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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 544 / 20.11.2009

Aufgeblättert

Gebirgsjäger

Jennifer Gronaus Buch untersucht zum einen die Berichterstattung über die Aktivitäten gegen das Pfingsttreffen der Gebirgsjäger in Mittenwald in den Jahren 2002 bis 2005, zum anderen erzählt es diese Proteste nach. Es gibt einen guten Einblick in die intensive mediale Auseinandersetzung um eine militaristische Gedenkpraxis, die die Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungs- und Besatzungskriegs lange unerwähnt lässt. Zuerst führt Gronau in die Diskursanalyse als den theoretischen Rahmen ihrer Untersuchung ein. Sie will zeigen, wie die alltägliche Sicht auf Geschichte in gesellschaftlichen, in erster Linie medial vermittelten konflikthaften Auseinandersetzungen konstruiert wird. Seit 1957 findet das Treffen der Gebirgsjäger, die größte soldatische Veteranenfeier Deutschlands, in der bayrischen Gemeinde Mittenwald statt und ist dort fester Bestandteil des öffentlichen Lebens. 2002 kommt es zu einem Bruch: Erstmals protestieren AntifaschistInnen vor Ort. Sie werden dadurch zum Mitakteur des Geschehens und verschieben durch ihren Protest die bisherige Bedeutung des Treffens: Das bisher Akzeptierte, nämlich Soldatentum und Nationalismus, muss sich nun neu legitimieren. Durch die massiver werdende Kritik sind die UnterstützerInnen der Gebirgsjägertreffen gezwungen, sich öffentlich für die Traditionsveranstaltung zu rechtfertigen. Die Chronik der Proteste 2002 bis 2009 am Ende des Buches ist nützlich, um das Geschehen rund um die erinnerungspolitische Kampagne "Angreifbare Traditionspflege" nachzuvollziehen. Referiert werden außerdem Forschungsergebnisse zu Kriegsverbrechen der Gebirgsjäger während des Nationalsozialismus, zu den Traditionsbestimmungen der Bundeswehr und dem soldatischen Selbstverständnis der Gebirgsjäger. Das Buch zeigt anschaulich, wie eine geschichtspolitische Intervention "von unten" heute funktioniert und dass soziale Bewegungen sich bei der kritischen Bearbeitung randständiger Themen der Medien als Mittel zur Veränderung des Diskurses bedienen können.

Bernd Hüttner

Jennifer Gronau: Auf blinde Flecken zeigen: Eine Diskursanalyse soldatischer Gedenkpraktiken und Möglichkeiten des Widerspruchs am Beispiel der Gebirgsjäger in Mittenwald. BIS-Verlag, Oldenburg 2009, 175 Seiten, 12,80 EUR

Street Art

Street Art: illegal, subversiv, kommunikativ, politisch, selbstverliebt, aufdringlich, integriert. Unzählige Bücher - meist Bildbände - sind seit der Ausbreitung dieses neuen künstlerisch-aktivistischen Phänomens auf Wänden, Mauern, Straßenschildern, Stromkästen und Regenrinnen der großen wie kleinen globalisierten Innenstädte in den letzten Jahren veröffentlicht worden. Die HerausgeberInnen von "Street Art. Legenden zur Straße" haben sich das hohe Ziel gesetzt, im Gegensatz zu allen bisherigen Veröffentlichungen eine Vielzahl theoretischer Überlegungen zu einer differenzierten Betrachtungsweise von Street Art zusammenzubringen. Das "publizistische Kaleidoskop", das sie damit geschaffen haben, kann sich (durch)sehen und vor allem lesen lassen: viele schöne Fotos, Sequenzen, Bildstudien, Collagen und eigene Textbeiträge von (größtenteils Berliner) Street Artists, die ihre Motivationen erläutern und spezifische Schwierigkeiten dieser künstlerischen Arbeit berichten. Dazu umfangreichere Texte, in denen Street Art aus Sicht verschiedener Wissenschaften erklärt und gedeutet wird. Das subversive Potenzial von Street Art wird dabei auch als widersprüchlich beschrieben, denn Street Art wird leicht integriert und in sozioökonomischen Prozessen des "Differenzkapitalismus" und der "unternehmerischen Stadt" umgedeutet und trägt somit auch ihren Teil zur Attraktivitätssteigerung ehemals ökonomisch uninteressanter Stadtteile bei. Christian Schmidt schreibt daher: "Will Street Art kritisch und interventionistisch wirken, so sollte sie jedoch genau diesen Widerspruch stets aufs Neue sichtbar machen und problematisieren. Ansätze dafür gibt es immer wieder und gerade dann, wenn die Posters, Stickers und Stencils beispielsweise jene Viertel verlassen, für die sie typisch sind und dadurch eher als unkalkulierbar, als verstörend und letztlich als symbolische Bedrohung wahrgenommen werden können."

Marc Amann

Katrin Klitzke/Christian Schmidt (Hrsg.): Street Art. Legenden zur Straße. Verlag Archiv der Jugendkulturen, Berlin 2009. 300 farbige Abbildungen, 226 Seiten, 28 EUR

August/September 1939

70 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs hat der britische Historiker Richard Overy ein Büchlein veröffentlicht, das sogleich auch ins Deutsche übersetzt wurde. Thema sind "die letzten zehn Tage" zwischen dem 24. August und 3. September 1939. Würde man einige Sätze aus ihrem Zusammenhang reißen, könnte man befürchten, hier werde dreiste Geschichtsfälschung betrieben: "Vor allem die unnachgiebige Weigerung der Polen, ihrem mächtigen deutschen Nachbarn irgendwelche Zugeständnisse einzuräumen, machte den Krieg fast unausweichlich", schreibt Overy im Prolog. Polen schuld am Krieg? Auf den folgenden 120 Seiten rückt der Autor die historischen Tatsachen zurecht: Hitler wollte Polen angreifen und als Staat vernichten, seine diplomatischen Verwirrspiele von Ende August 1939 waren allein darauf gerichtet, Großbritannien und Frankreich einstweilen aus dem Krieg herauszuhalten. Sieht man sich die Debatten in den westlichen Parlamenten und Kabinetten an, dann war das nicht völlig illusorisch. Etliche Politiker des Westens glaubten bis zuletzt, Deutschland durch Zugeständnisse vom Krieg abhalten zu können - wie ein Jahr zuvor auf der Münchner Konferenz. Aus heutiger Sicht mag das weltfremd erscheinen; Overy macht aus seinem Respekt für die mit ihrer weltpolitischen Verantwortung ringenden Entscheidungsträger wie Chamberlain und Daladier keinen Hehl. Auch aus seiner Sicht gab es schließlich keine Alternative zum Krieg. Nach dem deutschen Einmarsch in Polen mussten dessen westliche Bündnispartner dem Aggressor den Krieg erklären - einen Krieg, in dem es aber nicht (mehr) um die Rettung Polens ging, "sondern darum, Großbritannien und Frankreich vor den Gefahren einer aus den Fugen geratenen Welt zu schützen." Mit diesem Satz endet Overys detailreiches und gut lesbares Buch.

Js.

Richard Overy: Die letzten zehn Tage. Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. 24. August bis 3. September 1939. Pantheon Verlag, München 2009, 159 Seiten, 12,95 EUR