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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 542 / 18.9.2009

Kampf um die Straße mit Tränen in den Augen

Historische Themen mobilisieren und stärken die extrem rechte Szene nach Innen

100 Nazis waren es in Hamburg, die am 11. September gegen das "Randalefest" demonstrierten. "Für Recht und Ordnung in Hamburg steht alleine die NPD!" hieß es in deren Aufruf gegen das Schanzenviertelfest. Sicherlich hängt das aktuelle öffentliche Auftreten von Nazis nicht unwesentlich mit dem Wahlkampf der NPD zusammen. Aber ein Blick auf die letzten Monate zeigt, dass dies keineswegs der einzige Motor neonazistischer Aktivitäten gewesen ist.

Nach wie vor sind Kundgebungen und Aufmärsche ein wichtiger Bestandteil des öffentlichen Auftretens von Neonazis. Zwei Entwicklungen sind in dieser Hinsicht auffällig: Zum einen das immer offensivere Agieren bei ihren öffentlichen Veranstaltungen, vornehmlich von Seiten sogenannter Autonomer NationalistInnen, zum anderen eine ungebrochene Attraktivität historischer Anlässe und Thematiken. Wenn in Hamburg oder Lüneburg gegen "linke Gewalt" demonstriert wird, Neonazis in Cham "härtere Strafen für Kinderschänder" fordern, in Pinneberg der "Tag der deutschen Zukunft" aus der Taufe gehoben wird oder die NPD in Hannover mit Hermann dem Cherusker "sturmfest und erdverwachsen" die "Überfremdung" Deutschlands anprangert, sind dies Versuche, bei der Bevölkerung mit populistischen Themen zu punkten. Vor allem seit der Jahrtausendwende ist es der Bezug auf historische Jahrestage, der Nazis oftmals als Ewiggestrige erscheinen lässt. Dabei formulieren sie jedoch aus Vergangenheitsbezügen meist Interpretationen der Gegenwart sowie aktuell politische Forderungen.

In diesem Sommer war es die alte Geschichte vom Hitlerstellvertreter Rudolf Heß, anhand derer sich Nazis in einer für sie neuen Aktionsform versuchten. Da das Heß-Grab in Wunsiedel mittlerweile als Aktionsort ausscheidet, wurde mit so genannten Flashmobs, also kurzen Aktionen in verschiedenen Städten, versucht, den seit dem Verbot der Heßmärsche im Jahr 2005 etwas eingeschlafenen Mythos zu reaktivieren. Neben kleineren Aktionen rund um den Todestag von Heß, kamen am Abend des 15. August etwa 200 Neonazis zu einem Aufmarsch mit Fackeln und Trommeln in Friedland (Mecklenburg-Vorpommern) zusammen.

Antriebsfedern rechter Geschichtsverdrehung

Obwohl die Erzählung von Heß mit seinem Flug nach Schottland im Mai 1941 beginnt, rekurriert der interpretatorische Kern der Neonazis auf das Kriegsende, auf den Beginn des "BRD-Lügensystems" und auf die Nürnberger Prozesse, während derer Heß sein flammendes Plädoyer für den Nationalsozialismus hielt. Es ist die von den Nazis behauptete Unrechtmäßigkeit der Bundesrepublik - in ihren Augen auch heute noch "Besatzerstaat" - die diesem Mythos seine Aktualität verleiht. Doch nicht nur dieser, nahezu alle historischen Bezüge nehmen 1945 als Ausgangspunkt. Es müssen Erklärungen her, wieso der Nationalsozialismus, der nach wie vor als Vorbild und Ideenpool gilt, scheitern konnte. Die Gründe, anders ist es für Nazis nicht denkbar, müssen in einer Feindkonstellation liegen, die in ihren Augen noch immer wirkungsmächtig ist und die die Wiederauferstehung des "wahren Deutschlands" verhindert.

So liefern beispielsweise die seit 2006 jährlich stattfindenden Trauermärsche in Bad Nenndorf eine direkte Anklage an die Alliierten, in diesem Fall die britischen. Ende 2005 berichtete die britische Tageszeitung The Guardian über Misshandlungen von deutschen Gefangenen im "Winklerbad" in Bad Nenndorf. Von 1945 bis 1947 wurden hier NS-Funktionäre und angebliche Sowjetspione inhaftiert. Dies dient Nazis dazu, "deutsches Leid" mit "alliierten Verbrechen" zu kontrastieren. Wie in Bezug auf Heß sind die Motive Folter und Mord die Antriebsfedern neonazistischen "Unrechtsbewusstseins" und rechter Geschichtsverdrehung. Die Rechnung scheint aufzugehen: Der Aufmarsch um den 1. August herum, der im Jahr 2006 mit wenigen begann, mausert sich zum festen Termin - dieses Jahr kamen rund 700 Nazis zum Trauermarsch in die niedersächsische Kleinstadt.

