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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 541 / 21.8.2009

It's a glorious thing to be a pirate king

Operaistische Betrachtungen über die aktuelle Piraterie

"Der Pirat liefert uns das politische und rechtliche Paradigma der Gegenwart. Ich will es das Paradigma vom universellen Feind nennen. Darunter verstehe ich einen Ausnahmefall unter den Rechtspersonen: einen Akteur, der weder Krimineller noch Feind ist ... Er ist der ,Feind aller` bzw. ,Feind der Menschheit`." (Süddeutsche Zeitung, 12.12.08)

Am 16. Mai 2007 kreuzte der Fisch-Trawler Ching Fong Hwa 168 vor der somalischen Küste. An Bord waren Kapitän Xinshen Ling und eine 15-köpfige Crew. Plötzlich erschienen am westlichen Horizont zwei kleine Speed-Boote - Piraten! Weil sie aus Richtung der Sonne kamen, wurden Ling und seine Besatzung überrumpelt. Die 15 Piraten waren mit automatischen Gewehren, Maschinengewehren und Gewehrgranaten bewaffnet. Als sie nahe genug an den Trawler heran gekommen waren, gaben sie einige ungezielte Schüsse ab, ein Matrose wurde verletzt. Das Schiff stoppte, die Piraten gingen längsseits und enterten mit Hilfe von Enterhaken, Seilen und Holzleitern.

Später musste Kapitän Xinshen Ling seiner Reederei die Lösegeld-Forderung in Höhe von 1,5 Mio. US-Dollar übermitteln. Die Reederei spielte auf Zeit und hielt die Piraten hin. Die verloren nach einigen Tagen die Geduld und ließen die Mannschaft an Deck antreten. Sie wählten einen der Matrosen aus und erschossen ihn, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen - so behauptete es später Kapitän Ling. Die Verhandlungen kamen dennoch nicht voran, und Ling behauptete, dass die Crew in den folgenden Wochen gelegentliche Scheinhinrichtungen und Schläge ertragen musste, wenn sie die somalischen Befehle nicht verstanden. Die Piraten zwangen die Matrosen, ihre Familien anzurufen, um so den Druck auf die Reederei zu erhöhen. Die Situation an Bord verschlechterte sich zudem dadurch, dass die Gemüsevorräte zur Neige gingen und Skorbut ausbrach.

Schließlich drohten die Piraten, den 22-jährigen Sohn des Kapitäns zu erschießen, wenn Ling nicht endlich die taiwanesischen SchiffseignerInnen dazu brächte, das geforderte Lösegeld zu zahlen. Der Käpt'n reagierte auf die Drohung, indem er vorgab, sich in das haiverseuchte Meer zu stürzen. Die Piraten hielten ihn im letzten Augenblick zurück. "Es war ein Test", sagte Ling später, "um zu sehen, wie weit die Piraten zu gehen bereit waren". (1)

Erst im Oktober zahlte die Reederei endlich das geforderte Lösegeld. Ein Hubschrauber warf zwei große wasserdichte Beutel mit Dollarscheinen über dem Schiff ab - wie gefordert, handelte es sich um kleine, gebrauchte Scheine.

Typisch für die piratischen Unternehmungen vor der somalischen Küste und im Golf von Aden sind an dieser Kaperung die Entschlossenheit der Piraten, die nichts zu verlieren haben, ihre Arbeitsweise, ihre Geduld und Risikobereitschaft - etliche Somalier bezahlen die piratischen Unternehmen mit dem Tod durch Ertrinken, werden von SoldatInnen der patrouillierenden Kriegsschiffe abgeknallt wie Tontauben oder zumindest verhaftet und verurteilt.

