktiven Bevölkerungsteile belastet. Die "private" Vorsorge ist der Einstieg in ein System staatlicher Grundsicherung: Der Sozialstaat sichert nicht mehr den Lebensstandard der Alten, sondern nur noch ihr Existenzminimum à la Hartz IV. Wer mehr will, muss "privat" sparen. Wer das nicht kann, hat Pech gehabt. Gegen diesen Trend gilt es anzukämpfen. Die Abschaffung der Rente mit 67 ist dabei das Minimal-Ziel.
Dieser Kampf wird auch geführt. (1) Bislang ohne Erfolg. Die Politik exekutiert den Grundsatz, dass längeres Leben für ArbeiterInnen nur um den Preis zunehmender Armseligkeit vor und während der Rente zu haben ist. Um die Menschen dennoch bei Laune zu halten, hetzt man sie gegeneinander auf: Kinderlosen Paaren wird Verantwortungsscheu attestiert. Frauen werden mit dem staatlichen Verlangen nach mehr nachwachsendem Humankapital genervt. Dabei leben schon heute in Deutschland gut 900.000 Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren von Hartz IV. Insgesamt kommt auf drei erwerbstätige Jugendliche mindestens einer, den der Staat betreut, weil das Kapital ihn nicht braucht. Ob es mal zu einem demographisch bedingten Arbeitskräftemangel kommt, weiß niemand. Im Notfall könnte man zwar noch ein paar ausländische Arbeitskräfte anwerben. Doch auch das soll nicht sein. Die Regierung bevorzugt ein ethnisch sauberes Volk, das von Jugend an stolz auf Deutschland ist.
Sozialstaatsprinzip Versorgungslücke
Neben den verantwortungslosen Frauen werden die gierigen Alten als Schuldige entlarvt. Als die Regierung dieses Jahr die Renten um 1,1 Prozent (durchschnittlich um 14 Euro) erhöhte hieß es: "Die Alten beuten die Jungen aus!" (Bild, 23.3.09). Der Stern (13.7.09) warnte vor der "grauen Macht": "Sie sind alt, sie sind kampflustig und sie sind viele. 20 Millionen Wähler zählen 60 Jahre und mehr. Um sie milde zu stimmen, hat die Regierung die Renten hochgesetzt." Das ist zwar extrem albern - schließlich werden die Bezüge der "grauen Macht" seit Jahren gekürzt. Entscheidend ist aber nur, dass die Menschen in schmarotzenden Alten ihre Feinde sehen sollen. Und nicht im Lohnsystem.
Dieses System hält es einfach nicht aus, wenn sein Humankapital einfach nur lebt und konsumiert, anstatt über rentable Arbeit das Wirtschaftswachstum zu steigern. Alter, Gebrechlichkeit, Müdigkeit - all das soll kein Grund mehr sein, vom kapitalistischen Arbeitszwang verschont zu werden. "Rente mit 69? Warum eigentlich nicht? Denn die Menschen leben länger", meint gut gelaunt Die Welt (21.7.09). Im Umkehrschluss heißt das: Wer dennoch nicht lohnarbeitet, kann sehen wo er/sie bleibt! Die Altersarmut wird in den kommenden Jahren steigen, das ist ausgemacht.
"Unser Leben währet 70 Jahre", so steht es in Psalm 90, "und wenn's hoch kommt, so sind es 80 Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon." Ehemals war dies eine beliebte Inschrift auf Grabsteinen. Kein Wunder. Tote können sich nicht wehren gegen den tieferen Sinn, den die Nachwelt ihrem elenden Arbeitsleben verleihen will.
Anna Blume und Nick Sinakusch
Anmerkung:
1) siehe u.a. die DGB-Kampagne www.ichwillrente.net und die Broschüre der Linksfraktion "Rente statt Rendite"