Der Fragebogen als Drehbuch
Es wäre ein Film über die Krise gewesen
Eine Autofahrt entlang einer Route, die sich aus Zeitungsmeldungen über Entlassungen und Kurzarbeit in Betrieben ergibt. Auf der Suche nach den aktuellen Erscheinungsformen der Krise und potenziellen Subjekten der Veränderung befragen wir GewerkschafterInnen, entlassene ZeitarbeiterInnen, prekär Beschäftigte oder schon lang Verstorbene, deren Erzählung das Material für ein mögliches Drehbuch über die Krise wird. Das Auto bildet dabei die Kulisse eines Sichtens und Sprechens über diese Begegnungen, die vorgefundenen Alltagsrealitäten, Geschwindigkeiten, Ängste, Projektionen und Momente des Widerstands.
Schwarzes Bild. Es geht los auf einer Straße. Die Kabine eines Lastwagens ist schräg ins Bild gesetzt. Der Fahrer ist gerade dabei, den Motor zu starten. Von rechts tritt ein Mann in das Bild und wendet sich an den Fahrer.
Tom: Nehmen Sie mich mit, Mister?
Lastwagenfahrer: Sagen Sie, können Sie nicht lesen?
Close up auf die Frontscheibe des Lastwagens:
Aufkleber: NO RIDERS ALLOWED, INSTRUCTIONS OF OWNER
Tom: Doch schon, aber was kümmert sich ein guter Kerl drum, was man ihm an die Windschutzscheibe pflastert?
Lastwagenfahrer: Na gut. Stellen sie sich aufs Trittbrett, bis wir um die Ecke sind.
Der Lastwagen fährt los.
Bild: Frontscheibe von außen angeschnitten. Tom links, Lastwagenfahrer rechts.
Lastwagenfahrer: Wo solls denn hingehen? Weit?
Tom: Nur ein paar Meilen. Bin gelaufen, aber meine Sohlen sind durch.
Lastwagenfahrer: Suchen Sie einen Job?
Zwei Personen, A und B, auf der Rückbank eines Autos. Sie halten jeweils ein Manuskript in der Hand. Die Geschichte des Films wird abgelesen werden. Im Rückfenster hinter ihnen läuft der Spielfilm "Früchte des Zorns" von Tom Ford aus dem Jahr 1940 als Projektion weiter. Die Umgebung des Autoraums wird im Laufe der Zeit mit verschiedenen Projektionen bespielt werden. Die Personen werden ihre Position im Autoraum ändern. Mit Ausnahme des "Off" spielt der ganze Film an diesem Ort.
A: Es wäre ein Film gewesen.
Pause
B: Ja, das ist ein Film.
Pause
A: Es wäre ein Film über Geister gewesen. Die Geister der Krise. Des Kapitalismus. Und der Revolution.
B.: Ja, es wäre ein Film gewesen, ein Roadmovie.
Pause
B: Da erzählt er von seiner Menschwerdung, sie fand in voller Fahrt statt. Seine Biografie ist ein Roadmovie. Er gehört zur "Generation Golf" - und das, obwohl er immer Polo gefahren ist.
Blick durch die Windschutzscheibe auf eine stark befahrene Autobahn. Eine Baustelle. Aufgestellte Warnplanken, an den Seiten Baufahrzeuge.
Aus dem Off die Stimmen von A und B.
Er erzählt von seinem Vater, der war Stahlfacharbeiter in Bochum-Wattenscheid. Dort ist er aufgewachsen. Politik hat ihn fasziniert, als er begriff, dass da jemand war, der den Weg zur deutschen Einheit gestaltet hat: Helmut Kohl.
A: Was passiert jetzt?
B: Sie schweigen. Er hängt seinen Gedanken nach.
A: Denkt er über sein Leben nach?
B: Ja, es zieht an ihm vorbei, Bilder, Töne, Gerüche.
Er sagt: Unterwegs sein bedeutet alles, Stillstand den Tod.
Sie schmunzelt: Wo möchtest du denn hin?