Untypisch ist in diesem Fall die Behandlung der überfallenen Besatzung seitens der Piraten. Es gibt aber weder für die vom Kapitän behauptete Tötung einer seiner Matrosen durch die Piraten noch für die Misshandlungen eine unabhängige Bestätigung. Er wäre nicht der erste überfallene Kapitän, der Gräuelmärchen über Piraten erzählt, um sich gegenüber der Reederei zu rechtfertigen. Beides steht jedenfalls im krassen Widerspruch zur typischen Vorgehensweise der Piraten, die sogar eigene Catering-Unternehmen unterhalten, um den überfallenen Matrosen mit ihren aus somalischer Sicht sehr fremden Essgewohnheiten ihre gewohnten Speisen zu bieten. Immer wieder betonen die Piraten, dass sie nicht das geringste Interesse an irgendwelchen Gewalttaten gegen Matrosen hätten, denn diese seien ihr wichtigstes Faustpfand für die Lösegeldforderung.

Unisono werden solche piratischen Akte in deutschen Medien als Kriminalität abgetan - auch von Linken. Es ist ein Interpretationsmuster, das bis auf wenige hervorragende Ausnahmen auch in Bezug auf die historische Piraterie gilt. Allein diese Einmütigkeit von bürgerlichen und linken Medien macht misstrauisch. Ein Misstrauen, das gestärkt wird, wenn man sich die Mühe macht, somalische, arabische oder auch britische Medien zur Kenntnis zu nehmen. Andererseits sollten die manchmal frappierenden Ähnlichkeiten der aktuellen Piraterie vor der ostafrikanischen Küste mit der historischen in der Karibik nicht dazu verführen, die Piraten à la Fluch der Karibik zu romantisieren.

Eindimensionalität des Diskurses aufbrechen

Die Piraterie zwischen 1690 und 1725 war Teil eines transatlantischen Kampfzyklus rund um den Atlantik. Die Piraten störten den Dreieckshandel England - West-Afrika - Amerika, der für die Herausbildung des kapitalistischen Systems konstituierend war. Heute stören somalische Piraten den globalen transnationalen Kapitalismus und die Just-in-time-Produktion in den europäischen Fabriken empfindlich. Dem damaligen Meeresraum, dem Nord-Atlantik, entspricht heute der Stille Ozean. So, wie der Atlantik damals noch nicht der Kontrolle der Nationalstaaten unterworfen war, gilt das heute für das Gebiet östlich von Afrika - die Atalanta-Mission der EU setzt genau hier an. Während es vor 300 Jahren vor allem England, Frankreich, Portugal, Spanien und die Niederlande waren, die um die Vorherrschaft über den Atlantik kämpften, sind es heute die USA, Indien und China, die im Indischen Ozean um die Vorherrschaft konkurrieren.

Was lässt sich über die Piraterie in Somalia sagen, wenn man sie aus operaistischer Perspektive betrachtet? Handelt es sich um eine Form des Klassenkampfes oder des sozialen Banditentums im Sinne von Hobsbawm? Was könnte daran emanzipatorisch, sozialrevolutionär oder klassenkämpferisch sein? Reichen die äußerlichen Ähnlichkeiten mit der klassischen Piraterie aus, um auf inhaltliche Ähnlichkeiten zu schließen?

Obwohl es für Antworten darauf zur Zeit an Material fehlt, können einige Fragen gestellt werden, die zumindest die Eindimensionalität des herrschenden Diskurses aufbrechen: Welche sozialen, politischen, kulturellen, historischen Ursachen hat die Piraterie vor Somalia? Welche Motive haben die Piraten? Wer sind die Piraten? Wie sind die Piraten-Crews und ihre Verbündeten in den Häfen der Welt und in Somalia sozial organisiert? Löst die Piraterie soziale, wirtschaftliche, kulturelle oder ökonomische Änderungen aus?

Es ist gar nicht so einfach, Pirat zu werden. Man muss sich bewerben und nur, wer geeignet ist, darf mit hinaus fahren. Man kann sich z.B. bei Hassan Ali Mohammed, einem der so genannten Piraten-Chefs von Somalia, bewerben - angeblich. Unabdingbar sind Mut, Risikobereitschaft, Besitz einer Schusswaffe und Akzeptanz der Todesgefahr. Die meisten Bewerber sind zwischen 20 und 25 Jahre alt. Von Bewerberinnen hat man noch nichts gehört, es ist ein typischer Männer-Beruf.

