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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 544 / 20.11.2009

Ein Fall Deutschland

Thilo Sarrazins Rassismen und faschistische Ideologeme

Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, hat Thilo Sarrazin wegen dessen Äußerungen über MigrantInnen im Magazin Lettre International geistige Nähe zum Nationalsozialismus vorgeworfen. Es gibt viele gewichtige Gründe, die bislang nicht zuletzt der Zentralrat der Juden geltend gemacht hat, direkte Vergleiche zu Personen wie Göring, Goebbels und Hitler zu meiden. Eine historische Relativierung der Shoa ist nicht hinnehmbar, unabhängig von der Person, die sie vornimmt. Die Position zu äußern, Thilo Sarrazin würde nazistische bzw. faschistische Ideologeme vertreten, muss indes gestattet sein, sofern man den Nachweis hierfür erbringen kann.

Insofern verwundert es zunächst einmal, dass ein Großteil der Presse sich gänzlich verständnislos über Herrn Kramer äußert, ohne sich auch nur die geringste Mühe zu machen, die Position Kramers anhand der Äußerungen Sarrazins zu überprüfen. Wir wollen dies im Folgenden vornehmen und im Weiteren Verlauf des Artikels die Frage klären, ob es sich beim Interview des Magazins Lettre International um einen Fall Sarrazin oder um einen Fall Deutschland handelt.

Das mit Lettre International geführte Gespräch trägt in Kenntnis Sarrazins die Überschrift "Klasse statt Masse", eine im weiteren Verlauf paradigmatische Überschrift. Die Ansicht, es gäbe eine "Berliner Zweiklassengesellschaft", die dichotom in unten und oben aufgespalten sei, in Herrschende und Beherrschte, gehört indes eher zum Gedankengut marxistisch-reduktionistischer Theoreme als zum faschistischen Denken. Doch Sarrazin spricht ja auch nicht von "oben" und "unten". Die beiden Klassen werden von Anfang an utilitaristisch bezüglich ihres ökonomischen Nutzens für die Gesellschaft als Ganzes bewertet. Die erste Klasse ist eben "Klasse", die zweite Klasse nur "Masse".

"Klasse" und "Masse" - Produktive und Unproduktive

Während über die "Klasse" (Verwaltungsbeamte, Ministerialbeamte, d.h. ganz offensichtlich Sarrazin selber) relativ wenig gesagt wird, wissen wir recht genau, wer denn diese Masse sein soll. Die Menschen der Masse gehören nicht zum "produktiven Kreislauf", sie werden "ökonomisch nicht gebraucht", sie leben von Hartz IV und von Transfereinkommen. Nun könnte an dieser Stelle der gutmütige Leser noch einwenden, hier spräche der "große Zyniker" einer real-existierenden Globalisierung kapitalistischer Vergesellschaftung. Doch Sarrazin selber will eine solche Lesart von Anfang an erst gar nicht aufkommen lassen. So lautet der nachfolgende Satz, der sich durchaus bewusst des von Victor Klemperer präzise analysierten faschistischen Sprachstils bedient: "Dieser Teil (die Masse, der Verf.) muss sich auswachsen". Und Sarrazin lässt keinen Zweifel daran, was denn dieses "sich auswachsen" bedeuten soll. Eindeutige eugenische Szenarien werden nunmehr ins Spiel gebracht: Die Fortpflanzung der Masse ist zu verhindern, damit die Klasse nicht zu einer Randexistenz wird. Originalton Sarrazin: "Kein Zuzug mehr, und wer heiraten will, sollte dies im Ausland tun. Ständig werden Bräute nachgeliefert." Es dürfe nicht mehr sein, dass "ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert werden". ("Produzieren" = psychopathologischer Ekel vor der Sexualität der "Unterschicht" verbunden mit Sexualphantasien - vgl. "Der autoritäre Charakter", "Massenpsychologie des Faschismus"; der Verf.)

Eugenische Ideologeme sind essenzielle Kernbestandteile faschistischer Ideologie. Zu den Ideologemen der Eugenik zählen u.a. ein biologistisches Gesellschaftsverständnis, sozialdarwinistisches Gedankengut, der Glaube an die Ungleichheit konstruierter Menschenrassen, die Lehre von der ungleichen Wertigkeit menschlicher Individuen aufgrund ihres Genotyps, die Identifizierung der "besser Veranlagten" mit den oberen Klassen, die Gegnerschaft von Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen für sozial Schwache, der Glaube an die Degeneration des "genetischen Volkskörpers" in Richtung des Durchschnitts, die Diffamierung einzelner Menschen und Menschengruppen als KostgängerInnen, der Schutz der "Volksgesundheit" vor "genetischer Entartung" sowie die Propagierung apokalyptischer Bevölkerungsvisionen.

