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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 544 / 20.11.2009

Kopfpauschale und Leistungskürzungen

Die gesundheitspolitische Agenda im schwarz-gelben Koalitionsvertrag

Der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag bedeutet in vielen Punkten eine radikale gesundheitspolitische Kehrtwende. Es drohen nicht nur eine verschärfte Privatisierung der Finanzierung(sstrukturen) des Gesundheitswesens durch die Aufwertung der Privaten Krankenversicherungen (PKV) und das Kapitaldeckungsprinzip sowie zusätzliche finanzielle Belastungen für die Versicherten. Darüber hinaus kommt es auch zu einer strategischen Wende hinsichtlich der politischen Gestaltung der Versorgungsstrukturen, die mit der Strategie des "regulierten Wettbewerbs" bricht. In dem folgenden Artikel geht es vor allem um die Zukunft des Gesundheitsfonds und die zu erwartende Rationierungsdebatte in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

Die Einführung der Kopfpauschale und die entsprechende Korrektur des Gesundheitsfonds können nicht wirklich überraschen. Das Ziel, die Arbeitgeberbeiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung einzufrieren, ist potenziell schon durch den bestehenden Gesundheitsfonds realisiert. Bislang kann die Bundesregierung laut Gesetz den Anteil aller nur vom Versicherten zu tragenden Zusatzbeiträge der Krankenkassen auf fünf Prozent der gesamten GKV-Ausgaben ansteigen lassen, ohne den allgemeinen Beitragssatz anheben zu müssen. Die Ankündigung des schwarz-gelben Koalitionsvertrags, die "einkommensunabhängigen Beitragsteile" steigen zu lassen, wird vermutlich diese bisherige Fünf-Prozent-Grenze nach oben verschieben. Eine Entwicklung, die auch in den Niederlanden in den 1990er Jahren zu beobachten gewesen ist, deren damalige gesetzliche Krankenversicherung auch aus einem Mix aus einkommensabhängigen und einkommensunabhängigen Beiträgen bestand.

Die Privatisierung von Krankheitsrisiken

Ein Einstieg in die Kopfpauschale wäre es jedoch noch stärker, wenn die Schwarz-Gelben die Sozialklausel des Zusatzbeitrages abschaffen würden. Die ebenfalls im Koalitionsvertrag angekündigten Maßnahmen zum Schutz von "Niedrigeinkommen" vor einer Überbelastung durch die "Kopfpauschale" sind in ihrer konkreten Ausgestaltung noch unklar. Eine steuerliche Bezuschussung - wie in den Niederlanden und der Schweiz realisiert - erscheint vor dem Hintergrund massiver Haushaltsdefizite einerseits und dem (ideologisch begründeten) politischen Versprechen der FDP von Steuersenkungen ab 2011 andererseits illusorisch. Ein kompletter Umstieg auf die Kopfpauschale durch die sofortige Streichung des einkommensabhängigen Beitragsteils scheint in der derzeitigen wirtschaftlichen und haushaltspolitischen Situation daher kaum finanzierbar. Es sei denn, die Koalitionäre würden eine sozialpolitische Implosion einkalkulieren, die jedoch zu massiven Protesten führen würde. Wahrscheinlicher ist somit eher das erste Szenario eines in seinem Umfang steigenden, jedoch um die Sozialklausel bereinigten Zusatzbeitrages, das bereits im derzeitigen Gesundheitsfonds angelegt ist.

Doch die Koalition aus CDU, CSU und FDP kündigte auch an, den im Gesundheitsfonds realisierten und von vielen Krankenkassen kritisierten Verlust der Beitragssatzautonomie zu beheben. Nach derzeitiger Rechtslage legt die Bundesregierung einen bundesweit einheitlichen Beitragssatz fest (derzeit: 14,6 Prozent), der für die Krankenkassen ausreichen muss, um die Leistungen für ihre Versicherten zu zahlen. Ansonsten sind jene zur Deckung ihrer Ausgaben verpflichtet, von ihren Mitgliedern einen Zusatzbeitrag zu erheben. Viele Krankenkassen - vor allem die mit vergleichsweise niedrigen Beitragssätzen - hatten den Verlust der eigenständigen Beitragssatzfestsetzung und -einziehung kritisiert. Zweifellos verloren viele "gut betuchte" Krankenkassen durch den einheitlichen Beitragssatz ihren Wettbewerbsvorteil im Krankenversicherungsmarkt. Dieser beruhte jedoch im Wesentlichen darauf, dass diese Kassen über vergleichsweise junge, gesunde und wohlhabende Versicherte verfügten.

