Der Süden zahlt die Zeche
Die Finanzkrise trifft die armen Länder mit voller Wucht
Bei Prognosen über den Verlauf der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ist Vorsicht angesagt. Doch eines ist zweifelsfrei: Die Armen in den Ländern des Südens werden die hauptsächlichen VerliererInnen sein. Kein soziales Sicherungsnetz wird die Folgen für den Einzelnen abfedern, kein Konjunkturprogramm die Wirtschaft ankurbeln.
Die Voraussage war nicht gewagt: "Mehr Menschen müssen künftig hungern, weil Banker sich verspekuliert haben." Was Dirk Messner vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik vor Monaten prophezeite, wird inzwischen mit drastischen Zahlen unterstrichen: Der Global Monitoring Report der UNO rechnet 2009 mit 200.000 bis 400.000 zusätzlich verhungernden Kindern - schon ohne Krise waren es täglich über 20.000. Es fehlten in den ärmsten Regionen der Welt einfach mehr und mehr Nahrungsmittel, so die Autoren der UNESCO-Studie, Kevin Watkins und Patrick Montjourides. Und auch mit einer schnellen Trendwende nach 2009 rechnet Montjourides nicht - im Gegenteil: "Millionen von Kindern werden als Folge der Finanzkrise einen Schaden erleiden, der für lange Zeit nicht rückgängig gemacht werden kann."
Was in den Zentren, in der die Finanzkrise über Finanzspekulationen bekanntermaßen ihren Ursprung hat, zu spürbaren und schmerzhaften Einschränkungen bei der Mittel- und Unterschicht führen wird, ist im Süden existenziell: Den 390 Mio. ärmsten AfrikanerInnen, die statistisch mit weniger als 0,75 Euro pro Tag ihr Überleben fristen müssen, droht im Zuge der Krise ein Einkommensverlust von etwa 20 Prozent, vermuten die UNESCO-Wissenschaftler - mit todsicheren Folgen für viele.
Mit ihrer düsteren Einschätzung stehen Montjourides und Watkins alles andere als allein. So vermeldete die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) am 19. Juni einen traurigen Rekord: Erstmals leiden über eine Milliarde Menschen, exakt 1,02 Milliarden, unter Hunger und Unterernährung, also jeder sechste und insgesamt 100 Mio. Menschen mehr als 2008. Nicht als Folge von Missernten, sondern als Folge der Wirtschaftskrise, teilte die FAO ausdrücklich mit.
Jeder sechste Mensch leidet an Hunger
Und pünktlich vor der hochrangigen UNO-Konferenz über die "Globale Wirtschafts- und Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Entwicklungsländer" vom 24 bis 26. Juni in New York legte die Weltbank ihre Wachstumsprognose für den Süden vor: Ohne die Zugpferde der letzten Jahre, China und Indien, sinkt das Bruttoinlandsprodukt in den Entwicklungsländern demnach sogar um 1,6 Prozent. Und auch mit den beiden Lokomotiven fällt das Wachstum mit 1,2 Prozent bescheiden aus - im vergangenen Jahr betrug die Wachstumsrate noch 5,9, vor zwei Jahren 8,1 Prozent.
So gerechtfertigt die generelle Wachstumskritik am kapitalistischen System auch ist - die systemimmanente statistische Faustregel bleibt davon unberührt: Ein Prozent weniger globales Wachstum heißt 20 Mio. mehr Arme. Arme, für die es kein soziales Sicherungsnetz gibt.
In welche Region man auch schaut, die Arbeitslosigkeit steigt rapide: In China wurden 2008 rund 20 Mio. WanderarbeiterInnen entlassen. In Indien haben nach Schätzungen des Arbeitsministeriums bis April 2009 bereits 1,5 Mio. Menschen ihre Jobs im Exportsektor verloren, in der Demokratischen Republik Kongo wurden 300.000 ArbeiterInnen in der Rohstoffförderung entlassen, in Kambodscha traf es 30.000 Beschäftigte in der Textilindustrie - eine Liste, die sich beliebig um andere Länder ergänzen ließe - und die Zahlen sind nicht in Stein gemeißelt. Schließlich ist ein Ende der Weltwirtschaftskrise nicht abzusehen: Nach einer langen Phase mit hohen Wachstumsraten wird sich der Welthandel 2009 erstmals seit 1982 wieder verringern, nach Schätzungen der UNO um elf Prozent. Der Nachfragerückgang schlägt sich im Süden direkt in steigender Arbeitslosigkeit nieder - so etwas wie Kurzarbeit ist unbekannt und unfinanzierbar.