Den KritikerInnen Kramers ist die Frage vorzuhalten, ob sie von den obigen Ideologemen im Interview Sarrazins denn nichts gelesen haben? Überprüfen wir dies z.B. anhand des Stichworts "apokalyptische Bevölkerungsvision", so stellen wir fest, dass laut Sarrazin "die Araber und Türken einen zwei- bis dreimal höheren Anteil an Geburten haben, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht". Die Türken, so Sarrazin, würden Deutschland genauso erobern, "wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate". Laut Sarrazin gibt es auch das Problem, dass "vierzig Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden". Verschwörungstheorien gepaart mit dystopischer Bevölkerungsprognostik, dies war das Einmaleins rassenhygienischer Handbücher.

Einem nur halbwegs aufmerksamen Leser des Interviews dürften auch kaum die offen rassistischen Konstrukte entgangen sein. Wie in nazistischen Bevölkerungsatlanten (à la Westermann 1938) werden MigrantInnen in Gruppen unterteilt und mit wertenden, stereotypen Eigenschaften versehen. Vietnamesen seien integrationswillig und passten sich besser an und hätten überdurchschnittliche akademische Erfolge, Deutschrussen hätten "eine altdeutsche Arbeitsauffassung". Dass Arbeiten im Blut der "höherwertigen arischen Rasse" liegt, wird zwar (noch) nicht offen ausgesprochen, dafür wird aber die Minderwertigkeit anderer Ethnien umso deutlicher betont: "Absolut abfallend sind die türkische Gruppe und die Araber". Sie seien weder integrationswillig noch integrationsfähig. Die Integrationsfähigkeit stellt dabei offensichtlich ein biologistisches Konstrukt dar, welches mit einem genetisch bedingten IQ verkoppelt wird. So gefallen Herrn Sarrazin osteuropäische Juden, da sie mit einem "um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung" ausgestattet seien. Die platzierende Sortierung von Intelligenz, Charaktereigenschaften und Integrationsfähigkeit in Abhängigkeit von der ethnischen Zugehörigkeit und ihrer "genetischen Ausstattung" ist kein "Sprücheklopfen", wie es in vielen Kommentaren im Internet zu lesen ist, nein, es ist faschistische Rassentheorie pur.

Analysieren wir andere eugenische Kernelementen, wie das biologistische Gesellschaftbild, sozialdarwinistisches Gedankengut sowie den Glauben an die ungleiche Wertigkeit von Menschen und Menschengruppen, so fällt bei der Analyse des Textes vor allem die Verabschiedung von jeglicher Form der Sozialpolitik auf. So kann es laut Sarrazin keinen Wandel in Berlin geben, da er großen Teilen der Bevölkerung über perspektivische Generationen hinweg die Fähigkeit abspricht, sich zu verändern. Dies gilt laut Sarrazin insbesondere für a) Türken, b) Araber und c) die "deutsche Unterschicht". Auf diese Weise werden große Teile der Gesellschaft exkludiert. Ihnen wird nicht nur jegliche Form der Anerkennung vorenthalten, ihnen werden de facto auch elementare Menschenrechte wie das Recht auf Bildung und Ausbildung verweigert. Sarrazins Fazit lautet demzufolge: "Der Intellekt, den Berlin braucht, muss also importiert werden."

Auf diese Weise kann man dann auch Schulen ganzer Stadtteile - wie jahrelang in Berlin nicht nur in Neukölln geschehen - kaputt sparen, weil - und dies wird Sarrazin dann wohl im nächsten Interview sagen - "von diesen Idioten sowieso nichts zu erwarten ist". Von diesem Interview wird er sich dann wieder distanzieren, obwohl er den Lettre-International-Text lange Zeit zur Korrektur vorliegen hatte und angeblich noch härtere Passagen entfernt wurden. "Man muss davon ausgehen", so Sarrazin, dass menschliche Begabung zu einem Teil sozial bedingt ist, zu einem anderen Teil jedoch erblich. Der Weg, den wir gehen, führt dazu, dass der Anteil der intelligenten Leistungsträger aus demografischen Gründen kontinuierlich fällt." (Glaube an die Degeneration des "genetischen Volkskörpers"; der Verf.) Insbesondere bei den bewusst eher zaghaft vorgestellten Lösungsansätzen wird spätestens der offene Übergang elitär-eugenischer Positionen zum Rassistischen und Faschistischen deutlich: Auslese durch Ausschluss ("Auswachsen") und nicht durch soziale Veränderung wie bessere Schulen (Stichwort: "Rütli-Campus"). Ghettoisierende Abschließung ganzer Bevölkerungsgruppen durch die Versagung sozialer Leistungen sowie elementarer Anerkennung und Würde, das ist das Ziel.