Die sowohl in den Medien als auch der Fachöffentlichkeit vielfach geäußerte Kritik an dem einheitlichen Beitragssatz ist daher ausgesprochen asozial und widerspricht dem gesundheitspolitischen Grundsatz, dass die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) eine Versichertengemeinschaft darstelle. Und selbst aus neoliberal-marktradikaler Sicht ist eine staatliche Ausgabenplafondierung - die der einheitliche Beitragssatz darstellt - durchaus attraktiv. Denn hierdurch gibt es einen gewissen Rationierungsdruck, der - nach neoliberalem Denkbild - gut für die Wirtschaft und möglicherweise auch gut für die um mehr private Zusatzleistungen buhlende Ärzteschaft ist. Daher ist kaum anzunehmen, dass der einheitliche Beitragssatz komplett abgeschafft wird. Wahrscheinlicher ist, dass der "einkommensunabhängige Anteil" (der Zusatzbeitrag) insgesamt zunehmen und zudem "liberalisiert" wird: D.h. die Krankenkassen werden vermutlich dann unterschiedliche "Kopfprämien" erheben. Hierdurch werden jedoch auch wieder regionale Differenzierungen zwischen den Krankenkassen möglich, die Schwarz-Gelb ebenso vorantreiben will.

Konsequenterweise muss wegen dieser (erneuten) Liberalisierung und (begrenzten) Deregulierung des erst kürzlich eingeführten staatlichen Einheitsbeitragssatzes auch die Ausgestaltung des Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) in Frage gestellt werden. Die Ankündigung, den Morbi-RSA auf das "notwendige Maß" zu reduzieren und zu vereinfachen, verheißt nichts Gutes. Zwar ist der realisierte Morbi-RSA keineswegs frei von Anreizproblemen, die insbesondere darin begründet liegen, dass nicht alle Krankenausgaben der Krankenkassen ausgeglichen und den Kassen auch falsche Anreize gegeben werden, PatientInnen durch geneigte Ärzte "kränker" zu machen als sie sind. Allerdings ist unter dem Gesichtspunkt einer solidarischen Gemeinschaft aller gesetzlichen Krankenkassen und unter Bedingungen eines Krankenkassenwettbewerbs ein Morbi-RSA unverzichtbar. Wenn der Morbi-RSA nicht funktioniert, ist es unter der normativen Vorgabe einer solidarischen Gemeinschaft aller gesetzlicher Krankenkassen daher keine Option, ihn ganz zu lassen oder - wie von Schwarz-Gelb gewollt - in Frage zu stellen, sondern seine Funktion des Ausgleichs von (historisch bedingten) unterschiedlichen Risiken und Einkommen zwischen den Krankenkassen durch eine Abschaffung des Krankenkassenwettbewerbs auf eine sichere Basis zu setzen: eine (regionalisierte) Einheitsversicherung.

Neue Einnahmequellen für private Krankenkassen

Mit den schwarz-gelben Vorschlägen wird ein (privatisierungskompatibler) Entwicklungspfad wie in der Schweiz und den Niederlanden betreten. Allerdings mit dem gewaltigen Unterschied, dass selbst in diesen beiden Ländern - wenn auch in unterschiedlicher Form - die Trennung von privater und öffentlicher Krankenversicherung aufgehoben wurde, um - auch unterstützt von hohen Steuerzuschüssen an einkommensschwächere Haushalte und Individuen - mehr Solidarität der Reicheren mit den Ärmeren zu erreichen. In Deutschland wird es allerdings wohl nur die "Polder-light-Version" in der gesetzlichen Krankenversicherung geben. Denn es ist kaum zu erwarten, dass die noch unter der sozialdemokratischen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt verfolgte Strategie der schleichenden Infragestellung der PKV-Vollkostenversicherung weitergeführt wird. Im Gegenteil, die privaten Versicherungskonzerne freuen sich bereits auf die gesundheitspolitischen Weichenstellungen der schwarz-gelben Koalition und die Verbesserung ihrer Marktposition, die sich in zwei im Koalitionspapier aufscheinenden Strategien niederschlägt: erstens der Einführung einer auf Kapitaldeckung beruhenden zusätzlichen Pflichtversicherung für zukünftige Pflegeleistungen und zweitens der (vermutlich) aufkommenden Debatte um Rationierung in der GKV und der Notwendigkeit, private Zusatzversicherungen auszuweiten.