Die ersten Piraten waren Fischer, deren Lebensgrundlagen von illegalen Fisch-Trawlern und durch im Meer abgekippten Giftmüll zerstört wurden. Die Leute hatten nichts mehr zu essen und der Giftmüll machte sie krank. Ein "alter Pirat", Ali Isman, der beim ersten Piratenüberfall dabei war, wie er behauptet, sagt, sie hätten auf ihre Situation aufmerksam machen und beweisen wollen, dass man selber sehr wohl etwas an der unerträglichen Lebenssituation ändern könne. Und Abdirashid Ahmed, einer der so genannten "Piratenkönige", ergänzt: "Wir werden vom Hunger getrieben, schaut euch einfach unser Land an und wie zerstört es ist. Wir sind Leute ohne Hoffnung und ohne Möglichkeiten, das treibt uns in die Piraterie." (2)

Die Piraterie hat eine lange Geschichte in Somalia. Seit etwa 200 Jahren wird sie dort betrieben. Pirat zu sein galt als angesehener Beruf, der ausschließlich den geschicktesten Seefahrern vorbehalten war. Die Piraten stehen in der regionalen Tradition der "shifta" des 19. Jahrhunderts. Shifta bedeutet Bandit, Rebell, outlaw oder Revolutionär - je nach Standpunkt.

Die shifta entstanden als eine Art lokale Miliz in den regierungsfeindlichen Bergen Nordost-Afrikas, entwickelten sich aber bald zu marodierenden Räuberbanden, die die kolonialen Grenzen souverän ignorierten. Die Kolonialmächte versuchten vergeblich, die shiftas zu kontrollieren, die ab 1905 eine wichtige Rolle im antikolonialen Widerstand gegen das Deutsche Reich in Ruanda, während des Zweiten Weltkriegs im Kampf gegen die faschistische italienische Besetzung Äthiopiens bzw. im antikolonialen Befreiungskampf Puntlands (3) gegen Italien und nach dem Zweiten Weltkrieg im antiimperialistischen Befreiungskampf gegen die Briten spielten - eine Tatsache, die von den Veteranen der British Army bis heute nicht vergessen ist. In den Augen der Imperialisten galten sie als marodierende, schwer bewaffnete, ruchlose outlaws, die um des Tötens willen töteten und menschliches Leben gering achteten, wenn es ihnen beim Vergewaltigen oder Rauben in den Weg kam. Angeblich lieferten die shifta Gefangene an ihre Frauen aus, die sie verstümmelten, bevor sie einen qualvollen Tod starben. Ähnliche Geschichten waren über die historischen Piraten im Umlauf.

Aber die Rolle der shifta, das shiftinnet, ist noch komplexer. Der Ausdruck kann auch einen sozialen Status bezeichnen sowie die Revolte gegen unpopuläre Autoritäten bzw. gegen eine Institution, die es versäumt, Gerechtigkeit walten zu lassen. Das shiftinnet besaß immer zwei Aspekte: den des Banditentums und den der Rebellion. Seine Existenz enthüllte die strukturelle Gewalt, die die Basis jeder Klassengesellschaft bildet. Ein shifta zu werden, war eine sozial akzeptierte Handlungsweise, mit der Missstände in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt werden konnten, um auf diese Weise Unterstützung und Zustimmung für den Kampf gegen die Autoritäten zu organisieren, die die üblichen Rechte verletzt oder ignoriert hatten. Durch ihren rebellischen Kampf gegen die Herrschaft wurden shifta zu Champions der Unterdrückten und Repräsentanten der Ausgebeuteten, die die Reichen beraubten und die Armen beschenkten. Sie werden als banditische Helden und Versorger des Sozialverbands gesehen, die im Kampf gegen den Westen die traditionelle soziale Ordnung aufrecht erhalten. Shiftinnet besitzt einen gewissen Rebellen-Mythos sowie einen Aspekt skrupellosen patriarchalischen Gangstertums.