Die Hauptleidtragenden sind damit ausgerechnet jene Länder, die mit der Genesis der Krise nichts zu tun hatten. Und zu allem Überfluss verdanken sie ihre besondere Verwundbarkeit gegenüber der Weltwirtschaftskrise wiederum Strukturen, die ihnen im Zuge der Schuldenkrise seit 1982 durch Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank oktroyiert wurden. Allen Schuldnern der beiden Bretton-Woods-Geschwister wurde als Blaupause der so genannte Washington Consensus verpasst, bestehend aus dem Dreiklang Liberalisierung, Privatisierung und Defizitreduzierung. Um die Schulden bedienen zu können, wurde die Wirtschaft zwangsliberalisiert und auf Exportorientierung getrimmt.
Die einheimische Produktion ging auf Grund der Öffnung wegen der übermächtigen Importkonkurrenz vielerorts zu Grunde, der Export von Rohstoffen wurde zum Herzstück der neuen sogenannten Entwicklungsstrategie. Die aus der kolonialen Zeit stammende Einordnung der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft als Rohstofflieferanten wurde damit festgeschrieben: Mehr als 70 Prozent der Exporte aus Entwicklungsländern sind Rohstoffe oder Agrarprodukte und die meisten Länder haben nur eine gering diversifizierte Angebotspalette, was sie gegenüber Preisschwankungen extrem verwundbar macht. In mehr als 90 Entwicklungsländern macht der Verkauf von Rohstoffen über 50 Prozent der Exporteinnahmen aus.
Neuauflage der nie bewältigten Schuldenkrise
Da sich Rohstoffpreise stark prozyklisch entwickeln und somit mit steigender Weltnachfrage steigen und bei fallender Weltnachfrage fallen, gehen die Nachfrage und die Preise infolge der Rezession bei den meisten Rohstoffprodukten derzeit zurück. So sind die Preise der wichtigsten Primärexportgüter wie Erdöl, Mineralien und Nahrungsmittel seit Ausbruch der Finanzkrise stark gefallen.
Der Preisverfall führt zu sinkenden Exporterlösen und Staatseinnahmen. Laut einer im März 2009 veröffentlichten Weltbank-Studie geht in 94 von 116 untersuchten Entwicklungsländern das Wirtschaftswachstum zurück. Als wichtiger Grund wird der Fall der Rohstoffpreise angeführt. 43 dieser Länder haben eine hohe Armutsrate. Eine Zunahme der sozialen Verelendung ist damit programmiert. Daran ändert auch nichts, dass sich die Nahrungsmittelpreise seit ihrem Rekordhoch im Sommer 2008 wieder nach unten bewegen, denn sie liegen nach wie vor weit über dem Niveau der Jahre vor 2007. Zudem ist seit Februar 2009 bereits wieder ein leichter Anstieg der Preisindizes für Rohstoffe und Nahrungsmittel festzustellen.
Ob intern oder extern - die Bedingungen für die Entwicklungsländer verschlechtern sich. Denn nicht nur die internen Staatseinnahmen durch Besteuerung gehen zurück, auch die externen Zuflüsse befinden sich im Sinkflug. So schätzt der IWF, dass sich die privaten Nettokapitalströme im Jahr 2009 drastisch umkehren. War der Süden in den vergangenen Boomjahren der Weltwirtschaft durchaus ein beliebtes, weil lukratives Ziel von Portfolioinvestitionen, so ziehen die AnlegerInnen nun oft ihr Kapital ab, um es zum Löschen von Bränden auf dem heimischen Kapitalmarkt einzusetzen oder es in "sicheren Häfen" anzulegen.
So werden die Liquiditätsprobleme der Zentren zu Liquiditätsproblemen der Peripherie. Flossen im Vorkrisenjahr 2007 noch 617,5 Milliarden US-Dollar an Portfolioinvestitionen und Krediten in den Süden, prognostiziert der IWF für 2009 einen Nettokapitalabfluss von rund 190,3 Milliarden US-Dollar. Die globale Kreditklemme, der in den Zentren die Zentralbanken mit Niedrigzinsen für die Geschäftsbanken gegensteuern, hat den Süden längst erreicht. Weder Kenia, Tansania, Uganda noch Nigeria vermochten 2008 ihre geplanten Anleihen auf dem internationalen Kapitalmarkt zu platzieren, da sie keine InvestorInnen fanden. Damit liegen nun wichtige Infrastrukturprojekte in diesen Ländern bis auf weiteres auf Eis.
Die armen Länder driften laut Weltbank in eine extreme Kreditklemme, weil sie von Privatbanken kaum noch Geld bekommen. Ein Fehlbetrag zwischen 270 und 700 Milliarden US-Dollar tut sich auf. Nur ein Viertel der anfälligsten Staaten habe eigene Mittel, um durch Arbeitsbeschaffungsprogramme oder soziale Sicherheitsnetze einen Anstieg der Armut zu verhindern, warnt die Weltbank.
