Das postrassistische Zeitalter lässt auf sich warten
Der "Fall Gates" zeigt die Kontinuität des US-amerikanischen Rassismus
Ein renommierter afroamerikanischer Harvard-Professor wird in seinem eigenen Haus von einem weißen Polizisten wegen "Ruhestörung" verhaftet und in Handschellen abgeführt. Die Bilder der Verhaftung gehen um die Welt und entfachen in den USA eine hitzige Debatte über die Fortexistenz von Rassismus, in die sich auch Präsident Obama einschaltet. Die Brisanz des Falles scheint offensichtlich. Wenn schon ein weltbekannter Wissenschaftler der Elite-Universität Harvard polizeilicher Willkür ausgesetzt ist, wie sieht es dann für durchschnittliche African Americans aus?
Am Abend des 16. Juli 2009 kehrte der Professor Henry Louis Gates Jr. von einer Forschungsreise aus China zurück nach Cambridge (Massachusetts). Da die Vordertür seines Hauses klemmte, verschaffte er sich durch die Hintertür Zugang. Sein Chauffeur versuchte später, die Haupteingangstür mit Gewalt zu öffnen. Gates telefonierte gerade mit der Hausverwaltung, um diese über die beschädigte Eingangstür in Kenntnis zu setzen, als die Cambridger Polizei eintraf, der von einer Anwohnerin ein Einbruch in Gates' Haus gemeldet worden war. Nach übereinstimmenden Aussagen beider Seiten verlangte der Polizist Crowley von Gates, sich als Hauseigentümer auszuweisen. Nach anfänglichem Zögern tat er das und präsentierte auch einen Ausweis, der ihn als Mitglied des Harvard-Lehrkörpers identifizierte. Gates weigerte sich jedoch, die Haustür zu öffnen oder gar das Haus zu verlassen, und beschuldigte den Polizisten, als dieser insistierte, dies aus rassistischen Gründen zu fordern. Gates verlangte von Crowley, Namen und Dienstnummer preiszugeben, was der Polizist jedoch verweigerte. Erbost über diese Missachtung seiner Bürgerrechte und energisch dagegen protestierend, dass er als rechtmäßiger Eigentümer des Hauses von der Polizei belästigt wurde, zumal klar geworden war, dass es sich um keinen Einbruch handelte, wurde Gates daraufhin wegen Ruhestörung in Handschellen abgeführt und musste einige Stunden auf dem Polizeirevier verbringen.
Statistiken belegen institutionellen Rassismus
In einer ersten Presseerklärung äußerte sich Gates zu dem Vorfall: Nie habe er damit gerechnet, in solch eine Situation zu geraten. "Ich hätte eher geglaubt, dass der Himmel auf die Erde herabstürzen würde als dass so etwas mir passieren könnte." Angesichts bekannter Statistiken über das sogenannte Racial Profiling ist das eine etwas naive Einstellung - zumal für einen Wissenschaftler aus dem Feld der African American Studies, der sich jahrelang mit Rassismus auseinandergesetzt hat. Unter Racial Profiling wird das gezielte überproportionale Kontrollieren von Schwarzen und People of Color durch die Polizei gefasst. Gates' Stellungnahme ist Ausdruck einer sehr akademischen Vorstellung von African American Studies. Diese waren im Zuge der Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung und der Entstehung der sogenannten Black-Power-Bewegung Mitte der 1960er Jahre nach und nach an den meisten Universitäten der USA eingeführt worden. Das Anliegen des Faches war von Anfang an explizit politisch. Schwarze Geschichte und Kultur sollte erforscht und bekannt gemacht, den Lehrplänen der Geistes- und Sozialwissenschaften der 1960er Jahre, die sich fast ausschließlich mit weißen Männern beschäftigten, etwas entgegengesetzt werden. Über den akademischen Bereich hinaus sollten sich die African American Studies jedoch auch den aktuellen Auswirkungen von Rassismus auf die US-amerikanische Gesellschaft widmen und Werkzeuge für eine emanzipatorische Gesellschaft bereitstellen.