Vor der nächsten Rationierungsdebatte

Während also die grundsätzliche Weiterentwicklung der Finanzierung der GKV keine Überraschungen, aber dennoch problematische Wirkungen offenbart, kommt der gesundheitspolitische Lackmustest der schwarz-gelben Koalition bei der Frage, wie sie sich zu den mittlerweile stark ausgeweiteten Zusatzversicherungen in der GKV, der PKV und den sogenannten Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) verhält. Die Ausweitung der Wahltarife für gesetzlich Versicherte durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 hat mit der Möglichkeit von Prämienrückzahlungen für nicht-kranke Mitglieder die Logik der privaten Krankenversicherung installiert, mit unabsehbaren Folgen für das Solidarprinzip in der GKV. Die gesetzlichen Krankenkassen entwickeln ein Interesse an diesen Instrumenten, weil sie auf eine Attraktion von "guten Versichertenrisiken" hoffen. Die Versichertenselektion als Wettbewerbsstrategie der Krankenkassen, die mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz ein wenig ausgehebelt worden war, würde wieder zunehmen.

Die privaten Krankenversicherer könnten entweder über die Ausweitung der privaten Vollkostenversicherung oder aber über die privaten Zusatzversicherungen, vielleicht sogar über beide, einen Bedeutungszuwachs realisieren. Eine Abschaffung der PKV als Vollkostenversicherung scheint unwahrscheinlich, denn hiergegen sprechen nicht nur die Klientelbeziehungen der schwarz-gelben Koalition und ihre politischen Zielsetzungen, sondern auch die Eigeninteressen vieler ParlamentarierInnen (und verbeamteten Mitglieder der politischen Klasse), die privat versichert sind und es wohl auch bleiben wollen. Die Ausweitung des Geschäftsbereichs der PKV ist freilich nur möglich über die Strangulierung des gesetzlichen Leistungskatalogs oder die Einführung expliziter Rationierungsmaßnahmen für GKV-Versicherte. Weil die medizinisch begründete Konstruktion eines Basiskatalogs von Leistungen nicht nur in Deutschland, sondern europaweit gescheitert ist und eine strikte Leistungsausgrenzung politisch höchst unattraktiv ist, wird der Weg vermutlich dahin gehen, die Zuzahlungen und Zusatzversicherungen für GKV-Leistungen zu erhöhen. Hierdurch würden sich in jedem Fall neue Geschäftsmöglichkeiten für die PKV eröffnen; der solidarische Ausgleich hingegen, nicht nur zwischen Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen, sondern auch zwischen mittleren und niedrigen Einkommen bliebe indes auf der Strecke. Die hohen Einkommensgruppen sind in der Regel sowieso in der PKV versichert und haben sich damit der Solidarität mit mittleren und niedrigen Einkommensgruppen entzogen.

Diese fortgesetzte Entsolidarisierungstendenz wirft die Frage auf, wie es in Zukunft dann mit der in der Ärzteschaft kursierenden Diskussion um mehr private Leistungen weitergeht. Die Einführung der Kostenerstattung als Prinzip in der GKV - heute schon individuell wählbar - hätte nach derzeitiger Rechtslage die Folge, dass Ärzte von den GKV-Versicherten für die gleiche Leistung mehr Geld einfordern könnten als die Krankenkassen bereit sind zu zahlen. In der Konsequenz müssten dann gesetzlich versicherte PatientInnen die Differenz aus der eigenen Tasche zahlen. Doch selbst wenn die Kostenerstattung nicht flächendeckend eingeführt würde, können private Zusatzleistungen unter Schwarz-Gelb befördert werden. Denn die Ärzteschaft drängt auf eine explizite Rationierung, weil Leistungen mit den GKV-Geldern nicht mehr finanzierbar seien. Die PatientInnen - als medizinische Laien - glauben im Zweifelsfall den Ärzten, dass die Krankenkassen nicht mehr alles zahlen. Dass diese nachweisbar nicht mehr alles zahlen wollen, zeigen zahlreiche Urteile der Sozialgerichte, in denen der sozialrechtliche Tatbestand des "medizinisch Notwendigen" im Einzelfall geklärt und Leistungserbringern und Krankenkassen aufgezwungen wird.

Sollten Zuzahlungen in der GKV also steigen oder gar Debatten um Kürzungen des Leistungskatalogs unter Schwarz-Gelb losgetreten werden, dürften die Zunahme privater (Zusatz-)Leistungen beim Arzt (und im Krankenhaus) die Folge sein. Während die Einführung der Kopfpauschale zu erwarten war, liegt der politische Sprengsatz hier: bei der (mutmaßlichen) Infragestellung des GKV-Leistungskatalogs und der Zunahme von Zuzahlungen und privat zu finanzierenden Gesundheitsleistungen. Es droht eine folgenreiche Rationierungsdebatte im Bundestag, nicht nur - wie bisher - in (sozial-)philosophischen Kreisen.

Kai Mosebach