Feindbild "kleine Kopftuchmädchen"

Es gibt nur sehr, sehr wenige Kommentare, die dies ähnlich sehen. Da zumindest bei JournalistInnen davon auszugehen ist, dass das Interview im Original gelesen wurde, wird der Fall Sarrazin so zum Fall Deutschland. Faschistisches Gedankengut, von einem der obersten Banker im Nadelstreifenanzug vorgetragen, der dem Berliner Senat als Finanzsenator angehört hat, und eben nicht von einem Neonazi in Bomberjacke und Springerstiefeln, wird als solches offensichtlich in diesem Land nicht erkannt. Kernelemente neonazistischer Ideologie werden so zu "Provokationen, die wichtige Debatten anstoßen". Wenn prominente Personen wie der "Blechtrommel"-Regisseur Volker Schloendorff sich gar zustimmend und lobend äußern, wird eines überdeutlich: Migrantenfeindlichkeit und insbesondere Islamfeindlichkeit sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen und offensichtlich vor allem inmitten ihrer Elite. Stereotype, xenophobe Bilder wie das vom "kleinen Kopftuchmädchen", das in diese Gesellschaft nicht passe und daher für uns wertlos sei, wurden lange vorbereitet, nicht zuletzt von namhaften Feministinnen. Ein relevanter Teil der Gesellschaft hat sie offensichtlich bereits derart verinnerlicht, dass ihr fremdenfeindlicher Inhalt nicht mehr dechiffriert wird.

Es sind keine "sprachlichen Entgleisungen", und es ist auch keine "falsche Wortwahl", wie Herr Thierse verlauten lässt, es ist eine gezielte Wahl in rassistischer, volksverhetzender Absicht. Der Fall Sarrazin ist kein Fall Sarrazin, er ist ein Fall Deutschland. Dieses Land muss endlich offen, diskursiv als auch juristisch klären, wo die Grenze liegt zwischen Meinungsfreiheit und Volksverhetzung, zwischen einer in einer säkularen Gesellschaft legitimen Islamkritik und einer Islamfeindlichkeit (nicht zufällig werden bei Sarrazin Türken und Araber am abfälligsten beurteilt). Genau dies ist derzeit der Mangel an interkultureller Kompetenz nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Die sogenannten Mohammed-Karikaturen lassen düster in die Zukunft blicken. Welcher Zeichnungen bedarf es denn noch jenseits einer Karikatur mit einer zündenden Bombe auf dem Kopf des Propheten, um zu erkennen, dass dies nichts mehr mit Meinungsfreiheit zu tun hat, sondern das Niveau der Nazi-Zeitung Der Stürmer erreicht? Selbstverständlich muss offen über existierende Integrationsprobleme gesprochen werden. Aber dafür bedarf es keines fremdenfeindlichen, menschenverachtenden Artikels, der kein einziges, reales Integrationsproblem anspricht und sich weit rassistisch und faschistisch öffnet.

Null Toleranz gegen Rassismen!

Der Fall Sarrazin ist schon deshalb ein Fall Deutschland, weil laut repräsentativer Umfrage von Emnid 51 Prozent der 501 Befragten der Äußerung Sarrazins zustimmen, dass ein Großteil der arabischen und türkischen EinwandererInnen "weder integrationswillig noch integrationsfähig" sei. Zwar werden die Befragten die offen faschistoiden Passagen des Interviews nicht gelesen haben, doch auch für sie gilt, dass Integration einzig und allein eine Aufgabe des Migranten darstellt. Für sie bedeutet Integration de facto nichts anderes mehr als Assimilation: Wir nehmen euren Döner, euer frisches Gemüse und euer Obst und ansonsten werdet ihr WIR.

Wenn Rassismen und faschistische Ideologeme wie im Sarrazin-Interview von großen Teilen der Bevölkerung außer von Herrn Kramer und der NPD, die sich prompt Herrn Sarrazin als "Ausländerbeauftragten" wünscht, nicht mehr erkannt werden, bedarf es politischer Offensiven. Dazu gehört zum einen, dass Volksverhetzung präzise gefasst und juristisch geahndet wird, dazu gehört zum anderen, dass Parteien, Behörden, Vereine, Verbände und Gemeinschaften sich von Personen ohne wenn und aber trennen, die rassistisches Gedankengut vertreten oder fremdenfeindlich auftreten. Der Fall Sarrazin ist auch ein Fall Deutschland, weil er zur politischen Rot&Rot-Szene dieses Landes gehört, die Sarrazins pressewirksame Menschenverachtung jahrelang geduldet hat und ihn per Vorschlagsrecht noch zum homo oeconomicus superior befördert hat.

Eine Person wie Herr Sarrazin darf nicht länger Mitglied einer demokratischen Partei in Deutschland sein und ist bei einer Deutschen Bank zu entlassen. Wir sind in Deutschland derzeit zu weit entfernt von Null Toleranz gegenüber Fremdenfeindlichkeit und Rassismen, ja, wir erkennen sie ja noch nicht einmal mehr.

Achim Bühl

Achim Bühl, Prof. Dr. phil. habil., Professur für Soziologie mit den Schwerpunkten Migrationssoziologie und Islamwissenschaften, Techniksoziologie und Zukunftsforschung an der Beuth Hochschule für Technik Berlin