Es gelten strenge Piratenregeln

Dasselbe gilt für die heutigen Piraten, die diese Ianus-Köpfigkeit mit den historischen Piraten der Karibik gemeinsam haben. Mit einem Wort: shiftinnet in seinen verschiedenen Formen besaß eine bedeutende soziale Funktion und war eine sozial verankerte Möglichkeit zur Lösung von Konflikten.

Der Philosoph Immanuel Kant nannte diese Form der Konfliktlösung durch die soziale Revolte im Kontext der Hungeraufstände der pauperisierten Massen Ende des 18. Jahrhunderts abschätzig "agere per turbas": im "Rottieren" konstituiere sich der Pöbel als das antagonistische Andere der bürgerlichen Nation. Für Kant war der Pöbel die Nichtordnung, die Negation des Bürgerlichen, der lebendige Nichtwert, der gegenwartsbezogen auf die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung statt auf die Zukunft des St. Nimmerleintages ausgerichtet war.

Wie die historischen shifta - und wie die karibischen Buccaneers - haben sich die heutigen somalischen Piraten bestimmte Regeln gegeben, deren Einhaltung von mobilen Gerichtshöfen überwacht und mittels eines Systems differenzierter Strafen sanktioniert wird. Die wichtigsten Piraten-Regeln sind: Mitglieder der Crew eines überfallenen Schiffs werden nicht attackiert und verletzt, Frauen nicht vergewaltigt. Zweitens: man vermeidet Situationen, in denen man selbst verletzt werden könnte. Drittens: Gewalttätigkeiten unter Piraten sind streng verboten - wenn ein Pirat einen anderen tötet, wird er hingerichtet und den Haien zum Fraß vorgeworfen. Wer einen anderen Piraten verletzt, wird ausgeschlossen und innerhalb des piratischen Netzwerks isoliert. Schließlich wird die Beute nach festen Regeln geteilt, wobei diejenigen, die ein größeres Risiko eingehen, einen größeren Anteil erhalten. Derjenige, der zuerst an Bord geht, erhält einen doppelten Anteil - das ist der, der als erster getötet oder verletzt wird, wenn es schief geht. Also teilen mit Risikozuschlag.

Das Vorbild für die Gerichtsbarkeit der Piraten sind die traditionellen Clan-Gerichte, die sie für ihre Zwecke adaptiert haben. Das bedeutet, dass sich die Älteren nach Bedey, unweit der Hafenstadt Eyl zurückziehen, wo sie in Sicherheit und ungestört über Konflikte und Streit unter den Piraten beraten. Wird ein Pirat verurteilt, folgt die Strafe schnell, denn Gefängnisse gibt es nicht. Weiter südlich, bei Hobyo und Xharadhere, gilt die Autorität des Gerichts von Bedey jedoch nicht. Die Wirksamkeit der Regeln steht außer Frage: bislang kam erst ein Besatzungs-Mitglied bei einem Überfall zu Tode, wobei nicht geklärt ist, ob es von Piraten oder von französischen Soldaten bei der Befreiung getötet wurde. Alle anderen behaupteten Todesfälle sind nicht belegt.

Die Piraten-shiftas gibt es seit rund 20 Jahren. Sie bilden eine paramilitärische Bruderschaft mit einem strengen und komplexen System von Regeln und Strafen. Sie sind als Multitude Hunderter kleiner Zellen mit exzellentem Kommunikationssystem entlang der Küste organisiert und an ein globales informelles Netzwerk somalischer EmigrantInnen angeschlossen. Ihre wichtigsten Stützpunkte an Land und damit Zentren der piratischen Ökonomie sind das abgelegen und schwer erreichbare Eyl und Xharadhere, ein faszinierendes Piratennest.

Nach Auskunft des Piraten Hasan Shukri wird in Xharadhere jeden Morgen ein Piraten-Plenum abgehalten, auf dem Berichte über die letzten Geschehnisse auf dem Meer und alle möglichen Informationen ausgetauscht werden. Die Versammlung beschließt, was zu tun ist: Verstärkung aussenden, ein gekapertes Schiff näher zur Küste bringen oder was auch immer.