Und auch das informelle Sicherungsnetz im Süden ist bis zum Zerreißen gespannt. Das übliche Muster, dass eine Krise die Verwandten außerhalb zu noch mehr Rücküberweisungen animiert, funktioniert nicht in einem Szenario der Gleichzeitigkeit der Krisen in Zentrum und Peripherie. Damit können Migration und Rücküberweisungen nur noch eingeschränkt ihre Rolle als informelles soziales Auffangnetz erfüllen. 200 Mio. Menschen unterstützen ihre Familienangehörigen in der Heimat. Jahr für Jahr wuchs die Zahl der MigrantInnen und der Rücküberweisungen stetig bis auf die Rekordsumme von 306,8 Milliarden US-Dollar im Jahre 2008 an. Eine Summe, die so schnell nicht mehr erreicht werden dürfte, zumal die oft im Niedriglohnsektor und häufig ohne Papiere tätigen MigrantInnen die ersten sind, die bei Entlassungswellen auf der Straße stehen.
Auch eine Neuauflage der ohnehin nie bewältigen Schuldenkrise, die 1982 durch die reagansche Hochzinspolitik ihren Ausgang nahm, steht durch die Finanz- und Wirtschaftskrise zu befürchten. Die Initiative Erlassjahr.de führt in ihrem Schuldenreport 2009 13 Länder mit kurzfristigem Insolvenzrisiko auf.
Der Süden in der Finanzklemme
Durch die globale Flucht in den US-Dollar als noch sicher erachteten Hafen, kommen vor allem schwache Währungen massiv unter Abwertungsdruck. Der Wertverlust der heimischen Währung führt zu real ansteigenden Auslandsschulden, da jene in Hartwährung zu berappen sind, so dass ein immer größerer Teil der Wirtschaftsleistung zur Bedienung der Auslandsverschuldung aufgewendet werden muss. Kombiniert mit sinkenden Deviseneinnahmen ist das ein sicherer Weg in die Überschuldung. Ohne Notkredite treiben dem Report zufolge die Länder Benin, Burundi, Gambia, Liberia, Mosambik, Niger sowie São Tomé und Príncipe auf den Staatsbankrott zu. Ein hohes Risiko, zahlungsunfähig zu werden, haben demnach Guinea, Mali, Sudan, Burkina Faso, Ruanda und Äthiopien.
Eine Entspannung ist nicht in Sicht, auch wenn beim G20-Gipfel im April in London eine Verdreifachung der Mittel für den IWF auf 750 Milliarden US-Dollar zugesagt wurde, damit der IWF Überbrückungskredite vergeben kann. Mehr als eine Aufschiebung der Schuldenkrise ist damit ohnehin nicht zu bewerkstelligen, so lange die strukturellen Gründe nicht angegangen werden.
Danach sieht es nicht aus. Nichts ist aus dem 2001 zum Start der Doha-Runde der Welthandelsorganisation formulierten Anspruch geworden, die Bedürfnisse und Interessen der Entwicklungsländer ins Zentrum des Arbeitsprogramms zu rücken. Spätestens seit 2008 wird offen von einem Scheitern der Doha-Runde gesprochen, auch wenn in Genf immer wieder UnterhändlerInnen versuchen, die Runde wieder zum Leben zu erwecken.
Und weder die UNO-Konferenz über die "Globale Wirtschafts- und Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Entwicklungsländer" noch der folgende G8-Gipfel in L'Aquila Anfang Juli haben die Weichen für eine grundlegend neue Welthandels- und -finanzordnung gestellt.
Den UNO-Gipfel straften die G8 mit niedrigrangiger Teilnahme und der Blockade weit reichender Reformansätze, wie sie die Kommission unter Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz im UNO-Auftrag ausgearbeitet hat. Die Vorschläge der Kommission reichen von einem Insolvenzrecht für Staaten über einen globalen Mechanismus zur Regulierung der Finanzmärkte bis hin zu einem neuen globalen Reservesystem. Die Genesung der Weltwirtschaft hänge davon ab, die Balance zwischen Staat und Markt wieder richtig zu justieren. An diesem Grundsatz haben die G8-Staaten zwar für sich selbst nichts auszusetzen, nur dass sie bei der Neujustierung nicht ansatzweise an eine Reform des Welthandels zu Gunsten der Interessen des Südens denken, was durch die Blockade der Doha-Runde hinlänglich belegt ist. Und solange das so bleibt, wird der Süden weiter für jede globale Finanz- und Wirtschaftskrise hauptsächlich die Zeche zahlen. Das Verursacherprinzip hat in der Weltwirtschaft schließlich noch nie gegolten.
Martin Ling