Seine Augen kleben am Horizont, am Dort der Autobahn, das gleich das Hier sein wird. Sie fließt unaufhörlich durch ihn durch, die Leitplanke sichert ihn, weist ihm den Weg. Er fühlt sich wie ein Skispringer, der die Rampe hinunter rast - nur wird er nie springen, den Asphalt nicht verlassen.
Er antwortet: Es gibt keine Ziele mehr, spätestens seit Easy Rider gibt es keine Ziele mehr.
A: Bist du auf der Flucht?
B: Nein, auf der Flucht sind andere, ich bin nur unterwegs.
A und B im Chor: Unterwegs sein ist alles. Stillstand ist der Tod.
B: Er redet wieder, fast mechanisch.
A: Wovon spricht er diesmal?
A und B auf den Vordersitzen. Hinter ihren Silhouetten eine Projektion: langsame seitliche Fahrt vorbei an Spargelfeldern. Mit Plastikplanen bedeckte Erdhügel laufen am Horizont zu einem Fächer zusammen. Am Horizont kleinere Fabrikhallen und Bäume.
B: Von Freiheit und Selbstbestimmung, vom Rausch der Geschwindigkeit, von der Lust am Fahren, von der Symbiose.
A: Welche Symbiose?
B: Er meint sein Auto, er liebt es.
A: Was liebt er noch?
B: Seine Unabhängigkeit, die er hat, seitdem er sein erstes Geld verdiente.
Den Gedanken, dass alles schnell erreichbar ist, überall sein zu können, zur gleichen Zeit an mehreren Orten.
A: Was denkst du über Liebe?
Sie schweigen
A: Was passiert jetzt?
B: Sie schweigen. Jemand denkt über die Liebe nach.
A: Jemand?
B: Ja, jemand sagt: Ich mag meine Kollegen. Du kannst es Nächstenliebe nennen, dann lacht er.
Aus dem Autoradio ertönt ein Jingle, dann eine sachliche Nachrichtenstimme.
Radio: Die Rezession trifft auch China und bedroht dort den sozialen Frieden, der nicht zuletzt mit der Aussicht auf künftigen Wohlstand gesichert wurde. Auf dem Bild stürmen Arbeiter einer Fabrik in der Provinz Guangdong die Büros der Firma. Sie sind entlassen worden, weil Aufträge ausblieben.
Die Fahrt vorbei am Spargelfeld füllt das gesamte Bild. A und B aus dem Off.
B: Ich bin nicht betroffen, bin nicht betroffen.
A und B im Chor: Wir sind nicht betroffen ...
A: Wir haben immer nur Schulden gemacht. Wir können jetzt lachen. lacht
Ich stelle mir vor: Schlangen vor Lebensmittelläden. Eingeworfene Schaufensterscheiben. Brennende Autos. Siehst du sie?
B: Ja, ich sehe sie.
A: Ich stelle mir vor: Entwaffnete Offiziere. Matrosen, die den Befehl verweigern, den Anker zu lichten, die Militärgefängnisse stürmen und ihre Kameraden befreien. Siehst du, wie die Matrosen öffentliche Gebäude und Bahnhöfe besetzen?
B: Ja, ich sehe sie.
Ich stelle mir vor: Aufgeregte Massen in den Straßen, Fahnen, besetzte Fabriken, diskutierende Menschen eng gedrängt in kleinen Räumen und Sälen. Siehst du sie?
A: Ja.
A und B auf den Vordersitzen. Eine Person lehnt sich von außen über die Windschutzscheibe und beginnt diese zu putzen. Die Scheibe wird abwechselnd mit Schaum bedeckt und frei gewischt. B guckt von seinem Skript auf, wendet sich zu A.
A: Kann man sich damit zufrieden geben, das Schaufenster einer Bank einzuschlagen?