Die katastrophalen Lebensverhältnisse in Somalia haben während der vergangenen 20 Jahre zu einer stetigen Emigration geführt. Allein in der letzten Dekade verließen mehr als eine Million Somalis das Land, Richtung Kenia, Jemen, Kanada und sonst wo hin, so dass Somalis heute überall auf der Welt leben und ein lockeres soziales Netzwerk bilden.

Dank moderner Telekommunikationstechnologie sind die somalischen EmigrantInnen manchmal in das piratische Netzwerk eingebunden und informieren die Piraten über Ladung, Sicherheitsmaßnahmen, Abfahrtszeiten oder das Passieren der Schiffe. Auf dem Meer vor Somalia sind die Piraten-Crews in kleinen, sehr schnellen Booten unterwegs, was ihnen immer einen Vorteil gegenüber Fracht- und sonstigen Schiffen verschafft. Schon die historischen Piraten wussten, dass Geschwindigkeit und Wendigkeit wichtiger als schwere Bewaffnung und die Zahl der Kanonen sind. Zusätzlich verfügen sie über modernstes Hightech-Equipment fürs Meer, wodurch sie in der Lage sind, interessante Schiffe schon aus einer Entfernung von 200 km zu entdecken und zu checken. Mittels der Registriernummer jedes Schiffes können sie heraus finden, wer EignerIn ist, wie reich er oder sie ist, welche Ladung an Bord ist und woher die Besatzung stammt.

Die Multitude: Hunderte kleine Piraten-Zellen

Gerne in der Nacht nähern sich die Piraten ihrem Ziel, feuern mit den AK 47 ein paar Warnschüsse ab und entern das Schiff: 20 Meter hohe Bordwände werden in voller Fahrt bei stockdunkler Nacht erklommen - eine unglaubliche Leistung. Hilfsmittel sind der traditionelle, gut bekannte Enterhaken und moderne ausziehbare Leichtmetallleitern. Beliebte piratische Taktik ist es, sich von achtern zu nähern und mit dem Enterhaken, an dem ein langes Seil befestigt ist, auf die Öffnung zu zielen, durch die die Ankerkette geführt wird. Gelingt der Wurf, können die Piraten relativ leicht und unbemerkt an dem Seil aufs Schiff klettern.

Einmal an Bord, wird das Schiff durchsucht und festgestellt, welche Ladung es hat und wie viele Seeleute an Bord sind. Dann wird der Kapitän angewiesen, das Schiff Richtung Küste zu steuern. Die schlecht bezahlten, meistens asiatischen Besatzungen denken gar nicht daran, ihre Haut zu riskieren und wehren sich normalerweise nicht, auch wenn es Beispiele dafür gibt, dass sie sich mit Wasserschläuchen, Mollies und Feuerlöschern verteidigten. Manche Besatzungen erhalten einen zusätzlichen Zwei-Tage-Lohn als Gefahrenzulage.

Anfangs führte eine Piraten-Kombo solch einen Überfall oft allein aus, aber seitdem die Industriestaaten Kriegsschiffe in die Region entsandt haben, wenden sie häufiger die Schwarm-Taktik an, bei der ca. 20 Boote mehrere Ziele gleichzeitig attackieren und Ablenkungsangriffe führen, um die Kriegsschiffe zu verwirren, wie der Kapitän des türkischen Kriegsschiffs "Gokova", einer der NATO-Piraten-Jäger, mit einem Unterton der Bewunderung feststellte. Weil sie außerdem ihr Operationsgebiet weiter hinaus auf das Meer verlegt und nach Süden Richtung Seychellen ausgedehnt haben, sind sie dazu über gegangen, als Fischerboote getarnte Schiffe als Versorgungsbasis für Treibstoff, Wasser und Nahrung zu benutzen.

