Zwanzig Jahre danach
Zwei Kommentare zur Schernikau-Rede vor dem DDR-Schriftstellerkongress im März 1990
Geht Schernikaus dialektisches Lob fehl, oder zieht er einfach die Grenze, die nicht zu übertretende, und sagt: Sie gegen uns, wir gegen sie? Die Meinungen sind geteilt. Wie unterschiedlich die Sichtweisen sind, zeigen die beiden Kommentare, die wir hier abdrucken. Wir haben jeweils einen Autor aus dem Osten und dem Westen gebeten, aus ihrer ganz subjektiven Sicht Stellung zur Rede von Ronald M. Schernikau zu nehmen. (1) Die Ergebnisse sind überraschend und gleichzeitig bezeichnend. Die jeweils ins Zentrum gerückten Aspekte sind alle auf ihre Art wert, weitergesponnen zu werden. Und sie müssen es auch, soll es um eine Neubestimmung revolutionärer Politik gehen.
Der einäugige Prophet
Hat einer, der 1989 aus dem Westen in die DDR abhaut, noch alle Tassen im Schrank?
Da stellt sich im März 1990 auf dem letzten DDR-Schriftsteller-Kongress einer hin, sagt, er sei Kommunist und betätigt sich sodann als Prophet. Dass Propheten im eigenen Lande nichts gelten, macht diese für die Nachwelt umso lesenswerter. Diese Rede ist ein Dokument bemerkenswerter prophetischer Einäugigkeit. Denn obwohl Schernikau in seinem großen Essay über Leipzig "Die Tage in L." eine feine Beobachtungsgabe für den Westen und den Eigensinn des DDR-Alltags beweist, übt er sich gegenüber seinem Auditorium in naivem Staunen, was die Ursachen des rasanten Zerfalls der DDR angeht.
Seine Diagnose der Systemkrise der DDR trifft diese in einer Situation, in welcher das Zeitfenster für den notwendigen Selbstverständigungsprozess zur Erneuerung des Sozialismus seit mehr als anderthalb Jahrzehnten abgelaufen war.
Die DDR produzierte ihre Gegner wie am Fließband
Der Vorwurf etwa, dass am Ende der DDR niemand mehr an die Existenz der realen Feinde des Sozialismus glaubte, obwohl diese kurz hinter der Mauer saßen, ist deshalb unredlich, weil eben die Überzeugungskraft dieses Wissens in dem Maße in den Jahrzehnten nach dem Mauerbau schwand, in dem die MachthaberInnen jede Fehlentwicklung einschließlich ihrer eigenen Dummheit, Kleinkariertheit und Geistlosigkeit diesem Feind in die Schuhe zu schieben suchten. Das taten sie so lange, bis in der DDR selbst die GenossInnen der Überzeugung waren, der Feind sei im Grunde eine Erfindung der Partei, um die Abwesenheit sozialistischer Demokratie und die Missstände in den Betrieben zu rechtfertigen.
Schernikau spricht vom Terror der Geistlosigkeit der Honecker Jahre, um kurz danach die DDR als Ort enormer Klugheit zu rühmen. Das mag so gewesen sein. Nur kam eben diese Klugheit und Kreativität nicht zum Tragen, fand deren Realisierung nicht statt. Statt sich um die wahren Feinde des Sozialismus zu kümmern, ließ die Partei Bilder abhängen, Theaterstücke verbieten und Bücher einstampfen, schickte Jugendliche mit dem falschen Haarschnitt zum Friseur oder gleich in den Knast und ließ harmlosen Ökofritzen bis aufs Klo nachstellen. So macht man sich Feinde! Die DDR produzierte ihre GegnerInnen am Ende wie am Fließband.
Ist Schernikau bei seinem Berufspraktikum im Rahmen seines Studiums am Leipziger Literaturinstitut wirklich entgangen, "dass die Arbeiter jede Schraube aus dem Dreck sammeln mussten, in einem Land, das sich zu den zehn wichtigsten Industrienationen zählte"? (Wolfgang Hilbig)
Als unerhörter Prophet betätigt sich Schernikau, wo er von jenem Maß an Unterwerfung spricht, welches der Westen jedem abverlangt. In der Tat. Dies mussten jene so bitter erfahren, die vom Ende der DDR ein Leben wie im Westfernsehen erwartet hatten und dann Hartz IV bekamen. Doch das von westdeutschen Linken im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung vorgebrachte herablassende Argument, all dies habe man mit den Trabikolonnen im November 1989 auf dem Kurfürstendamm kommen sehen, ist gegen die Faktizität der realen Erfahrung nur hilflos.
Wer jenem Dreher des VEB Elektrokohle Lichtenberg, den Wolf Biermann in seinen besseren Zeiten besang, moralinsauer die Sehnsucht nach Opel Manta und Flensburger Bier in Rechnung stellt, geht in die Falle des Idealismus, statt die Macht des Faktischen des Materialismus leidenschaftslos anzuerkennen.
