Die ewige Opposition?
Parteipolitische Perspektiven und Konstellation links von der Mitte
Als Hugo Müller-Vogg im Frühjahr sein "Drehbuch für die rot-rot-grüne Wende" vorstellte, hat das kaum für Aufsehen gesorgt. Ein Bild-Kolumnist, der den fiktiven Weg in eine "Volksrepublik Deutschland" zeichnet, in der Gregor Gysi Innenminister wird und Franz Müntefering "den Oskar" anruft - so etwas war im März 2009 schon nicht mehr besonders skandalös. Und ebenso wenig konnte es noch als realistisches Szenario für die Bundestagswahl im Herbst gelten. Die betreffenden Parteien hatten sich spätestens nach dem Hessen-Debakel in ihrer machtpolitischen Selbstblockade eingerichtet. Ein Mitte-Links-Bündnis?
Wer in SPD, Grünen und Linkspartei nicht gerade im Wahlkampf steht und zur Attacke auf die Konkurrenz von Berufs wegen verpflichtet ist, wirft die Gebetsmühle der Bündnisskepsis an: Vielleicht beim nächsten Mal, aber diesmal noch nicht.
Müller-Vogg ist mit seinem Buch keine völlig absurde Wette eingegangen. Zu einem rot-rot-grünen Bündnis kommt es in dem eher drögen Band nämlich erst im Herbst 2010; die SPD zieht ihre MinisterInnen aus der verlängerten Großen Koalition zurück und "springt". Undenkbar ist das nicht, aber ist es auch wünschenswert? Was Müller-Vogg beschreibt, ist ein Bündnis von oben, nicht die Regierungsflanke einer neuen reformpolitischen Mehrheit von unten.
Vom Szenario zurück zur Realität, beziehungsweise zu dem, was man mangels besserer Indikatoren dafür halten muss. Wer sich im Spätsommer 2009 die Umfragen anschaut, stößt auf folgendes Bild: Zwar erklären zwei Drittel der Deutschen, von der großen Krise bisher nicht persönlich betroffen zu sein. Die Hälfte macht sich aber Sorgen über ihre Zukunft. Ebenso viele beklagen, die gesellschaftlichen Verhältnisse seien nicht gerecht. Neun von zehn sind sich sicher, dass sich der Kladderadatsch an den Finanzmärkten und in der Realwirtschaft jederzeit wiederholen könnte - und dass es am Ende die kleinen Leute sind, die immer und immer wieder die Folgen von Krise ausbaden müssen.
Den demoskopischen Ergebnissen entspricht die persönliche Erfahrung: Fast alle beschleicht mehr und mehr die Gewissheit, dass der soziale Burgfrieden im Herbst nach den Wahlen aufgekündigt wird.
Volksrepublik Deutschland als politisches Szenario
Kein Wunder, angesichts solcher Signale: Das arbeitgebernahe Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung rechnet bis Ende 2010 mit einem Finanzloch von etwa 30 Mrd. Euro allein in der gesetzlichen Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Schon reden die PropagandistInnen des forcierten Sozialabbau einer "neuen Agenda 2010" das Wort und finden damit immer die guten Plätze in der Presse. Einstimmung auf die nahe Zukunft gibt es auch via Bild, wo "ExpertInnen" Nullrunden im öffentlichen Dienst und bei den Renten fordern, ebenso die weitere Privatisierung von zum Beispiel Krankenhäusern und die drastische Beschneidung öffentlicher Leistungen, etwa bei der Kinderbetreuung. Schon macht ein neues Sachzwang-Mantra Karriere: "An Kürzungen führt nach der Wahl kein Weg vorbei" (FAZ, 7.8.09). Und man ahnt, dass es hier nicht um Rüstungsgelder geht.
Dass es anders geht, ja gehen muss, weiß eine zerklüftete Linke, doch das nützt ihr derzeit wenig. Weder haben sich die Erwartungen erfüllt, dem "Scheitern des Neoliberalismus" könnte eine Rückkehr zur Politik staatlicher Regulierung, öffentlichen Eigentums und einer ökologisch gemäßigten Variante des Kapitalismus folgen, noch haben sich bisher die Hoffnungen auf einen neuen sozialen Bewegungszyklus als berechtigt erwiesen. Eine steigende Auflage von Marx' "Kapital" und ein paar Bündnisdemos machten noch keinen heißen Sommer. Von "sozialer Unruhe" redete in positiver Absicht immer nur eine Minderheit. Der Rest hielt es mit Peer Steinbrück und seiner Warnung vor "irrationalen antithetischen Antworten". Und wer das nicht verstehen wollte, konnte in der Süddeutschen Zeitung (19.4.09) lesen, dass "antikapitalistische Rhetorik" es ja doch nur "schlimmer" mache - "weil sie Lösungen suggeriert, die es nicht gibt".