B: Die Sensationslust hätte uns auf die Straße getrieben, das Gefühl, dass da was geht, hätte uns beflügelt. Wir hätten gesagt, dass es für uns keine große Umstellung gewesen wäre, weil wir ja bereits seit Jahren so lebten. Prekär. Nie wissend, wo die nächsten zwei Monate das Geld herkommen würde. Die Veränderung würde uns nicht treffen, weil es dasselbe wäre.
A und B schweigen, dann sortiert A seine Skriptblätter um und liest dann weiter.
A: Ich stelle mir vor: Klirrende Fenster unter Beifallsgebrüll. Menschen fliehen durch verrauchte Gänge, der Zugang zum Dach ist versperrt. Hörst du den Applaus?
B: Ja, ich höre viele Hände klatschen.
A: Ich stelle mir vor: Alles erholt sich, geht seinen Gang. Steigende Börsenkurse. Das Leben, das geht weiter. Siehst du, wie es weitergeht?
B: Ja, ich sehe die letzte Krise, die war eine des Internets. Ich sehe diese Krise, eine Wohnungskrise und die nächste?
A: Die nächste könnte eine Brotkrise sein.
B: Ich stelle mir vor, diese Krise ist eine Polizeikrise. Alle haben alles richtig gemacht. Fünfzig Jahre lang jeden Tag zehn Stunden gearbeitet. Ein Haus gekauft. Eine Familie ernährt. Und dann kommt die Polizei und will sie aus ihrem Haus rausschmeißen.
A: Alle, die sagen, sie wissen, die lügen. Alle die sagen, sie wissen, rufen die ExpertInnen an. Sie rufen die ExpertInnen, die keine wirkliche Expertise mehr entwickeln können. Als wolle man bei voller Fahrt seitlich aus dem Fenster guckend die Streben einer Schallschutzmauer zählen. Muster, abstrakte Muster einer Schallschutzmauer, die den Lärm der Straße von den Wohngebieten fernhält.
A und B sind durch die Seitenfenster im Auto zu sehen. Im Hintergrund die Projektion einer seitlich aufgenommenen Autobahnfahrt. Lastwagen werden überholt. Aufgrund ihrer Nähe nur noch ausschnittsweise sichtbar. Neuwagen auf Autotransportern scheinen vor der vorbeirasenden Landschaft ruhig vorbei zu schweben. Aus dem Radio der Jingle und die sachliche Nachrichtenstimme.
Radio: Tief unten im Keller des Berliner Medizinhistorischen Museums lagert ein gruseliger Fund: Neben Präparaten von Embryos auf staubigen Regalen steht ein Holzsarg. Darin liegt eine weibliche Leiche ohne Kopf, Hände und Füße. Fleckig und schmutzig grau ist der Körper und fest wie poröses Holz. Klopft man dagegen, tönt der Leib hohl. Während alljährlich im Januar Zehntausende glaubten, zu ihrem Grab auf dem Friedhof Berlin-Friedrichsfelde zu pilgern, vergammelte ihr Körper womöglich unbeachtet einige Kilometer entfernt im Keller der Berliner Rechtsmedizin - eine allmählich zerbröselnde Leiche.
B greift nach vorne und dreht das Radio aus. Die Projektion im Hintergrund friert ein.
A: Sie fragt sich, wie man in einem Film entscheidet, wem man die Stimme gibt und wem nicht?
B: Wieso? Was sucht sie?
A: Sie schweigt und starrt aus dem Fenster. Dann sagt sie, sie suche ein Sprechen, das nicht so sicher ist und das die eigene Position verändern will, eine Veränderung anstrebt. Sie denkt nach, sie fragt sich, ob es möglich ist, ohne Kopf, Hände und Füße eine Stimme zu haben und wie sie weniger abstrakt sprechen kann.
B: Sie könnte jemanden treffen, der betroffen ist.
Mit Wäsche behangene Leinen im Hinterhof eines Wohnblocks. Menschenleere. Wind. In gleichmäßigen Wellen erheben sich T-Shirts, Blusen und Unterwäsche.
Aus dem Off die Stimmen von A und B.
