Seattle, Heiligendamm, überall! - Die Bewegung lebt!
Replik auf die Thesen der ak-Redaktion "Eine andere Welt war möglich"
Entgegen der Behauptung der ak-Redaktion: Die Bewegung steht! im Artikel "Eine andere Welt war möglich" (ak 541) lebt die Bewegung weiter. Dass Proteste gegen die G8 in Italien 2009 faktisch nicht stattfanden, muss u.a. italienspezifisch gedacht werden: Die italienische Linke hat sich von Genua 2001 noch nicht erholt, die diesbezügliche Repressionswelle rollt noch immer. Gerade erst gab es Verurteilungen von GipfelgegnerInnen mit bis zu 15 Jahren Haft wegen Steine schmeißen und Bildung einer vermeintlichen terroristischen Vereinigung "Internationaler Schwarzer Block". Demgegenüber wurden die PolizistInnen, die damals GipfelgegnerInnen gefoltert und fast tot geprügelt haben, frei gesprochen. Überdies ist die italienische Linke stark fragmentiert und geschwächt.
Die Bewegung lebt! Und ihr Ort ist nicht ausschließlich der bisher jährliche G7/G8-Gipfel. Die Proteste gegen die G8-Gipfel sind nicht der einzige Indikator für den Zustand der Bewegung. Die Bewegung besteht aus verschiedenen Teilen, die unterschiedliche Konjunkturen haben. Unterschiedliche Aufs und Abs, unterschiedliche Punkte des Zusammenkommens wechseln sich ab. In Europa bezogen sich die letzten beiden Jahre viele AktivistInnen/"GlobalisierungsgegnerInnen" auf die Mobilisierung gegen den Nato-Gipfel im April 2009 in Straßburg und Baden-Baden, auf Proteste in Bezug auf die Finanzkrise (Protest gegen den G20-Gipfel in London und große Demonstrationen in verschiedenen europäischen Städten und vereinzelte Streiks), auf die Proteste in Istanbul zur IWF- und Weltbank-Tagung im Oktober 2009 und aktuell auf die Mobilisierung gegen den UN-Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember 2009. Die globalisierungskritische Bewegung ist amorph, sie teilt sich, verbindet sich, umspült, rinnt durch die Finger und prallt mit der Wucht einer Welle gegen die herrschenden Formationen. Das macht u.a. ihre Stärke aus. Sie folgt keinem strategischen Jahresplan und bleibt immer wieder unberechenbar. (Hier schwingt auch Romantisierung mit. Aber ein wenig Romantisierung braucht das kämpfende Herz.)
Die Bewegung ist amorph, und das ist ihre Stärke
Richtig jedoch ist, dass sich die globalisierungskritische Bewegung noch einmal neuen Herausforderungen stellen muss: 1) Teile der Bewegung werden herrschaftsförmig weiterhin und verstärkt eingebunden (zwei Stichpunkte sind hier auch die G 20 und Barack Obama); 2) Ein neues Projekt der Herrschenden, der Green New Deal, muss entlarvt und angegriffen werden; 3) Mit dem bröckelnden, sich transformierenden Gegner "Neoliberalismus" muss umgegangen werden. Dies beinhaltet u.a., dass einer breiteren Öffentlichkeit eine differenziertere Kritik vermittelt werden muss. Das stellt eine größere Herausforderung dar als die Gegner Bush und G8; 4) Die Finanzkrise und ihre Folgen stellen einen neuen Bezugspunkt für Kämpfe her. Diese Kämpfe haben z.T. einen starken nationalen Fokus (Kampf um Arbeitsplatzerhalt und Lohnforderungen). Zu diesen national kämpfenden Kräften muss ein Bezug hergestellt werden; sie müssen eingebunden werden in eine internationale Perspektive.
Doch noch einmal zurück zur globalisierungskritischen Bewegung in Heiligendamm und die Frage: Bist du ein/e "GlobalisierungsgegnerIn"? In der Mobilisierung gegen die G8 in Heiligendamm verstanden sich die wenigsten Kräfte explizit als "GlobalisierungsgegnerInnen", die AktivistInnen, Gruppen und Organisationen sind meist eben auch gegen Globalisierung (als Schlagwort der Machtstruktur des Neoliberalismus). Dies zeigt noch mal die Amorphität der Bewegung: "GlobalisierungsgegnerInnen" werden nur an den Punkten sichtbar, wo sie als solche in den Medien oder bei den Gegenprotesten in Erscheinung treten, und dann verschwinden sie wieder. Ihre Sichtbarkeit als politisch aktive Personen, Gruppen, Organisationen stellt sich zum überwiegenden Teil entlang anderer Themen und Kämpfe her.