Wollen Piraten tagsüber ein Schiff entern, verstecken sie ihre Waffen, tarnen sich als Fischer, als in Seenot Geratene oder als Schiffbrüchige - ein ebenfalls in der historischen Piraterie gern benutztes Mittel, das einfach, leicht erlernbar, ökonomisch und sehr effektiv ist. Inzwischen wird allerdings jeder Fischer prophylaktisch als potenzieller Pirat verdächtigt.

Im Laufe eines Jahres haben die Piraten viel gelernt, ihre Überfälle werden laut Royal Institute of International Affairs - einem einflussreichen britischen think tank, der an Möglichkeiten zum Niederringen der Piraterie arbeitet - "immer ausgeklügelter". Ist eine Kaperung erfolgreich beendet und das Lösegeld kassiert, werden alle Beteiligten des piratischen Netzwerks ausgezahlt: Die Crews, die aus erfahrenen Fischern und Kämpfern gebildet werden, die technischen Experten, die Agenten in den Häfen, die Spione in den maritimen Versicherungsunternehmen, die Dolmetscher (darunter auch Studierende, die sich in den Semesterferien etwas Geld hinzu verdienen), die Organisatoren, die Finanziers, die Catering-Unternehmen, die Geld-Wäscher, die Waffenkäufer, die Sprecher und Unterhändler usw.

Die Frauen, die für die Geiseln kochen, erhalten bis zu 1.200 US-Dollar und damit das Doppelte des jährlichen somalischen Durchschnittseinkommens. Das Lösegeld stammt in der Regel nicht von den betreffenden Reedereien, sondern von deren Versicherungen, z.B. von Lloyds aus London. Der Beute-Anteil der Piraten-Crews, die einen Überfall ausführen, ist nicht immer gleich. Es scheint, dass sie etwa 50 Prozent der Beute erhalten, an die InvestorInnen und in die Rücklagen für zukünftige Überfälle fließen 20 bis 30 Prozent und alle anderen erhalten zusammen den Rest.

Piraterie lohnt sich, denn 80 Prozent des Welthandels findet auf Schiffen statt. 16.000 Schiffe und 30 Prozent aller Öllieferungen für Europa, sieben Prozent des gesamten Welt-Öl-Konsums pro Jahr, 10 Prozent des gesamten Seehandels usw. nehmen den Weg durch den Golf von Aden. 2008 sollen die Piraten 50 Mio. US-Dollar verdient haben - steuerfrei, wie ein Artikel im Wirtschaftsteil der New York Times etwas neidisch bemerkte.

Die Piraten selber geben an, sie würden das Lösegeld zum Aufbau von Infrastruktur im Bereich von Gesundheit und Sicherheit einsetzen und an lokale karitative Einrichtungen geben. "Das Geld, das wir von den Schiffen einsammeln, ist kein Einkommen, das in die Taschen einer einzelnen Person fließt", stellt der Pirat Indianda klar. (4)

Andere Medien behaupten, sie würden ihr Geld nur für sich und ihre Geschäfte einsetzen und machen ihnen fehlenden Aufbauwillen und mangelndes Engagement in Somalia zum Vorwurf. Abgesehen vom Neid, der aus diesen Vorwürfen spricht, wird in ihnen deutlich, dass die piratischen communities als Folge der Zerstörungen ihrer materiellen und sozialen Existenzgrundlagen unerträgliche Probleme aller Art haben - aber eben nicht den Wunsch, unbedingt einen starken Nationalstaat, eine Demokratie nach westlichem Muster, gute Bedingungen für profitable Investitionen usw. schaffen zu wollen.

Im Gegenteil - es ist schon fast ein "Alleinstellungsmerkmal" der somalischen Gesellschaft, dass sie seit jeher das Entstehen einer zentralen staatlichen Autorität in einem unablässigen Zyklus von Rebellionen und Widerstand bekämpft. Tatsächlich lösten die aus den Schatzkisten reicher globaler Versicherungsunternehmen in das verhungernde Somalia transferierten Lösegelder einen Wirtschaftsboom in den Regionen um Eyl, Garoowe, Hobyo, Bossaaso, Xharadhere und anderswo aus.