Schernikau sagt: "Was mich verblüfft, ist die vollkommene Wehrlosigkeit, mit der dem Westen Einlass gewährt wird, das einverständige, ganz selbstverständliche Zurückweichen, die Selbstvernichtung der Kommunisten (...) Kaum ist Honecker gestürzt, da lösen die Universitäten den Marxismus auf (...) Wo haben sie ihre Geschichtsbücher gelassen? Die Kommunisten verschenken ihre Verlage, die ungarische Regierung richtet in ihrem Land einen Radiosender der CIA ein, und der Schriftstellerverband der DDR protestiert gegen die Subventionen, die er vom Staat erhält. Sie sind allesamt verrückt geworden?"
Die Rede vom Sozialismus war zur Phrase geworden
Eine Idee davon, woher dieses einverständige Zurückweichen rührte, hat Schernikau nicht. Er ist, als Kommunist aus dem Westen kommend, geblendet vom kontrafaktischen Eigensinn des DDR-Alltags, in dem die gemeinsame Verabredung lautete, auf die Uhren zu schießen, um die Zeit und den Gang der Dinge anzuhalten, statt ihn zu gestalten, wie Heiner Müller nach der Wende treffend bemerkte. Was nützen Verlage in den Händen von KommunistInnen, wenn die Bücher, die dort erscheinen, für die gesellschaftliche Realität um Jahre zu spät kommen?
Gewiss, "heute steht in den Zeitungen das Falsche". Aber jeder Versuch, in den Zeitungen der DDR das Richtige zu schreiben, endete bei der redaktionsinternen Zensur.
Die Rede vom Sozialismus war zur Phrase geworden, die nur noch die Fassade für Repression und Ideenlosigkeit abgab. Ja, der Staatsbürgerkundeunterricht, der den Imperialismus als Tiger vorführte, war schlecht, weil die reale Erfahrung des Jetzt ihn in unseren Augen als Bettvorleger erscheinen ließ, der die besseren individuellen Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten schien. Dass es nichts nützt, alles sagen, singen und schreiben zu dürfen, wenn sich danach und dadurch auch nur nichts ändert, kann man nicht lehren wie Trockenschwimmen. Es braucht den Vergleich. Nicht den aus der allabendlichen Tagesschau, sondern den realen Abgleich.
So ist Schernikaus Analyse bestechend dort, wo er die DDR von links kritisiert. Doch sein dialektisches Lob geht fehl, weil es die Realität seinem kommunistischen Blick unterordnet.
Eine Niederlage ist eine Niederlage, schreibt der Autor. Wohl wahr. Doch ob der Charakter der Niederlage, den Schernikau meint, auch jener ist, von der Linke heute sprechen sollten, ist strittig. Nein, Schernikaus Schlusssatz, wonach am 9. November 1989 in Deutschland die Konterrevolution gesiegt habe, ist wertlos. Die DDR war nicht revolutionär, sondern eine historische Zangengeburt am Rande der Wolokolamsker Chaussee.
Vielleicht ist es eher so, wie der Dichter Uwe Johnson am Ende seines Lebens schrieb: "Keiner der beiden deutschen Staaten ist mein Ort."
David Begrich
Abstrakt radikal
Ronald M. Schernikaus Rede auf dem letzten Schriftsteller-Kongress der DDR dürfte, obwohl sie 1990 in der taz abgedruckt worden war, ihre Wirkung erst in den letzten zehn Jahren erfahren haben, in jenem Zeitraum also, in dem alle wichtigen Werke Schernikaus erstmals bzw. nach langer Zeit wieder aufgelegt wurden und sich eine komplett neue und wohl auch recht junge Leserschaft Schernikaus gefunden hat. Seine Rede wurde Anfang des Jahrtausends als einer der ersten Texte auf der Homepage schernikau.net veröffentlicht.
Das ist eine interessante Diskrepanz: Der Text ist eindeutig interventionistisch, unmittelbar zeitbezogen - eine wütende Rede, die die (doch eigentlich sehr verehrten, aber hier heftig angegangenen) KollegInnen auf das stoßen will, was sie verloren gegeben haben und was ihnen dafür blüht. Aber die Rede wird erst eine halbe Generation später gelesen. Als der Autor dieser Zeilen sie vor etwa zehn Jahren in die Finger bekam - jemand hatte sie vervielfältigt, und wer in Berlin die Richtigen fragte, dem wurde das Flugblatt geradezu weihevoll ausgehändigt -, las sie sich wie eine Offenbarung: "Meine Damen und Herren, Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt." Wo gab es denn schon eine so geschliffene und zugleich wütende Absage an den Kapitalismus und das "Modell Deutschland"?
Schernikau beschreibt den Kapitalismus als absolute Gegenwelt: "Wer die Gewerkschaft fordert, wird den Unternehmerverband kriegen. Wer den Videorekorder will, wird die Videofilme kriegen. Wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen. Wer Bananen essen will, muss Neger verhungern lassen. Wer die Spaltung Europas überwinden will, muss den Westen siegen lassen." Die Radikalität dieser Sätze entspringt der Rolle des Verlierers, dem die ZuschauerInnen keine Träne nachweinen: Erst aus der Sicht der untergehenden DDR entpuppt sich der Westen als Gegenwelt. Und umgekehrt: Erst aus der absoluten Feindseligkeit der kapitalistischen Vergesellschaftung sind Zwang und Mangel im Realsozialismus zu verstehen.