Doch was versprachen sich die, die in Heiligendamm an der Mobilisierung gegen die G8 beteiligt waren? Welche Hoffnungen gab es, die über das singuläre Ereignis hinausreichten, und haben sich diese Hoffnungen eingelöst? 1) Symbolischer Angriff: Gipfelproteste sollten Kristallisationspunkte sein, Orte, an denen Widerstand eine Kraft und Stärkung erlangt, Synergieeffekte nutzbar und Antagonismen sichtbar werden; 2) Stärkung von Alltagskämpfen und Lokalem: Inhaltlich wurde u.a. über die Aktionstage der Bogen immer wieder zu Alltagskämpfen gespannt von Arbeit bis Migration; 3) Mehr werden: die Hoffnung, mehr Menschen zu aktivieren und junge Menschen zum Politikmachen zu bewegen; 4) Bewegungen bündeln: globalisierungskritische Bewegung als eine Bündlungsbewegung, unter deren Dach verschiedene Bewegungen zusammen kämpfen. Von der "Bewegung der Bewegungen" ist die Rede.
Und was hat sich eingelöst? Der symbolische Angriff war nicht schlecht, die Bilder in den Medien beeindruckend. Auch wenn der Gipfel in seiner Durchführung zu keinem Zeitpunkt gefährdet war, so konnte sich die Macht nicht ohne die Gegenmacht präsentieren. Die Alltagskämpfe erhielten nicht wirklich eine nachhaltige Stärkung durch die Mobilisierung. Allein das neue Entstehen einer Klimabewegung sticht heraus, u.a. über die Organisierung eines Antira- und Klimacamps in Hamburg im Sommer 2008 und damit verbunden dem Angriff auf die Kohlekraftwerksbaustelle in Hamburg-Moorburg. Dieses Camp reiht sich ein in eine Kette von vielen Klimacamps in verschiedenen Ländern und die Mobilisierung gegen den UN-Klimagipfel in Kopenhagen.
Zudem ist hier in Europa ein verstärkter Bezug auf globale Landlosenkämpfe und Kämpfe gegen Genanbau und Saatgutpatente feststellbar. Auch hier findet sich eine Bewegung, die z.B. gegen Schweinemasten in Mecklenburg-Vorpommern demonstriert oder Via-Campesina-Aktionscamps in Frankreich organisiert. Das Mehrwerden hat jedoch nicht richtig geklappt. attac bekam zwar sehr viele Spenden, aber nicht mehr AktivistInnen. Bei den Autonomen gab es in Folge einige autonome Vollversammlungen mehr. So gibt es z.B. in Berlin seit nun schon zwei Jahren ein monatliches Vernetzungstreffen, zu nennen ist auch der "Autonome Kongress" im Oktober in Hamburg. Die IL (Interventionistische Linke) arbeitet seit dem G8 ähnlich stark wie vorher, hat sich in ihrer Gesamtheit aber noch einmal mehr gefestigt und ist erprobter. Und all die Nicht-Organisierten scheinen sich auch nach den Protesten nicht organisiert zu haben, aber vielleicht diskutieren wieder mehr Menschen und sind hier und da aktiver und trauen sich mehr. Eins hat sich auf jeden Fall verändert: eine größere Aufmerksamkeit für andere Bewegungen und Spektren. Darüber hinaus sind Kontakte entstanden, auf die einfacher zurückgegriffen werden kann, so z.B. auch bei den Protesten im Rahmen der Finanzkrise.