Die Piraterie ist sozial akzeptiert, sie wird als Arbeit betrachtet. Jungen geben als Berufswunsch "Pirat" an und Mädchen träumen davon, einmal einen Piraten zu heiraten. Piraten besitzen Prominenten-Status, genießen ein süßes Leben, haben Geld, kaufen massig Lebensmittel für die Familie, bauen neue Häuser, fahren die schicksten Autos, amüsieren sich mit den neuesten TV-Flachbildschirmen, heiraten die attraktivsten Frauen - und davon gleich zwei oder drei. Man könnte auch sagen: Sie verschaffen sich den Lebensstandard der westlichen oberen Mittelklasse und leben den Traum vieler weißer Männer.

Wirtschaftsboom in somalischen Regionen

Das Geld wird schlicht und ergreifend mit vollen Händen verprasst, gemeinsam mit dem Sozialverband des Sub-Clans, der Familie und des Freundeskreises. Kommen die somalischen Piraten an Land, versammeln sich die Leute an der Küste zum Feiern, und Händler bauen ihre Stände mit Zigaretten, leckerem Essen und kalten Getränken auf. Die Küstenorte profitieren, Teile des Handel treibenden Bürgertums arbeiten mit den Piraten zusammen, es gibt neue Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten auch für Nicht-Piraten. Reicht das Geld für ein Leben "in Saus und Braus" nicht oder nicht mehr aus, muss wieder gearbeitet werden.

Die soziale Struktur der Piraten und ihre geographische Herkunft spiegeln die Clan-basierte Sozialstruktur Somalias wider, die die kolonialen Nationalitätsgrenzen zum Jemen, nach Äthiopien, Djibouti und Kenya überschreitet. Dennoch sind, anders als im Goldenen Zeitalter der Piraterie, die piratischen Sozialverbände nicht multi-national, sondern multi-clanish, also Clan-übergreifend, zusammengesetzt, was eine außerordentlich tief greifende und erstaunliche Änderung der Sozialstruktur Somalias bedeutet. Sogar die unaufhörlichen und manchmal gewalttätig ausgetragenen Rivalitäten zwischen den Clans unterbleiben.

Es ist nicht absehbar, ob sich diese Änderungen auf Dauer verfestigen werden und ob bzw. welche weiteren Folgen gegebenenfalls daraus entstehen. Die "produktive Zerstörung" traditioneller Sozialstrukturen als Folge ihrer kapitalistischen Durchdringung ist historisch gesehen jedenfalls nichts Neues. Dank dieser Entwicklung wird das globale piratische Netzwerk gestärkt, wodurch wiederum die notwendige logistische, politische und soziale Unterstützung gesichert wird. Das brachte in den USA schon Überlegungen auf den Tisch, in Guantanamo einen speziellen "Jack-Sparrow-Trakt" einzurichten, die als Piraten-Hochburgen bekannten somalischen Häfen zu bombardieren, die Genfer Konvention von 1958 um einen Passus zu erweitern, der Piraterie als Verbrechen gegen die Menschheit definiert, wodurch Piraten vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gebracht werden könnten oder zumindest Schauprozesse gegen Piraten abzuhalten.

Vorerst jedoch versuchen die EU und die USA gemeinsam mit China, Indien und Russland sowohl die See vor Somalia als auch die piratische Sozialstruktur samt der sie unterstützenden und tragenden sozialen Verhältnisse zu durchdringen und unter Kontrolle zu bekommen. Die Mission Atalanta genannte Piraten-Jagd ist Teil der "Dritten Font" im amerikanischen war on terror und besitzt zwei zentrale Aspekte: den militärischen mit den Kriegsschiffen zur direkten Repression und den sozialen mit der intensiven Ausforschung und Durchdringung der Sozialstruktur der Piraten samt ihrer sozialen Basis und den lokalen Unterstützer-communities. Gelänge dies, rückte auch die Ausbeutung der reichhaltigen Rohstoffe Somalias näher. Zur Zeit (Juli 2009) nehmen etwa 15 Schiffe an der Jagd auf die somalischen Piraten teil.