Die Rede handelt nicht von der DDR
Die Attraktivität dieses Textes für die heutige Linke liegt in seinem Existenzialismus: Er zieht die Grenze, die nicht zu übertretende, und sagt: Sie gegen uns, wir gegen sie - das gibt es, das ist nicht verwischt. Es gibt den Antagonismus, den unversöhnlichen Gegensatz, und wir haben Widerstand zu leisten. Die Rede handelt nicht von der DDR, und das macht ihre Zeitlosigkeit aus, sie verrät uns tatsächlich sehr wenig über die Zustände im Realsoz.
Schernikau hat ein Wissen über die DDR angehäuft, das uns Jüngeren absurd scheinen muss - seine Kenntnisse der Literatur- und Kunstszene hatten enzyklopädische Ausmaße, er studierte schließlich in Leipzig, und im September 1989 war er der glücklichste Mensch der Welt, als er der, wie man heute weiß, letzte DDR-Bürger wurde. Trotzdem ist Schernikau kein Kundschafter; seine Texte sind Rückspiegelungen, sprechen immer über Abgründe des Kapitalismus. Weil die BRD schlecht ist, ist die DDR gut. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Schernikau der DDR auf diese Weise ihre Selbstständigkeit bestreitet: Sie gewinnt ihren geschichtlichen Auftrag nicht aus sich, sondern weil sie erst (und nur) in Abgrenzung zum Westen die Möglichkeit des besseren Lebens aufscheinen lässt. Er ist kein Apologet, er ist ja Schriftsteller, und deshalb lesen wir bei ihm keine der damals üblichen Plattitüden der DKP, wonach es in der DDR immerhin keine Obdachlosen gebe.
Vielmehr ist Scherinkau abstrakt radikal (und darin radikal abstrakt), er spricht von dem "guten Geschäft Ihrer schlechten Regierung", das zu befördern die Intellektuellen versäumt hätten, und das ist ja geradezu eine preußisch-hegelsche Gedankenfigur: Die Verfassungswirklichkeit, die Realität der Staatsgewalt - das mag alles schlecht sein, aber es gibt über allem eine Vernunft, die sich durchsetzen wird. Irgendwann. Es sei denn, so die realsozialistische Modifikation des Weltgeist-Modells, sie wird von außen durch die Konterrevolution gestoppt. Die Absurdität der Trennung von "gutem Geschäft" und "schlechter Regierung", von "guter Verfassung" und "schlechter Bürokratie" (oder allgemein: von "Demokratie" und "Kapitalismus") hat schon Marx in seiner frühen Kritik an Hegels Staatsphilosophie aufgespießt: Ist es nicht der größte Terror, wenn die konkreten Bedürfnisse und Interessen der BürgerInnen permanent einem großen Ganzen geopfert werden, damit die sagenumwobene Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung dieser Interessen gewahrt bleibt?
Schernikau weiß das wohl, spricht von der "Dummheit der Kommunisten" und dem "Terror der Geistlosigkeit unter Honecker", aber er kommt aus der Nummer nicht raus: Die DDR verkörperte die Möglichkeit des Sozialismus. Punkt. Er will auch gar nicht aus der Nummer raus: Er verneigt sich vor den DissidentInnen und ruft aus: "Es gibt gegen ihre Erfahrung kein Aber." Das Erste, was er im Anschluss sagt, ist ein "Aber".
Der Kapitalismus als absolute Gegenwelt
Die Frage ist, was die Linke will. Die Haltung schärfen, das entfalten, was man Hass auf die Verhältnisse nennt, den Blick auf die Fallstricke der Ideologie der Freiheit lernen - dazu braucht man Schernikau. Die Gefahr besteht, darüber die Geschichte zu vergessen. Was war denn eigentlich die DDR? In großen Teilen der Linken kursieren de facto immer noch die Ex-Negativo-Bestimmungen: Das Land, in dem es keine Nazi-Bonzen gab, keine KapitalistInnen, keine GroßgrundbesitzerInnen, keine Boulevard-Presse, keine Diskriminierung der Unterschicht. Das reicht nicht aus, um die Entwicklung eines gesellschaftlichen Antagonismus zu begreifen, der auf die Existenz einer Kapitalistenklasse nicht angewiesen gewesen ist.
Wer den Realsozialismus versteht, versteht auch den Kapitalismus besser.
Schernikau hat den Kapitalismus besser verstanden wie kaum ein anderer in den 1980er Jahren und für sich daraus den Schluss gezogen, die DDR zu ersehnen. Das muss man akzeptieren, aber man kann ihm in dieser Sehnsucht nicht folgen.
Felix Klopotek
Anmerkung
1) Ronald M. Schernikau: Rede auf dem Kongreß der Schriftsteller der DDR, 1. bis 3. März 1990.