Die Krise als Chance für die Linke? An diesem Satz war noch im Herbst 2008 kaum ein Vorbeikommen, und die Klügeren unter den Hoffenden werden sich kaum darüber freuen, schon damals geahnt zu haben, wie weit man damit daneben liegen würde, jedenfalls kurzfristig betrachtet. Wenn man einmal nur auf das parlamentarische Feld blickt, gedeiht dort schon längst kein reformpolitischer Optimismus mehr. Schon einfach deshalb, weil dafür die arithmetische Grundlage fehlt. Man würde sich heute ja lächerlich machen mit der eigentlich klugen Warnung, ein Mitte-Links-Bündnis sei keineswegs bloß eine rechnerische Frage.
Zur anderen Seite der Medaille des Spätsommers 2009 noch einmal die Demoskopen: Eine klare Mehrheit wünscht sich eine Unions-geführte Bundesregierung - selbst ein Viertel der Linken-WählerInnen gibt offenbar einer Kanzlerin Angela Merkel den Vorzug. Eine Fortsetzung der Großen Koalition wird am ehesten befürwortet - selbst bei den AnhängerInnen von SPD, Linkspartei und Grünen hat diese Variante die höchste Präferenz. Eine Mehrheit präferiert ebenso eine "bürgerliche" Koalition. Fast jedeR Dritte fände es gut, wenn die FDP in der kommenden Legislatur mit am Kabinettstisch sitzt. Die Hegemoniefähigkeit einer Linken, die die Kunst beherrschen müsste, ihr transformatorisches Ziel mit realpolitischen, ja mit einem Regierungsprojekt zu verbinden, lässt sich an solchen Zahlen kaum ablesen. Ein Projekt ist zumindest theoretisch zu erahnen. Was fehlt, sind nicht nur soziale Bewegungen und eine starke Linke außerhalb des Parlaments.
Ist es "politisch", wenn drei Parteien zentrale Zielsetzungen teilen, dies aber wortgewaltig verheimlichen? Oder ist es das gerade: Politik? Man braucht bloß mit dem Aufzählen beginnen: Mindestlohn, Bürgerversicherung, Finanzmarktregulierung, Börsenumsatzsteuer, Gebührenfreiheit in der Bildung, Korrekturen an der Agenda 2010 und so weiter. Sicher nicht der Sozialismus, aber deshalb schon bloß "das kleinere Übel"?
Politische Projekte und das Fegefeuer Opposition
Womit wir wieder bei Hugo Müller-Vogg wären. Der promovierte Ende der 1970er Jahre mit einer Arbeit über die Propaganda der Wirtschaftslobby, kennt sich also ein wenig darin aus, wovor die besitzende Klasse sich fürchtet. Worüber die Spitzen von SPD, Grünen und Linkspartei ums Verrecken nicht öffentlich reden wollen, das kann man in der "Volksrepublik Deutschland" nachlesen: wie ein Kompromiss aussehen könnte, das Fundament jeder Regierungsbildung. Was beim Bild-Kolumnisten eine Drohkulisse sein mag, würden andere als Anfang einer Re-Politisierung im parlamentarischen Mitte-Links-Raum bezeichnen. Ob diese etwas taugt, würde unter anderem davon abhängen, ob eine solche Koalition auch in der Lage wäre, die Spielräume für emanzipatorische Bewegungen zu erweitern, ob sie Türen zur solidarischen Ökonomie hin öffnet und so weiter. Und selbstverständlich würde auch für eine solche Koalition gelten, dass sie zwar an der Regierung, aber noch keineswegs an der Macht ist (Rossana Rossandra). Schließlich bedeutet eine Mehrheit im Parlament noch lange nicht, dass die Linke in der Gesellschaft hegemonial ist, d.h. als linke Gegenmacht in den vielen Ritzen und Stellungen der Zivilgesellschaft präsent ist. Und das ist mehr als eine Parteienfrage.
Seit langem finden eher unterhalb des Radars Diskussionen über über Möglichkeiten und Grenzen radikalreformerischer Politik auf parlamentarischem Spielfeld statt. Mal wurden sie als Crossover bezeichnet (1), mal blieben es namenlose Kontakte in der zweiten und dritten Reihe, zwischen DiskursarbeiterInnen und Intellektuellen, mit VertreterInnen von sozialen Bewegungen. Eine Schwierigkeit dabei war und ist es immer vor allem in Wahlkampfzeiten, dass sogar Debatten mit einem weiten strategischen Horizont blitzschnell ins Raster der parteipolitischen Tageskämpfe gepresst werden; eine Zwangsjacke, die man eigentlich mit solchen Gesprächen abwerfen wollte. Skandalisierende Berichterstattung setzt dann meist eine Dynamik innerparteilicher Disziplinierung in Gang und löst einen Mechanismus der Vertröstung aus, nach der nächsten Wahl könne man unbefangener reden. Dummerweise wird ständig irgendwo gewählt. Und selbst in den Ländern werden die politischen Konkurrenzen inzwischen fast ausschließlich als Stellvertreterkonflikte der Bundespolitik geführt.
