Der italienische Weg
Harald Neubert über Antonio Gramsci und seine Nachfolger
Die Schriften Antonio Gramscis, insbesondere die Fragment gebliebenen Gefängnishefte, sind seit jeher Gegenstand unterschiedlicher Interpretationen. Der Historiker Harald Neubert (geboren 1932), zwischen 1970 und 1990 tätig am Institut für internationale Arbeiterbewegung an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Berlin (DDR), hat seine Sichtweise schon 2001 in dem Büchlein "Antonio Gramsci: Hegemonie - Zivilgesellschaft - Partei" begründet. In seinem neuen Buch zieht er eine "Linie Gramsci - Togliatti - Longo - Berlinguer", so der Titel. Was einige Fragen aufwirft.
Zweifellos gibt es eine "Linie Gramsci - Togliatti - Longo - Berlinguer". Alle vier waren (General-)Sekretäre des Partito Comunista Italiano (PCI): Antonio Gramsci (1891- 1937) von 1924 bis zu seiner Verhaftung 1926; sein direkter Nachfolger Palmiro Togliatti (1893-1964) von 1926 bis 1964; Luigi Longo (1900-1980) von 1964 bis 1972; Enrico Berlinguer (1922-1984) schließlich von 1972 bis zu seinem plötzlichen Tode. Harald Neubert hat allerdings mehr im Sinn, als nur an vier mehr oder weniger große Männer des italienischen Kommunismus zu erinnern. Ihm geht es vor allem um eine Linie im Sinne einer Kontinuität im politisch-strategischen Denken, ausgehend von Gramscis Reflexionen über Hegemonie, Konsens, Zivilgesellschaft und kommunistische Bündnispolitik.
Gramscis strategisches Denken stellt Neubert relativ knapp dar. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung steht Palmiro Togliatti. Zu Recht, nicht nur wegen seiner fast vier Jahrzehnte dauernden Tätigkeit an der Spitze der italienischen KP: Würde Togliatti als Fortsetzer von Gramscis Werk ausfallen, dann wäre die von Neubert behauptete strategische "Linie" unterbrochen. Um hier keinen Zweifel aufkommen zu lassen, stellt Neubert seinen Helden allerdings allzu wohlwollend dar. Eine besonders tiefgreifende Kontroverse zwischen Gramsci und Togliatti übergeht er: 1926 hatte Gramsci in einem Brief an das ZK der KPdSU die Schärfe der partei-internen Polemik kritisiert und die streitenden Fraktionen, vor allem die Mehrheitsströmung um Stalin, zur Mäßigung aufgerufen. Togliatti, Vertreter des PCI bei der Komintern, hatte diesen Brief aber nicht an die KPdSU weiter geleitet, was Gramsci nicht akzeptieren konnte. Für das - gelinde gesagt opportunistische - Verhalten Togliattis während seiner Moskauer Jahre lassen sich sicherlich mildernde Umstände geltend machen: nicht nur die persönliche Lebensgefahr in der Zeit des stalinistischen Terrors, auch die Gefahr eines Bruchs des illegalen PCI mit dem "Vaterland der Werktätigen".
Keineswegs alternativlos war dagegen die 1944 wesentlich von Togliatti durchgesetzte "Wende von Salerno", die den Abschied des PCI von einer unmittelbaren Orientierung auf die Revolution bedeutete. Für diese Entscheidung, die von großen Teilen der Neuen Linken allzu gedankenlos als "Verrat" gebrandmarkt wurde, gab es gute Gründe. Das Festhalten an einer revolutionären Strategie der Machteroberung hätte nach 1945 wahrscheinlich zum Bürgerkrieg geführt - in einem dem westlichen Block zugeschlagenen Land, ohne Aussicht auf militärische Unterstützung durch die Sowjetunion. Zu kritisieren bleibt das von Togliatti durchgesetzte Bündnis mit der Christdemokratie, das von dieser 1947 auf Druck der USA aufgekündigt wurde, und die von Togliatti betriebene Politik der "nationalen Versöhnung": So erließ er in seiner Funktion als Justizminister eine Amnestie für faschistische "Mitläufer" und akzeptierte die Neugründung der neofaschistischen Partei, des Movimento Sociale Italiano (MSI). Dass Togliattis "italienischer Weg zum Sozialismus" ambivalent bleibt, wird in Neuberts Darstellung deutlich: Richtig war das Bestehen auf Eigenständigkeit des PCI gegenüber der KPdSU; die Orientierung auf eine Reformpolitik im Rahmen bürgerlicher Koalitionsregierungen brachte allerdings keine zum Sozialismus hinführenden Reformen, sondern die Integration der ehemals revolutionären Partei in die staatlichen Institutionen.
Leichte Retuschen an Togliattis Heldenbild
Togliattis Nachfolger Luigi Longo, ein herausragender Stratege des antifaschistischen Befreiungskampfs, als Parteiführer aber wohl überfordert, hielt am Kurs seines Vorgängers fest. Aus historischer Sicht besteht seine wesentliche Leistung darin, Togliattis 1964 entstandenes Memorandum von Jalta veröffentlicht zu haben - gegen den Widerstand der sowjetischen Genossen, denen Togliattis Bestehen auf politischer Autonomie der nationalen kommunistischen Parteien als Ketzerei erscheinen musste.
Auf Longo folgte Enrico Berlinguer, einer der Mitbegründer des "Eurokommunismus". Unter ihm erlebte der PCI seine Blütezeit mit einem Rekordwahlergebnis von 34% im Jahr 1976. Der "sorpasso", das Vorbeiziehen der kommunistischen an der christdemokratischen Partei, schien möglich. Dass daraus nichts wurde, liegt vor allem an der historischen Niederlage der italienischen Arbeiterbewegung, die im 35-Tage-Streik bei FIAT 1980 offensichtlich wurde. Berlinguer starb überraschend während des Europa-Wahlkampfs 1984 - mit dem Tod des letzten Charismatikers unter den PCI-Sekretären endet für Neubert die von Gramsci begründete Traditionslinie.
Die weitere Entwicklung des Kommunismus, nicht nur in Italien, sondern auch international hat der Nachwelt einen Scherbenhaufen hinterlassen. Die Frage, ob die Geschichte anders hätte laufen können, beantwortet Neubert differenziert. Der Eurokommunismus erwies sich, wie er richtig schreibt, als "nicht geeignet, den Niedergang der internationalen kommunistischen Bewegung aufzuhalten". Andererseits steht für ihn fest: "Das theoretische Arsenal der Italienischen KP hätte durchaus eine Ausgangsbasis für die Erneuerung und Öffnung der internationalen kommunistischen Bewegung sein können ..." Was sich im Nachhinein allerdings nicht beweisen lässt. Die spannendere Frage, welche Bestandteile dieses "Arsenals" auch heute und in Zukunft noch brauchbar sein könnten, ist nicht mehr Gegenstand dieses diskussionsbedürftigen Buches.
Jens Renner
Harald Neubert: Linie Gramsci - Togliatti - Longo - Berlinguer. Erneuerung oder Revisionismus in der kommunistischen Bewegung? VSA Verlag, Hamburg 2009, 157 Seiten, 14,80 EUR