Während Henry Louis Gates große Verdienste in der Erforschung und Entdeckung afroamerikanischer Literatur hat und einige seiner Bücher und von ihm herausgegebene Anthologien zu Standardwerken avancierten, blieb seine Beschäftigung mit Rassismus weitgehend akademisch. In einer Debatte mit dem Historiker Manning Marable über den Status der African American Studies im Jahre 2000 verwahrte sich Gates beispielsweise gegen ein politisches Verständnis der Wissenschaft, die ihre gesellschaftliche Einbettung und Relevanz reflektiert. Er vertritt somit eine puristische und deutlich apolitische Konzeption von African American Studies. Anlässlich seiner Verhaftung wurde dies wieder offenkundig. Nachdem sich seine Aufregung etwas gelegt hatte, nachdem außerdem ein Treffen zwischen Crowley und Gates im Weißen Haus arrangiert worden war, erklärte Gates, dass er sich glücklich schätze, in einem Land zu leben, in dem PolizistInnen ihr Leben dafür einsetzten, die BürgerInnen zu schützen. Um möglichst ausgewogene Argumentation bemüht, ging er auf die Praxis des Racial Profiling nur ein, um diese auf die selbe Stufe mit den Gefahren zu stellen, denen sich die Polizei bei jedem Einsatz konfrontiert sieht.
Dies verkennt jedoch die nach wie vor überproportional hohen Verhaftungszahlen und die Härte, mit der African Americans bestraft werden. Chandra Bhatnagar von der American Civil Liberties Union (ACLU) hielt in einem Bericht an den UN-Rechtsausschuss kürzlich fest: "Racial Profiling bleibt ein verbreitetes und drängendes Problem überall in den USA." Nach Angaben des New Yorker ACLU-Büros ist die Zahl von Schwarzen und People of Color, die unbegründet angehalten und überprüft wurden, in den ersten drei Monaten des Jahres 2009 weiter angestiegen. Waren im Jahre 2008 von den betroffenen Personen schon mehr als 80% Schwarze oder People of Color, stieg diese Prozentzahl im ersten Quartal des Jahres 2009 noch einmal an. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Ereignisse um Gates in einem gänzlich anderen Licht - nicht seine Festnahme ist ungewöhnlich, sondern vielmehr der Umstand, dass die Anklage wegen Ruhestörung gegen ihn so schnell wieder fallen gelassen wurde.
Das Opfer-Täter-Verhältnis wird umgekehrt
Erstaunlich sind auch die Diskussionen, die über Gates' Verhaftung in vielen US-amerikanischen Medien an prominenter Stelle geführt wurden. Zwar wurden die Anmerkungen des sich unverhohlen rassistisch äußernden Bostoner Polizisten Justin Barrett unisono zurückgewiesen - Barrett hatte in einem Leserbrief an den Boston Globe geschrieben, er hätte den "bananenfressenden Dschungelhasen" bei solch unkooperativem Verhalten ohne große Umstände gleich mit Pfefferspray eingedeckt. Es fällt jedoch auf, dass sich konservative, aber auch einige linksliberale KommentatorInnen um eine klare Benennung des Falles als rassistisches Racial Profiling herumdrückten. Die Frage, ob ein weißer Harvard-Professor, der sich als Eigentümer ausweisen kann, in seinem eigenen Haus verhaftet worden wäre, wurde kaum gestellt. Stattdessen zogen sich viele auf die bequeme Position zurück, beide Seiten hätten anscheinend unterschiedliche Sichtweisen des Vorfalles und es könne nicht gänzlich geklärt werden, wer nun im Recht oder Unrecht sei. So gelangten einige Artikel zu dem Fazit, dass irgendwie beide Schuld hätten: Crowley, weil er Gates festgenommen hatte, obwohl dieser sich rechtmäßig in seinem Haus aufhielt; Gates jedoch, weil er sich arrogant aufgeführt und den Anweisungen der Polizei widersetzt hätte.
Die in vielen Beiträgen gezogene Schlussfolgerung lautete, hier gehe es um einen Konflikt zweier aufgeblasener Egos und nicht um Rassismus. Die ganze Affäre wurde damit entpolitisiert. Deutlich wird dies in der Berichterstattung der größten US-amerikanischen Tageszeitungen wie New York Times und Washington Post über den sogenannten "Bier-Gipfel", dem Treffen von Gates, Crowley und Obama im Weißen Haus Ende Juli, bei dem der Vorfall bei einem Bier geklärt werden sollte. Wichtiger als die Frage, was an dem Abend vorgefallen war, schien vielen JournalistInnen, Bemerkungen über die verschiedenen Biersorten zu machen, die von den Zusammentreffenden getrunken wurden.
