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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 541 / 21.8.2009

Aufgeblättert

Überleben im Lager

"Die schönen Tage meiner Jugend" nennt Ana Novac ihr Erinnerungsbuch. Ein irritierender Titel angesichts der Tatsache, dass die 1929 in Siebenbürgen geborene Autorin 1944 als Jüdin nach Auschwitz deportiert wurde, von dort ins Arbeitslager Plaszow und wieder zurück nach Auschwitz; fünf weitere Lager überlebte sie. Von Juni bis September 1944 hält Ana Novac das Erlebte fest, dann stoppt sie eine schwere Erkrankung. Sie kritzelt auf Papierfetzen, fordert sogar vom Lagerkapo ein richtiges Heft: "Ich muss schreiben. (...) Ich brauche ein Heft. Ich bin Schriftstellerin." Sie erhält das Heft und einen Bleistift. Nicht nur der Titel ihres Buches erinnert an Roberto Benignis Film "Das Leben ist schön". Ana Novacs Ton ist weniger dokumentarisch als kommentierend, sie unterlegt das Erlebte mit einer angesichts der lebensbedrohlichen Situation überraschenden Komik, einem sehr eigenen schwarzen Humor. Sowohl die Härte der Häftlinge untereinander als auch die Gewalt der Deutschen (in ihren Aufzeichnungen "die Fritzen") sind Gegenstand ihrer Aufzeichnungen. Ihre Befreiung durch die Rote Armee erlebt Ana Novac am 6. Mai 1945 in dem Lager Kratzau in der Tschechoslowakei, auch dies eine gefährliche, gewalttätige Situation: "Mit ihrer frustrierten, aber gebieterischen Libido fielen sie über Lebende, Tote oder Sterbende her. Ohne Unterschied. In der besten Tradition der Sieger." Erst zum Ende der 1960er Jahre konnte Ana Novac Rumänien, das sie als Gefängnis empfand, verlassen. Im Juli feierte sie ihren 80. Geburtstag in Paris, "der Stätte meiner Träume", wo sie heute lebt.

Raphaela Kula

Ana Novac: Die schönen Tage meiner Jugend. Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2009, 310 Seiten, 22,90 EUR

Überwachung und Gegenwehr

Die Initiative Leipziger Kamera engagiert sich seit 2003 gegen Überwachung u.a. mit überwachungskritischen Stadtführungen, Vorträgen, Kampagnen- und Bündnisarbeit, Radio gegen Überwachung und Kontrolle, Verleihung des Leipziger Erich-Mielke-Gedächtnispreises und einem Kamerastadtplan der Leipziger Innenstadt: "Vom Anbeginn unserer Arbeit haben wir die allgegenwärtige Ausweitung von Überwachungspraktiken als Symptom des Wandels kapitalistischer Regulation begriffen. Dadurch unterscheiden wir uns von der liberalen Mehrheit der DatenschützerInnen und BürgerrechtlerInnen." Mit "Kontrollverluste" hat die Initiative eine umfassende Zusammenstellung zum Thema herausgegeben und darin 33 Texte linker AktivistInnen und kritischer WissenschaftlerInnen versammelt. Aktuelle Entwicklungen im Überwachungsbereich und deren gesellschaftlicher Kontext werden analysiert, kritische Blicke auf aktuelle Bürgerrechtskampagnen geworfen, die staatliche Repression gegen linke AktivistInnen sowie in den üblichen Debatten oftmals übersehene betroffene Gruppen wie MigrantInnen, Erwerbslose, Jugendliche und Frauen beschrieben. "Solange wir in Verhältnissen leben, die fortwährend Verlierer und Überflüssige produzieren, so lange braucht es auch Überwachung, um diese Verhältnisse aufrecht zu erhalten und die Unzufriedenen und Ausgeschlossenen zu kontrollieren. Daher lässt sich Überwachung nicht als isoliertes Phänomen betrachten", schreiben die HerausgeberInnen. Dagegen helfen juristische Mittel; Interventionen, die mit dem Mittel der künstlerischen Irritation versuchen, Bewusstseinsbildungsprozesse anzuregen; direkte Aktionen gegen Überwachungsinfrastrukturen; die theoretische Kritik der Voraussetzungen der Überwachung und der Versuch, andere mit Argumenten zu überzeugen. Leider wird die überwachungskritische Praxis weniger ausführlich dargestellt als die Analyse.