Es ist überraschend, dass die Mission Atalanta ausgerechnet nach einer weiblichen Figur aus der griechischen Mythologie benannt wird. Atalanta war eine hervorragende Jägerin und wunderschöne Frau, die keinen Mann haben wollte. Mit ihrer Tapferkeit beschämte sie ihre männlichen Jagdgenossen. Eines Tages nahm Atalanta als einzige Frau an der Jagd auf einen wilden Eber teil, der auf den Feldern der Stadt Kalydon schlimme Verwüstungen anrichtete. Atalanta verwundete den Eber, so dass es Meleager, dem Chef der Jagdpartie, gelang, ihn zu töten. Damit hatte er das Recht erworben, die Beute aufzuteilen, und Meleager überließ Atalanta den Kopf des schrecklichen Untiers, was zu Aufruhr unter den Jägern führte, die meinten, einer Frau stünde solch eine Auszeichnung nicht zu. In den folgenden Auseinandersetzungen tötete Meleager die Krawallmacher und heiratete danach Atalanta, weil die beiden sich beim Jagen ineinander verliebt hatten.

Die public relations-ExpertInnen der Anti-Piraten-Mission Atalanta haben sich zwei Elemente aus dem Mythos herausgepickt: die Jagd als Rudel und den gemeinsamen Feind, in diesem Fall die somalischen Piraten. Es ist nicht überliefert, ob Atalanta auch eine gute Schwimmerin war, und was an Land gegen einen einzelnen Eber funktionierte, muss nicht auf See gegen eine Multitude gut organisierter Piraten-shifta klappen. Abgesehen davon, dass am Ende nicht nur der Eber, sondern bis auf zwei auch alle Jäger tot waren. Die Menschen der Stadt Kalydon waren für die Gefährdung ihrer materiellen Lebensgrundlagen durch eine urtümliche Naturerscheinung selbst verantwortlich, denn sie hatten es an Respekt gegenüber der Göttin Artemis mangeln lassen, weshalb Artemis den Eber aus Rache sandte. Von Somalia kann dagegen nicht gesagt werden, dass die KüstenbewohnerInnen die Zerstörung ihrer Existenzgrundlagen durch Raubfischerei und Giftmüllverklappung selber zu verantworten hätten.

Atalanta-Mission stellt Geschichte auf den Kopf

In ihrer Adaption des Mythos stellt die EU die Welt auf den Kopf: Die Atalanta Mission verteidigt von der EU beanspruchte Ressourcen gegen die ihrer Menschlichkeit und Legitimität beraubten angeblichen "Feinde der Menschheit". In einigen Versionen des Mythos endete die Geschichte der selbstbewussten Atalanta nicht mit ihrer Unterwerfung unter das Joch der Ehe: Sie wurde eine der ArgonautInnen, die sich per Schiff auf den Weg machten, um das Goldene Vlies zu rauben, mit anderen Worten: Atalanta wurde Seeräuberin - und kehrte siegreich heim. Auch die Geschichte der somalischen Piraten ist noch nicht zu Ende. Wenn Atalanta und Meleager heute auf die Jagd gingen, würden sie gemeinsam mit der piratischen Jagdgesellschaft gegen den wilden Eber aus dem Norden vorgehen und die Geschichte damit wieder vom Kopf auf die Füße stellen.

Ralph Müller

Anmerkungen:

1) "Survivors of somali pirate attack tell of months of horror at sea", The Cornell Daily Sun, 15.11.2007

2) Mohammed Adow: The pirate kings of Puntland, siehe http://english.aljazeera.net/news/africa/2009/06/2009614125245860630.hml (15.6.09)

3) Puntland ist eine Region im Nordosten Somalias, die sich 1998 im Kontext des somalischen Bürgerkriegs zum autonomen Teilstaat ausrief.

4) Liam Bartlett: The pirate coast, siehe http://sixtyminutes.ninemsn.com.au/article.aspx?id=793845 (29.3.09)