Die perfideste dieser Entpolitisierungsstrategien, die auf die Negation des Machtungleichgewichts zwischen einem weißen Polizisten und einem schwarzen Mann sowie auf die Leugnung der Existenz von institutionellem Rassismus durch die Polizei hinausläuft, kulminierte in dem Argument, Gates hätte sich des "Sozialrassismus" schuldig gemacht. Diese Position wird von Anne Gielas in einem Artikel im Freitag vom 6. August vorgetragen. Sich auf einen Beitrag des schwarzen Soziologieprofessors Boyce Watkins beziehend, kritisiert die Autorin, der renommierte Harvard-Professor Gates habe sich arrogant gegenüber dem aus der Arbeiterklasse stammenden Polizisten Crowley verhalten und seine höhere gesellschaftliche Position ausgespielt. Dieser Vergleich ist - vorsichtig formuliert - problematisch, weil er das Opfer-Täter-Verhältnis umkehrt und davon abstrahiert, dass die Machtposition zwischen BürgerIn und PolizistIn in der Regel zugunsten des Staates ausschlägt, und in diesem Fall auch noch die Dimension Race hinzukommt.
Noch problematischer wird es, wenn Gielas sich einer angeblich von einigen Harvard-StudentInnen gehegten Vermutung anschließt: "Sie sehen Gates' Neigung, überall rassistische Diskriminierung zu wittern, als den eigentlichen Grund der Eskalation. Eine nahe liegende Hypothese - haben doch Dekaden persönlicher Erfahrungen und der wissenschaftlichen Arbeit seine Meinung von der Allgegenwart des Rassismus gewiss geprägt." Die Autorin insinuiert damit, dass das eigentliche Problem in der Beschäftigung mit Rassismus liege, weil man, so die implizite Annahme, dadurch hypersensibel würde und überall Rassismus sähe, wo dieser eigentlich nicht zu finden sei. Gielas Position lässt sich jedoch leicht als weiße Abwehrstrategie in der Auseinandersetzung mit Rassismus enttarnen, die in der Konsequenz auf die absurde Forderung hinaus läuft, Rassismusforschung einzustellen, weil dies ja ungerechtfertigte Rassismusvorwürfe gegen Weiße nach sich zöge, wenn man sie intensiv und jahrelang betreibe. Auch in dieser Hinsicht wird das Opfer-Täter-Verhältnis verkehrt und von den unterschiedlichen Machtverhältnissen abstrahiert - ein Vorgehen, das in der Rassismusforschung unter Color-Blindness seit langem als Phänomen analysiert und kritisiert wird.
Obama kritisiert die Polizei - und rudert zurück
Obamas Reaktion auf den Vorfall wirft ein Schlaglicht auf die nach wie vor bestehende Schwierigkeit des Präsidenten, den US-amerikanischen institutionellen Rassismus zu benennen. Er muss balancieren zwischen echter Besorgnis über Racial Profiling einerseits und wahlpolitischen Erwägungen in Hinsicht auf die weiße US-amerikanische Arbeiterklasse andererseits. Dies wurde bereits im Wahlkampf im vergangenen Herbst deutlich, in dem der umstrittene schwarze Prediger Reverend Wright gegen Obama ins Feld geführt wurde. Jener hatte den nach wie vor existierenden Rassismus in den USA kritisiert, woraufhin sich Obama zur Distanzierung von Wright gezwungen sah, um nicht die weiße Wählerschaft zu vergraulen. In einem ersten Statement nach Gates' Verhaftung sprach Obama in aller Deutlichkeit von einer langen Geschichte, die belege, dass African Americans und Latinos von der Staatsgewalt überproportional angehalten und kontrolliert werden. Über die Cambridger Polizei und den Fall Gates sagte der US-Präsident weiter, dass die Polizei "dumm" gehandelt habe. Während diese klare Stellungnahme von vielen African Americans positiv aufgenommen wurde, sanken Obamas Umfragewerte bei der weißen Arbeiterklasse rapide ab. Am darauf folgenden Tag bemühte sich Obama deshalb um Schadensbegrenzung und sprach davon, dass er seine Worte sorgfältiger hätte wählen sollen.
Die erst ein gutes halbes Jahr währende Amtszeit von Obama lässt noch keine weitreichenden Schlüsse zu, wie rassistische Diskriminierung mit einem African American als Präsidenten bekämpft wird. Die Auseinandersetzungen um die Verhaftung von Henry Louis Gates zeigen aber einmal mehr, dass das mit dem Wahlsieg von Barack Obama von einigen proklamierte "postrassistische Zeitalter" noch lange nicht angebrochen ist.
Philipp Dorestal