Marc Amann

Leipziger Kamera (Hrsg.): Kontrollverluste. Interventionen gegen Überwachung. Unrast Verlag, Münster 2008, 256 Seiten, 18 EUR

Alternative Gesellschaften

Das Buch geht auf das Ausstellungsprojekt "Alternative Economics, Alternative Societies" zurück, das Oliver Ressler seit 2003 in bisher 21 Städten durchgeführt hat. In diesen expandierenden Installationen präsentieren GesellschaftstheoretikerInnen, ÖkonomInnen und HistorikerInnen in Texten, Postern und Videos Modelle alternativer Gesellschaften. Gemeinsam ist ihnen die Zurückweisung des kapitalistischen Herrschaftssystems; sie tun dies allerdings aus sehr unterschiedlichen Perspektiven: Am Beispiel historischer Erfahrungen wie der Pariser Commune, dem jugoslawischen Sozialismus oder der Spanischen Revolution werden (auch damals umstrittene) Versuche beschrieben, Momente der direkten Demokratie mit Ansätzen einer selbstverwalteten Ökonomie unter militärisch schwierigen Bedingungen zu verknüpfen. Die Ökonomin Nancy Folbre erklärt anhand ihres Verständnisses von "Caring Labor", warum gegenseitige Fürsorge unterbewertet ist und auf Dauer erodiert, wenn sie unter Bedingungen der Marktkonkurrenz bereitgestellt wird. Andere Beiträge erläutern, was eine freie Kooperation wäre (Christoph Spehr), wie feministische Utopien aussehen (Marge Piercy) oder wie Frauen innerhalb der zapatistischen Bewegung ihre Rechte durchsetzen. Bei den Beiträgen handelt es sich um die Transkriptionen der Videos, die Teil der Installationen sind. Sie sind anregend erzählt; den SprecherInnen gelingt es, die konkret geschilderten Erfahrungen und Vorschläge im größeren gesellschaftlichen Kontext zu verorten. Das Buch ist eine inspirierende Sammlung teils widersprüchlicher Facetten einer möglichen alternativen Gesellschaftsentwicklung.

Iris Nowak

Oliver Ressler (Hrsg.): Alternative Ökonomien, Alternative Gesellschaften, Promedia Verlag, Wien 2008, 228 Seiten, 19,90 EUR

Fußball und Politik

Simon Kuper, ein englischsprachiger Journalist, der einen Großteil seiner Kindheit in den Niederlanden verlebte, beginnt seine Aufsatzsammlung "Football against the enemy. Oder: Wie ich lernte, Deutschland zu lieben" mit einer grandiosen Betrachtung zur deutsch-niederländischen Fußballfeindschaft: "Alles begann an einem Sommerabend in Hamburg im Jahr 1988, als die Holländer Deutschland im Halbfinale der Europameisterschaft mit 2:1 besiegten. Die in der Heimat Zurückgebliebenen sorgten danach für eine Sensation: Neun Millionen Niederländer, über 60 Prozent der Bevölkerung, zog es zum gemeinsamen Feiern hinaus auf die Straße. Obwohl es sich um einen Dienstagabend handelte, stellte dies die größte öffentliche Versammlung seit der Befreiung 1945 dar. ,Ich fühle mich, als hätten wir den Krieg doch noch gewonnen`, sagte ein ehemaliger Widerstandskämpfer im Fernsehen." Glaubt man dem Autor, dann ist die alte Rivalität heute weitgehend verschwunden - eine These, über die sich streiten ließe. Auch die anderen Aufsätze über politische und gesellschaftliche Implikationen des Fußballsports liefern Stoff für Debatten. Originell, witzig und brillant geschrieben sind sie alle, ob es nun um legendäre Trainer (Helenio Herrera), charismatische Spielerpersönlichkeiten (Roger Milla) oder um Typen geht, die zwischen Genie und Wahnsinn schwanken (Paul Gascoigne). Der konservativen Londoner Times ist zuzustimmen, was ihre Buchempfehlung angeht: "Sollten Sie Fußball mögen, lesen Sie es. Sollten Sie Fußball nicht mögen, lesen Sie es."

Js.

Simon Kuper: Football against the enemy. Oder: Wie ich lernte, Deutschland zu lieben. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2009, 379 Seiten, 16,90 EUR