A: Sie entscheidet sich, jemanden zu treffen, den sie für betroffen hält. Sie fragt: "Worauf verlasst ihr euch im Moment?" Jemand erzählt vom Verlassen sein. Es wird eine Aufzählung.
B: Erfährt sie mehr?
A: Ja, eine Frau hinter einem Kundenterminal morst ihr mit dem Druckknopf eines Kugelschreibers: "Wir arbeiten die ganze Zeit, wir wissen aber nicht mehr wofür. Wir können das Ende und den Anfang der Ketten unserer Arbeit nicht mehr erkennen."
B: Aber arbeitet ihr aus Angst?
A: Ticketicketicke, A imitiert das Geräusch des Kugelschreibers. Mein Blick ist unscharf geworden. Nicht nur die Angst, die Arbeit und damit die Existenz zu verlieren, sind allgegenwärtig. Wir tun alles dafür, um unsere Arbeit zu behalten oder eine neue zu bekommen.
B: In einem Pavillon am Straßenrand ein Mann neben einer Spendendose. Er gibt ihr Antwort auf weitere Fragen. Er sagt: "Es ist nicht klar, wie es weitergehen wird. Ob jetzt Kurzarbeit kommt oder ob die Firma komplett geschlossen wird."
A: Ticketicketicke.
B: Er schenkt Filterkaffee in Tassen und fährt fort: Dass es in seiner Gegend kaum eine Chance gibt, mit 55 einen anderen Arbeitsplatz zu finden. Seine Frau bekommt jetzt 30 Prozent weniger Lohn und hat darin noch Glück, weil sie nicht ohne den zweiten Verdiener da steht. Er sagt: "Man ist leicht gereizt, nervlich fertig, schläft schlecht." Sein Kollege greift nach dem Kaffee, er brummt: "Das schlägt sich auf die ganze Familie, Freunde und Bekannte, also das ganze Umfeld nieder. Die Bonzen sitzen da oben. Man ist selbst bloß ein kleines Licht."
A: Was sagt er noch?
B: Er redet von Einschüchterung, von psychologischer Kriegsführung und der Gunst der Stunde. Die Stunde, die genutzt würde für Entlassungen und Zugeständnisse, die sonst nicht denkbar gewesen wären.
Das Radio springt wieder an.
Radio: Schenkt man Zeitungsberichten aus Italien Glauben, verzögert sich die Enzyklika des Papstes zur Wirtschaftskrise auch deshalb, weil der Vatikan angesichts des Vokabulars der Finanzwelt an die Grenzen seines Lateins stößt. Die Übersetzung der Fachbegriffe bereite Schwierigkeiten, heißt es.
A und B schauen von ihren Skripten auf und starren in die Kamera.
A und B im Chor: Wir haben unsere Kinder vernachlässigt, unsere Freundschaften, alles, was uns eigentlich wichtig war. Die Angst zerfrisst die freundschaftlichen Netzwerke. Unser Leben rast an uns vorbei.
A: Angstgespenster, es ist also ein Film über Angstgespenster. Auch unsere eigenen.
B: Verfolgt sie weiter ihren Fragenkatalog?
A: Ja, da ist einer Anfang 30, der sagt, er habe mehr gelernt in den vergangenen 10 Tagen als in seinem ganzen Leben, dass es ihm egal sei, ob er in Arbeit kommt oder nicht. Es sei ihnen von vornherein klar gewesen, dass die, die sich so weit aus dem Fenster gehängt haben, ohnehin nichts gewinnen werden. Dass es aber alle gesehen haben, dass sie etwas erreicht haben. Wenn ihr seht, dass ich hier spreche, sagt er. Wenn ihr seht, dass ich hier spreche. Und spricht.
B: Haben sie denn etwas erreicht?
A: Sie denkt: Es gibt keine Ziele mehr, spätestens seit Easy Rider gibt es keine Ziele mehr.
Er spricht.
B: Verstehst du, was er sagt?
A: Nein, er spricht auf polnisch, ich verstehe kein polnisch.
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