Projekt "Mehr werden" ist gescheitert
Globalisierungskritik nutzt sich nicht ab. Seit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise stehen vielleicht andere Vokabeln im Zentrum; trotzdem ist Globalisierungskritik weiter aktuell. Es besteht nicht die Gefahr, dass Protestbewegungen Globales und Wirtschaftsstrukturen aus den Augen verlieren. Dies im Gegensatz zu den 1990ern, als die bundesdeutsche Linke nach dem Zusammenbruch und der Vereinnahmung der DDR in eine Identitätskrise rutschte. Die Politik der nächsten Jahre bezog sich notwendigerweise stark auf den aufkommenden und sich weiter in der "Mitte" manifestierenden Rassismus (brennende Asylunterkünfte). Antifaschismus und Antirassismus hatten starke Priorität, während globale Themen und Weltwirtschaft in den Hintergrund rückten.
Heute steht die bundesdeutsche (oder europäische) Linke an einem anderen Punkt. Politik- und Aktionsfelder werden - neben Migration, Ein- und Ausschlüssen, Militarisierung, Überwachung und Klimawandel - die weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich sein. Der Wohlfahrtsstaat ist in weiten Teilen aufgekündigt. Teile des Mittelstandes rutschen in die Prekarität. Ein Lebensstandard, den sich viele über die letzten 40 Jahre aufgebaut haben, kann nicht mehr von allen so gehalten werden. Im weltwirtschaftlichen Gefüge ist die BRD ein verlässlicher Konsument und ein noch stärkerer Exporteur. Der Druck kapitalistischer Expansion und Konkurrenz wirkt sich auf die Arbeitsplätze und das Lohnniveau aus, Sozialkürzungen und Lohndumping werden zunehmen. Die Gewerkschaften, die eine stabile und stabilisierende Größe im herrschenden Machtgefüge sind, werden diesen Druck weiterhin vor allem national beantworten. Hier liegt eines der größten Hindernisse des Internationalismus und der Globalisierungskritik. Arbeitskämpfe in Europa werden kaum antagonistisch geführt, sondern sind eine Spielart innerhalb der Macht. Arbeitskämpfe werden kaum transnational geführt, sondern nationale Interessen stehen immer an erster Stelle. Die Gegenstrategien der Bewegung liegen bislang in der Thematisierung von Prekarität und in der Forderung nach einem globalen Grundeinkommen. Diese Antworten konnten das Dilemma der Arbeitskämpfe jedoch bisher nicht lösen.
Die Proteste in Heiligendamm hatten u.a. eine starke antikapitalistische Note und darin lag ein großer Erfolg der Bewegung. Historisch hat die Finanzkrise es ermöglicht, gesamtgesellschaftlich wieder über den Kapitalismus hinaus zu denken. Der Kapitalismus als einzige praktikable Wirtschaftsform wurde in Frage gestellt und Alternativen wurden diskutierbar. Auch in den bundesdeutschen Mobilisierungen zur Finanzkrise überwogen klar antikapitalistische Töne. Bei der attac-Konferenz zur Weltwirtschaftskrise im Frühjahr 2009 gaben viele der 2.000 Menschen im Saal durch ihr Raunen und ihren Applaus antikapitalistischen Stimmen eindeutig den Vorzug. "Eine andere Welt ist möglich" erhält hierdurch noch einmal eine sichtbarere antikapitalistische Ausprägung, und dies stellt eine Stärke der Bewegung dar.
Globalisierungskritik nutzt sich nicht ab
Den nächsten Schritt gehen! Die globalisierungskritische Bewegung lebt, Kämpfe finden statt, und doch hat sich etwas verändert. Es hat sich zwar gezeigt, dass die tiefe systemische Krise nicht oder noch nicht zu einer Stärkung der Kämpfe führt, aber eben auch nicht zu einer Schwächung. Und doch hat sich etwas Neues aufgetan. Der mögliche Wechsel von einer vornehmlich diskursiven Intervention hin zu politischen Praxen, die konkreter werden, die direkter eingreifen in die herrschenden Verhältnisse, in die Kapitalverhältnisse, die Handlungsperspektiven für heute aufzeigen, ist stärker in die Diskussion gerückt. Diese "andere Welt" darf nicht nur in die Ferne gedacht werden. Es geht darum, über diskursive und ideologische Politiken hinauszugehen. Hierfür bedarf es einer verstärkten Debatte um einen möglichen Politikwechsel. Die Herausforderungen bleiben demnach groß. Auf die globalisierungskritische Bewegung warten weiterhin große Aufgaben, turbulente Zeiten und die Gewissheit: Eine andere Welt ist möglich!
Sabine Beck, six hills berlin