Aber zumindest der 8. Mai als Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus sollte, so könnte man denken, Nazis ein Dorn im Auge sein. Doch entsprechend der geschichtspolitischen Umdeutung solcher Tage, gibt es seit 2001 ein "Ehrenkomitee 8. Mai". Durch das Feiern dieses Tages würden die "Opfer unseres Volkes" verhöhnt, wie Thomas "Steiner" Wulff, Vorstandsmitglied der NPD mit engen Kontakten zu den sogenannten Freien Kräften, in einem Flugblatt mit der Überschrift "8. Mai 1945 - Sie kamen als Besatzer nicht als Befreier" verlautbaren lässt. Um dem entgegen zu wirken, ruft dieses "Ehrenkomitee" alljährlich dazu auf, Gräber zu putzen und Gedenkveranstaltungen durchzuführen. Auf der Internetseite finden sich diverse Berichte und Fotos über Putz- und Gedenkaktionen - meist mit Feger, Putzeimer und Bürstchen. Darüber hinaus veranstalteten etwa 200 Nazis am Abend des 8. Mai einen Fackelmarsch in Demmin (Mecklenburg-Vorpommern), rund 50 Nazis kamen in München ebenfalls mit Fackeln zur "Totenehrung" zusammen.

Der Bezug auf den nationalsozialistischen Totenkult, die Anrufung der Toten mit der stellvertretenden Antwort "Hier!", ist gruselige Konstante neonazistischer Praxis zu verschiedenen Anlässen, bei weitem nicht nur zum 8. Mai. Wie das Internetportal Recherche Nord berichtet, ist es im übrigen eben dieses "Ehrenkomitee 8. Mai", welches die Veranstaltungen in Bad Nenndorf tatkräftig unterstützt. Ob als Appell mit Fackeln und Trommeln oder als schweigender Trauermarsch mit klassischer Musik und gesenkten schwarzen Fahnen, die feste, fast zeremonielle Form soll dem Totengedenken eine bedeutungsvolle, emotional bindende Ausstrahlung verleihen.

Mit Fackel und Putzeimer für den Nationalsozialismus

Um Tote geht es auch im fränkischen Gräfenberg, genauer gesagt um gefallene Soldaten der beiden Weltkriege. Seitdem die Stadt im Jahr 2000 das dortige Kriegsdenkmal mit Ritterkreuz-Aufbau an eine Vereinigung von ortsansässigen Vereinen verpachtet hat, finden dort regelmäßig Kundgebungen von Neonazis statt. Unter dem Motto "Denkmäler sind für alle da" mobilisierte der NPD-nahe "Freundeskreis Gräfenberg" seit 2006 über 40 Mal in die fränkische Kleinstadt. Dabei wird der Anlass durchaus variiert, etwa wenn es um Rudolf Heß oder den 8. Mai geht.

Eine solche Aufmarschflut wie in Gräfenberg stellt bei historischen Themen allerdings eher eine Ausnahme dar. Doch zu viel des Marschierens kann auch kontraproduktiv sein, zumindest mit Blick auf die Motivation der eigenen Leute. Diese Lehre musste vor allem bei tagespolitischen Anlässen schon so mancher Neonazi ziehen. Der bekannteste dürfte hier der Neu-Parchimer Altkader Christian Worch sein. Seit Jahren bietet er immer wieder Anlass zur Kritik innerhalb der extrem rechten Szene - ständige Aufmärsche würden die AnhängerInnen verheizen, heißt es. Ein szeneinterner Konflikt, in dem es allerdings auch um Jung gegen Alt und Ost gegen West geht.

Geht es hingegen um die vermeintlich gemeinsamen Toten, bieten sich in der Regel Jahrestage an, die eben vor allem von ihrer Außeralltäglichkeit leben - und außeralltäglich geht nicht jeden Tag. Außergewöhnlich muss es überdies auch sein: außergewöhnliches Leid, große Heldentaten, unendlicher Opfermut, strahlende Tapferkeit münden in dem schon von Goebbels bemühten Ausspruch "Ewig lebt der Toten Tatenruhm". Oder um es mit einem im August in Bad Nenndorf mitgeführtem Transparent auszudrücken: "Die Totenehre ist des Volkes Ehre".

Die Vereinigung der Toten mit den Lebenden, Opfer und Schuld sind Kernpunkte dieser vornehmlich nach Innen gerichteten Veranstaltungen. Der Fokus auf das Kriegsende ist dabei nur Teil des Komplexes Zweiter Weltkrieg. Zu diesem gehört auch der Kriegsbeginn. Seit 2005 begehen Neonazis in Dortmund einen "Nationalen Antikriegstag" zum Jahrestag des Überfalls auf Polen. Der historisch konnotierte Anlass bezieht sich dabei in der inhaltlichen Ausrichtung konkret auf die Gegenwart. "Gegen imperialistische Kriegstreiberei und Aggressionskriege" lautete das Motto des diesjährigen "Nationalen Antikriegstages", das ca. 700 Neonazis aus dem Spektrum der sogenannten Autonomen NationalistInnen sowie der Freien Kameradschaften mobilisierte.