Dennoch hat sich das zum Crossover bereite Spektrum ständig erneuert. Jüngere Generationen sind dazugekommen, andere politische Register werden bedient. Und es sind neue Hindernisse entstanden, die zuallererst mit der Politik einer Koalition zu tun haben, der einst auch einmal gewisse reformpolitische Erwartungen entgegengebracht wurden. Ralf Krämer, früher SPD-Linker, später WASG-Vordenker und heute in der Linkspartei, hat es so formuliert: "Das noch Schwierigere gegenüber dem Crossover der 1990er Jahre besteht darin, dass es um einen Wechsel gegenüber einer Politik geht, die von zwei der drei beteiligten Parteien selbst betrieben wurde."
Beliebt ist, darauf mit der Bedingung zu reagieren, eine Debatte könne überhaupt erst beginnen, wenn frühere Entscheidungen revidiert und handelnde Personen ausgetauscht würden. Das führt zu einer Reihe von Folgeproblemen, zum Beispiel zu der Frage, wer eigentlich noch zur SPD-Linken gezählt werden kann und wie groß deren Einfluss in der Partei tatsächlich ist und gegebenenfalls werden könnte. Abgesehen davon wird man kaum behaupten können, dass eine Mitte-Links-Koalition schon den sozialpolitischen Stein der Weisen gefunden hätte, wenn alle plötzlich für die Rücknahme der rot-grünen Arbeitsmarktreformen votierten. Hartz muss weg! Schon klar: Aber was kommt dann?
Die Vorstellungen gehen dabei innerhalb des Crossover-Feldes mitunter deutlich auseinander. Hier reden längst nicht mehr nur drei Parteien plus die gewerkschaftliche Linke miteinander, sondern es haben sich Diskussionsstränge gebildet, die zugleich Konfliktlinien innerhalb der Parteien sind - etwa in der Frage des Bedingungslosen Grundeinkommens, von den Konflikten oder besser: Spannungen zwischen Parteien und außerparlamentarischen Initiativen einmal abgesehen. Man findet soziale und kulturelle Linke, StrategInnen und Realos, Leute, die ein Mitte-Links-Bündnis eher aus taktischen Gründen verfolgen, und solche, denen es in erster Linie um eine mittelfristige, transformatorische Perspektive geht. Die Gemengelage ist dabei nicht übersichtlicher geworden.
Das kleinere Übel oder: Keine Macht ist auch keine Lösung
Das alles spricht noch nicht gegen die Diskussion selbst, kann aber deren Schwierigkeiten zeigen. Für den Herbst und den Ausgang der Bundestagswahlen spielt es wohl keine Rolle mehr. Das Wahlergebnis könnte allerdings neue Grundlagen schaffen: In der SPD wird das Bedürfnis nach einer Kurskorrektur im Angesicht der Wahlschlappe wachsen - wohl etwas schneller im Falle des Abstiegs in die Opposition, eher zögerlicher bei einer Fortsetzung der Großen Koalition. Die Grünen werden sich fragen, in welcher Konstellation sie ihre (eher linken) politischen Ziele tatsächlich verwirklichen können. Und die Linkspartei wird eine Antwort geben müssen, ob es auf Dauer ihr Projekt sein kann, aus der Opposition heraus Druck auf die anderen Parteien auszuüben. Es gibt derzeit wenig Gründe, in großen Optimismus zu verfallen, dass die darüber ausbrechenden Konflikte in den drei Parteien jeweils von den linken Flanken her entschieden werden. Oder von jenen, die diesen Platz am lautesten für sich in Anspruch nehmen.
Die kommende Bundesregierung, es könnte die alte oder eine "bürgerliche" Koalition sein, wird maßgeblich mit darüber entscheiden, wer die Kosten der Krise trägt. Es gab Gründe, deshalb eine Reformregierung aus SPD, Grünen und Linken für die bessere Wahl zu halten. Die Parteien haben sich dagegen entschieden, und eine gesellschaftliche Mehrheit, von der eine solche Regierung parlamentarischer Ausdruck wäre, ist auch nicht recht in Sicht.
MancheR hält es inzwischen sogar für einen Vorteil, dass eine Mitte-Links-Regierung jetzt nicht zustandekommt: Gezwungen, jene Rechnungen zu begleichen, die von der kapitalistische Krisenreparaturbrigade und von Rot-Grün hinterlassen werden, bliebe sogar weniger Spielraum als 2005, wo es eine rechnerische Mehrheit am Wahlabend gab. Deshalb, so geht der Gedanke, könnte sich ein zu früher Versuch als strategisches Eigentor herausstellen.
Tom Strohschneider
Anmerkung:
1) Siehe ak 388, 411, 430 sowie das blog http://crossover-debatte.de