Nach Ansicht der Nazis habe nicht Deutschland, sondern haben die Alliierten einen "regionalen Konflikt" zum Zweiten Weltkrieg ausgeweitet. Die damaligen "Kriegstreiber" und die dahinter stehenden "internationalen Finanzmächte" seien dieselben geblieben und würden heute wie damals "unfreie Sklavenkolonien der Weltwirtschaft" installieren. So wird ausgerechnet der 1. September zum Artikulationspunkt antisemitischer Verschwörungstheorien und plattem Antiamerikanismus.

"Unser Feind ist der Kapitalismus - Unsere Lösung Nationaler Sozialismus!" heißt es im Aufruf zum diesjährigen "Fest der Völker", das am 12. September in thüringischen Pößneck abgehalten wurde. Der Name des seit 2005 stattfindenden Rechtsrock-Festivals geht zurück auf den gleichnamigen zweiten Teil des Films "Olympia" von Leni Riefenstahl. Wie die Rechtsrock-Experten Christian Dornbusch und Jan Raabe in einem Interview für die Uni-Zeitung Akrützel ausführen, ist der Bezug auf das Europakonzept der SS für die Neonazis jedoch von größerer Bedeutung als der auf "Olympia". Mit den "germanischen Divisionen", die Nationalsozialisten aus anderen Ländern umfaßten, habe die SS ein Konzept verfolgt, "in der zwar die Deutschen die Führungsrolle übernahmen, aber regionale Nationalsozialisten die Praxis bestimmen sollten."

Trotz dieser historischen Anleihen ist es vor allem das Line-up, das für den Erfolg dieser Veranstaltung sorgt. Die Mischung aus Kundgebung und Rechtsrock-Konzert kommt vor allem bei der jüngeren Generation an. Bei entsprechender musikalischer Auflockerung ist man eher bereit, den Reden verschiedenster deutscher und europäischer Neonazis zu lauschen.

Der Herbst steht vor der Tür - und somit die traurige Jahreszeit. Schon seit den 1990er Jahren steht zum sogenannten Volktrauertag Halbe im Fokus der Neonazis. Zwar werden ähnlich wie zum 8. Mai auch andernorts wieder einmal kräftig Gräber geputzt, aber Deutschlands größter Soldatenfriedhof sticht sie alle aus. 20.000 Menschen wurden hier begraben. In den Wäldern um Halbe fand 1945 eine der letzten großen Kesselschlachten des Zweiten Weltkrieges statt. Um ihren "Helden" zu gedenken, marschierten von 2003 bis 2006 jedes Jahr im November mehr als 1.500 Nazis unter dem Motto "Ruhm und Ehre dem deutschen Frontsoldaten" mit Kränzen für SS- und Wehrmachtseinheiten. Halbe war dabei neben Wunsiedel und Dresden durchaus Prototyp neonazistischer Gedenk- und Trauerveranstaltung.

Doch wenn es unübersichtlich wird, bleiben die AnhängerInnen aus. Aufgrund von Auflagen, Verboten und Protesten verlegte der "Freundeskreis Halbe" das zentrale Gedenken in den März, auf den Termin des nationalsozialistischen "Heldengedenktags". Beide Tage liefen parallel, was dazu führte, dass im März 2007 weniger als 300 Gedenkwillige nach Halbe kamen und die Trauer in dieser Form eingestellt wurde. Laut Berliner Morgenpost soll es jedoch jetzt wieder losgehen. Der "Freundeskreis Halbe" habe für den November von Neuem unter dem alten Motto eine Veranstaltung in der Stadt angemeldet.

Die wiederkehrende Trauer und ihre Rituale

Neben Märtyrer-Helden und Soldaten-Helden gibt es für Neonazis aber auch noch Opfer-Helden. Wieder ist es das Kriegsende, wieder sind es die bösen Alliierten und wieder ist es das geschundene Deutschland, das zu seiner "eigentlichen Form" - dem Nationalsozialismus - nicht zurückfinden dürfe. Die Bombardierungen deutscher Städte durch die Alliierten bieten Nazis in den letzten Jahren vermehrt Anlass zu regelmäßigen Aufmärschen. Beginnend im Januar in Magdeburg, folgt zum 13. Februar in Dresden der größte dieser Aufmärsche - derzeit auch der größte regelmäßige Naziaufmarsch überhaupt. Rund 6.000 Neonazis kamen im letzten Jahr nach Dresden. Nächstes Jahr fällt der 13. Februar zudem auf einen Samstag - das lässt in Bezug auf die Mobilisierungsfähigkeit der Nazis nichts Gutes erwarten.

Maike Zimmermann